Innere Sicherheit

Schleichender Umbruch der allgemeinen Sicherheitsl

Schleichender Umbruch der allgemeinen Sicherheitslage

Von Dr. Alfred Stümper, Landespolizeipräsident i.R., Waldenbuch

1) Die Sicherheitslage befindet sich in einem tiefgreifenden – und da sich schleichend vollziehend – weitgehend in seiner Dimension nicht erkannten Umbruch. Konventionelle Kriege werden – von einigen Ausnahmen in der Golfregion und im fernen Osten abgesehen – immer unwahrscheinlicher. Die Konflikte verlagern sich mehr und mehr in die Bevölkerung hinein – sozial, kulturell, ideologisch und religiös. Probleme der äußeren Sicherheit vermengen sich zunehmend mit Problemen der inneren Sicherheit.*) Polizei, sonstige Sicherheitsorgane und Militär dürften deshalb, und zwar schon seit geraumer Zeit, nicht mehr völlig getrennt in die Zukunft blicken und planen. Vielmehr müssten gewisse Vorausplanungen für künftige Lagen – wobei man bei nüchterner Betrachtung eben auch Szenen des worst case im Augen haben muss – mit Blick auf den anderen, zuweilen sogar in gegenseitiger Abstimmung, vorgenommen werden.


Dr. Alfred Stümper,
Landespolizeipräsident i.R.,
Waldenbuch


2) Gerade aber in einer Zeit, in der die Verantwortungsträger in der alltäglichen Arbeit mit aktuellen Aufgaben stark belastet, wenn nicht sogar immer wieder auch überlastet sind, ist die Gefahr groß, sich auf künftige Entwicklungen nicht hinreichend vorbereiten zu können. Dies beginnt schon im „Ausgangsstadium“, dem ersten Schritt einer gediegenen Planung, nämlich dem Lagebild. Angesichts der Schwierigkeiten einer fundierten Prognose in einer sich auf vielfachen Gebieten oft sprunghaft verändernden Welt ist jeder Politiker – was kein Vorwurf ist – versucht, eben pauschal Optimismus zu verbreiten und eine weithin auch jetzt schon verunsicherte Bevölkerung nicht noch weitergehend „unnütz“ zu beschweren.

Indes bleibt dazu festzustellen: Jedes Lagebild, das so von einem idealen oder gar ideologischen Wunschbild ausgeht und hofft, die Realitäten würden dem dann auch – wenigstens in etwa – folgen, ist keine tragfähige Planungsgrundlage und muss zwangsläufig zu Fehlentscheidungen führen. Denn wir leben nicht in einer heilen, sondern einer vielfach defizitären Welt. Man muss deshalb gerade umgekehrt verfahren, nämlich von den nun mal so gegebenen Realitäten ausgehen und erst dann versuchen, soweit möglich, ideale Zielvorstellungen, von mir aus auch Visionen, einzubringen.

3) Die Komplexität der dabei zwangsläufig in die Überlegungen einzubeziehenden Bedrohungen der Sicherheitslage können zunehmend Probleme der Handhabung polizeilich-militärischer Gemengelagen mit sich bringen. Inwieweit es in solchen, möglicherweise auch einmal überraschend auftretenden Fällen politisch noch durchsetzbar ist, eine strenge operative Trennung von polizeilichen und militärischen Kapazitäten durchzuhalten, ist fraglich – und wohl auch eine Frage der Brisanz, Dichte und Art der Bedrohung. Dabei geht es in erster Linie nicht um die jetzt schon zuweilen angesprochene Frage, was macht die Polizei und was macht das Militär, also um eine mehr taktisch orientierte Frage, sondern entscheidend darum, welche – alle Einzelmaßnahmen dominierende – Strategie dabei verfolgt wird. Während die militärische Strategie grundsätzlich die des Durchsetzens, Behauptens, Niederschlagens und Siegens ist – und das ist so gesehen vom beruflichen Auftrag her auch richtig – , ist oberste Maxime polizeilichen Handelns eine Befriedung.

4) In allen insoweit in der jüngsten Zeit in anderen Staaten aufgetretenen Fälle, in denen man bei inneren Konflikten zu früh zur Strategie des Niederschlagens übergegangen ist, ist es zu lang anhaltenden, erheblichen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Bürgern, wenn nicht sogar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, ja, regelrechten Bürgerkriegen gekommen – mit weithin nicht mehr reparablen Folgen einer sich festsetzenden inneren Verfeindung von Bevölkerungsteilen. Es wird deshalb in der Zukunft die eigentlich zentrale Verantwortung der Sicherheitspolitik darin liegen, alle Möglichkeiten einer polizeilichen Befriedungsstrategie auszuschöpfen und nicht zu früh – ungeduldig oder gar resignierend – sich in eine Strategie des Niederschlagens abdrängen zu lassen.

5) Politisch wird man in dieser Grundsatzforderung wohl weitgehend Zustimmung erfahren. Aber auch hier gilt es realistisch zu sein, d.h. zu bedenken, dass sich die Entwicklung nach den Realitäten und nicht nach unseren Wünschen ausrichten wird. Dies wiederum bedeutet, dass wir schon heute klare Regelungen schaffen müssen, die bei unvorhersehbaren Eskalationen „da“ sind und die dann hektischen Eilentscheidungen, die sich erfahrungsgemäß nach den jeweiligen augenblicklichen Machtverhältnissen ausrichten würden, keinen Raum lassen. Insoweit gibt es allerdings viel zu tun.

Der Ansatz zur Erarbeitung entsprechender Regelungen hat ganz „vorne“, und zwar bei einer grundsätzlichen Feststellung zu erfolgen: Die Aufrechthaltung der Sicherheit ist keine alleinige Aufgabe der Polizei und sonstiger Sicherheitseinrichtungen, auch keine Aufgabe zusammen mit dem Militär und auch keine alleinige Aufgabe des Staates, sondern sie liegt zu aller Letzt in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft. Denn diese bestimmt

– den speziellen Auftrag und den rechtlichen Rahmen in der Verfassung und in den Gesetzen,

– die qualitativen und quantitativen personellen Kapazitäten sowie die sachlichen, speziell auch finanziellen Mittel, die zur Aufgabenwahrnehmung zur Verfügung gestellt werden,

– und nicht zu Letzt den moralischen Rückhalt, den sie den Frauen und Männern gibt, die ihre Arbeitskraft, ja, ihre Lebenskraft, immer wieder auch Leib und Leben in die Erfüllung ihres Berufs einbringen.

6) Wie sieht es aber damit aus?

Rechtslage
Es sind hier zwei Punkte anzusprechen:

Die Regelungen hinsichtlich des Einsatzes des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr in den Artikeln 87a und 91 GG gehen von einem, jedenfalls zum großen Teil überholten Lagebild eines Verteidigungsfalls aus – bildlich gesprochen, dass Sirenen heulen und feindliche Truppen in unser Staatsgebiet einmarschieren. „Moderne“ Kriege beginnen jedoch schleichend, so mit einzelnen terroristischen Aktionen, dem Einsickern oder der Rekrutierung von gewaltbereiten „Kämpfern“, mit Viren, die man nicht nur in Computer, sondern auch in die Köpfe einpflanzt, einem Aufbau von Drohszenarien, Geiselnahmen, Anschlägen – möglichst auch auf die ganze Bevölkerung erschreckende „weiche Ziele“, usw., usw.

Nach Art. 30 GG liegt die Grundverantwortung für den polizeilichen Aufgabenbereich bei den Ländern. Wie sieht aber die verfassungsmäßige Realität aus?
Zerbröseln nicht immer mehr unsere Länderpolizeien – nicht nur äußerlich im Erscheinungsbild, sondern auch in ihren polizeirechtlichen Vorgaben, in Ausbildung und Werdegang, in der technischen Ausstattung, in den Tarifen ihrer Mitarbeiter usw.? Ziehen sich die Länder nicht aus Gründen haushaltsmäßiger Zwänge mehr und mehr aus diesem Auftragsbereich zurück und schaffen somit zunehmend Raum für eine insoweit dann auch notwendige Übernahme von polizeilichen Aufgaben durch den Bund? Und verfügt der Bund dabei nicht auch in der Bundeswehr über zwar völlig anders ausgerichtete Einsatzkapazitäten, wobei man dann in Notlagen politisch sehr wohl versucht sein könnte, auch auf diese „Kraftreserve“ zurückzugreifen.
Wenn man schließlich in diesem Kontext bedenkt, dass Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz ganz einfache und klare Befehlsverhältnisse sind, dann können einem angesichts der damit auftretenden vielfachen Zuständigkeitsüberlappungen die schlimmsten Sorgen beschleichen.

Personelle Kapazitäten und Mitteleinsatz
Sparzwänge zwingen zunehmend zur Rückführung der Kapazitäten im Sicherheitsbereich. Daran ändern auch noch so gut formulierte Formulierungen wie „Straffung“ und „Erhöhung der Schlagfähigkeit“ nichts; mit solchen rhetorischem Übertünchen macht man sich nur was vor – und das ist immer besonders gefährlich. Vielmehr kommt es angesichts beschränkter Ressourcen darauf an, die künftigen Bedrohungen und die daraufhin ausgelegten Gegenmaßnahmen unter Effizienzgesichtspunkten völlig neu zu überlegen und zu werten. Dabei gilt es, überalterte Vorstellungen abzustreifen, Doppelarbeit abzustellen und keine neuen Leerräume entstehen zu lassen.

Insgesamt wird man nicht um u.U. schmerzliche finanzielle Schwerpunktverlagerungen herumkommen. Auch insoweit könnte die sehr unterschiedlich ausgeprägte Logistik von Polizei und Militär die Gefahr einer falschen Strategiekonzeption entstehen lassen – jedenfalls wenn nach der Parole verfahren würde, wer anschafft und bezahlt, bestimmt. Auf alle Fälle aber dürfen Sparzwänge nicht isoliert gesehen und allein ressortmäßig „intern“ ausgeglichen werden. Vielmehr sind dies angesichts der Situation, in der wir uns befinden und möglicherweise noch tiefer hinein geraten können, Generalfragen der gesamten Haushaltspolitik – von den umstrittenen Fragen wie einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und dem Abbau von Subventionen bis zu Grundfragen unserer föderalistischen Struktur, so beispielsweise, ob es in einer Zeit der Europäischen Union mit einem ohnehin schwer zu beherrschenden Zusammengehen von 26 unterschiedlichen Staaten noch sinnvoll ist, sich 16 Bundesländer zu „leisten“, und ob nicht 7 starke große Bundesländer gerade in der Zukunft das föderalistische Element unserer Verfassung viel bestandskräftiger einbringen könnten als die derzeit zerfledderte Situation.

Moralischer Rückhalt
Die Frage muss hier gestellt werden dürfen: Ist unsere Bevölkerung in der Realität in ihren existentiellen Wertvorstellungen nicht nur äußerst unterschiedlich, sondern auch verunsichert, um nicht zu sagen „aufgeweicht“, ja, vielleicht sogar weithin unpositioniert? Müssen nicht immer wieder echte, zukunftsorientierte Werte wie Toleranz und Menschenfreundlichkeit dazu herhalten, um eigene Positionslosigkeit, Ängstlichkeit, politische und auch moralische Lethargie oder gar Egoismus zu tarnen? Hinterfragen wir nicht echte – wenn auch so genannte „Sekundärtugenden“ – Werte wie Vaterland, Pflichterfüllung, Ordnung usw. penibel und überlassen diese dabei sogar noch den Falschen? Wenn man aber echte Werte den Falschen überlässt, dann wertet man entweder gerade die Falschen auf oder man verfälscht die Werte. Echte Werte dürfen kein bloßer Zierrat für Festreden, anspruchsvolle Aufsätze oder Programme von politischen Parteien, Kirchen und sonstigen gesellschaftlichen Einrichtungen sein, sondern sie müssen in der Gesellschaft und im Alltag „leben“. Und man muss nicht nur einen eigenen Standpunkt haben, sondern man muss ihn auch vertreten, zu ihm stehen. Wer nach allen Seiten hin sich verneigt, zeigt auch jeder Seite seinen Hintern!

7) Fazit:
Wir müssen die letztlich uns allen obliegende Verantwortung für die Sicherheit ernst nehmen – und zwar demokratisch orientiert: Das heißt, die Politik darf nicht in die Gefahr geraten, sich zu verselbstständigen oder gar abzuschotten. Sie muss ihre Legitimation vielmehr aus einem in der breiten Bevölkerung verankerten Wertebewusstsein schöpfen und angesichts der immer größeren Schwierigkeiten unseres modernen Lebens sich immer wieder neu dem Rat von Fachkundigen öffnen. Vereinfacht und schlagwortartig ausgedrückt ist es ein Dreisprung: Das Volk sagt, was es will, Fachleute stellen fest, was man kann, und die Politik setzt, soweit möglich, um. Dies gilt auch für die Sicherheit als unverzichtbarem Teil unserer persönlichen Freiheit.