Künftige Sicherheitsprobleme

Vor-sicht!

Religionen, Weltfrieden - und die Polizei?

Von Dr. Alfred Stümper, Landespolizeipräsident i.R., Waldenbuch

I.

Das Nebeneinander verschiedener Religionen ist längst nicht mehr allein ein Thema von Theologen und Religionswissenschaftlern, sondern wird zunehmend zu einer Kernfrage existenzieller Sicherheit der Menschen auf dieser Erde. Anders als in zurückliegenden Religionskriegen, speziell auch zur Zeit der Kreuzzüge, werden sich die Fronten im Grundsatz nicht mehr an Staatsgrenzen orientieren, sondern vor allem in Folge der Globalisierung mitten durch die Bevölkerung gehen. Die Spannungsfelder werden auf dem Hintergrund begleitender ethnologischer, sozialer und wirtschaftlicher Gegensätze in ihrer Gefährlichkeit im ideologischen, vor allem im religiösen Bereich angesiedelt sein. Viele weltweit auftretende und durch moderne Informationsmittel gesteuerte Protestaktionen, insbesondere der sich international ausbreitende, weitgehend zusammenschließende sowie zunehmend miteinander vernetzende Terrorismus, sind schon seit geraumer Zeit weltum-spannend ein bedrohliches Vorzeichen von im Untergrund brodelnden Gefahren.

Damit verbunden sind nicht nur eine Verwischung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, sondern geradezu eine mannigfache Vermischung beider staatlicher Aufgaben. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland ist damit zugleich ein Ineinander von Bundes- und Länderzuständigkeiten gegeben: Die außenpolitische und militärische Kompetenz liegt beim Bund, die der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit im Prinzip bei den Ländern. Dahinter verbirgt sich die letztlich entscheidende strategische Grundsatzposition in der Ausrichtung aller Maßnahmen: Das Militär ist von seiner strategischen Grundausrichtung auf „Siegen", „Sich behaupten", „Niederschlagen" ausgerichtet, die Polizei letztlich auf ein „Befrieden".

Daher müssen sich die Verantwortlichen für die Sicherheit und somit auch die für die innere Sicherheit mit diesen weltweit beunruhigenden Entwicklungen befassen und über mögliche Präventions-maßnahmen sowie sinnvolle Repressionen nachdenken. Da Grundvoraussetzungen für richtige Entscheidungen ein möglichst umfassendes und realistisches Lagebild ist, müssen die glaubensbedingten Konfliktkonstellationen auch unter Sicherheitsgesichtspunkten möglichst eingehend analysiert werden. Worin liegen nun die letzten Gründe religiöser Überzeugungen und des religiösen Fanatismus, die Menschen zu „unvernünftigem" und dabei auch zu schwerem und schwerstem kriminellen Handeln bringen?

II.

Hier gilt es zunächst zwei Fehleinschätzungen aus dem Wege zu räumen:

1)
Bei den in unserer Zeit ideologisch und speziell religiös motivierten Straftätern handelt es sich nicht um einige irregeleitete religiöse Spinner oder Fanatiker, sondern um eine aus breiten Bevölkerungs-schichten sich herauskristallisierende Kräfteeruption, die ihre eigentlichen Ausgangspunkte in tief im Inneren verwurzelten, im wörtlichen Sinne „radikalen" Überzeugungen hat. Die eigentlichen Gefährdungsmomente liegen hier nicht auf der alltäglichen Ebene des „Vernünftigen", rational Erfass- und Kalkulierbaren, sondern letztlich im Irrationalen religiöser Überzeugungen und der ihnen eigenen, rational gar nicht zu begegnenden Sprengkraft.

2)
Daher ist es eine Illusion zu glauben, den drohenden Gefahren allein mit der Lösung dringend anstehender Fragen auf der politischen Ebene, vor allem auf weltwirtschaftlichen und sozialen Gebieten und schon gar nicht mit noch so hervorragend formulierten Aufrufen zur Toleranz und weltweitem Frieden begegnen zu können. Die Sprache von fanatisch denkenden religiösen Eiferern und speziell Terroristen liegt nicht auf der Ebene von Reden von Staatspräsidenten und Kirchenfürsten.

Hehre Worte und vernünftige Argumente sind ihnen fremd. Sie denken und handeln aus einer anderen Ebene heraus. So wäre es ein großer Irrtum zu meinen, Gefahren, die der nicht erfassbaren Tiefe ideologischer und religiöser Überzeugungen entspringen, rational mit vernünftigen Argumenten und Appellen in den Griff bekommen zu können. Zwar sind die verschiedenen Bemühungen unserer aufgeklärten Gesellschaft, die unterschiedlichen Religionen, wenn auch nicht zu einer einheitlichen „Weltkirche" zusammenzuschließen, so doch wenigstens hinsichtlich der Glaubensinhalte und Wertevorstellungen einigermaßen zu harmonisieren, äußerst wertvoll und angesichts der Globalisierung und einer damit einhergehenden „Verrationalisierung" auch von Glaubensfragen immer wichtiger. Jedoch: sie werden die weltweit zunehmend aufbrechenden „inneren" Unruheherde allein nie lösen können. Es bleibt einfach unmöglich, auf der Ebene der „reinen Vernunft" tief verwurzelte und hoch emotionale Kräfte ansprechen und Menschen, die im Innersten überzeugt, ja regelrecht „besessen" sind, in ihrem Handeln entscheidend bestimmen können. In der allgemeinen Lagebeurteilung muss deshalb auch mit analytischen Überlegungen begonnen werden, die völlig außerhalb unserer bisherigen Gedankengänge liegen und die sich mit dem Phänomen des Glaubens als solchem in der Menschheit befassen.

III.

1)
Mit Sicherheit wird es den Menschen - trotz ständig fortschreitender naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und trotz aufgeklärtestem philosophischen Sachverstands - nie gelingen, die letzten Urgründe des Daseins und unseres Lebens (die Physiker sprechen von der „Weltformel") zu ergründen. Dies liegt im Wesentlichen in Folgendem begründet:

Unsere Sinnesorgane erkennen nur einen kleinen Bruchteil all dessen, was „um uns herum" ist. D. h. sie nehmen nur gewisse Frequenzen war. Darüber hinaus ist es uns zwar möglich, mittels technischer Geräte auch noch andere Wellenlängen erkennbar zu machen (so z.B. Infrarot), aber auch diese stellen nur einen winzig kleinen Bruchteil von allem dar. Dazu tritt, dass das „Außen" nur indirekt, über die Sensorien wahrgenommen werden kann. So beispielsweise: je nachdem die Netzhaut des Auges beschaffen ist, ist die „Außenwelt" größer oder kleiner; ein Pferd sieht das gleiche Objekt anders, als die Maus. Wie das Objekt „an sich" ist, kann man nicht sagen. Vor allem sind auch unser Denken und unsere Vorstellungswelt in Zeit und Raum „eingesperrt". So ist es uns unmöglich, sich die räumliche Unbegrenztheit eines Weltalls und die Zeitlosigkeit („Ewigkeit") eines Daseins vorzustellen und - im wörtlichen Sinne - zu „begreifen".
Dabei hängen Zeit und Raum selbst wiederum unmittelbar zusammen: Wir sehen Sterne, obgleich sie es nicht mehr gibt, weil sie längst verglüht sind, bis ihre Lichtstrahlen uns erreichen. Und wir sehen Sterne nicht, die es schon gibt, da ihre Lichtstrahlen uns seit ihrer Existenz noch nicht erreicht haben.

2)
Dies alles bedeutet, dass wir in einer „Erlebniswelt" leben. Sicher ist - eben für uns - nur das, was wir erleben, was da ist und was wir erkennen können. Diese Erlebniswelt scheint zwar weithin „Allgemeingut" zu sein. Doch die das menschliche Leben jeweils konkret ausformenden Faktoren sind äußerst unterschiedlich. Die Menschen erleben diese Welt völlig verschieden, je nachdem in welcher Zeit, welchem Kulturkreis, welchen Gemeinschaften und Religionen sie aufgewachsen sind. Und jeder Mensch hat darin wiederum sein ganz individuelles Umfeld, in dem er „zu Hause" ist; anderes ist einem fremd. Die erlebte Welt wird von Mensch zu Mensch, Kultur zu Kultur, Zeit zu Zeit und Religion zu Religion immer anders sein. Es gibt so keine objektive, allgemein gültige Welt. Die Welt ist unterschiedlichstes Erleben in der Menschheitsgeschichte. Und noch wichtiger und ihn in seinem Handeln bestimmender als sein Umfeld und alles naturwissenschaftliche Forschen oder rationale Nachdenken ist für den einzelnen Menschen das, was er persönlich erfährt, was er sieht, was er hört, was er empfindet - kurzum alles, was ihm selbst widerfährt. So liegen die ihn am meisten prägenden und das unmittelbare Leben ausmachenden Faktoren im unmittelbaren subjektiven Bereich, also in den ihn persönlich am meisten betreffenden und treffenden Erlebnissen, so in einer erfüllten oder unerfüllten Liebe, in Gesundheit oder Krankheit, in Glück oder Unglück, im Erfolg oder im Misserfolg. In solchem Erleben erfährt der Mensch viel mehr, was die Welt und die Wirklichkeit seines Lebens ist, als auf der allgemein kommunizierbaren Ebene der bloßen Vernunft. Was Wasser wirklich ist, erfährt man eben nicht, wenn man weiß, dass es eine Mischung von Sauerstoff und Wasserstoff ist, sondern erst dann, wenn man Durst hat und es trinkt oder wenn man erhitzt ist und ins erfrischende Wasser springt.

IV.

So es einen - wie wir es nennen - Gott gibt, so ist die Beziehung zu ihm im ganz individuellen persönlichen Bereich des Menschen angesiedelt, da er darin „sein eigentliches Leben" findet und es nicht nur die Dinge hinterfragend rational erfasst, sondern unmittelbar in voller Tiefe und Bandbreite erlebt. Damit aber eröffnet sich ein fast erschreckend großer Freiraum für jeglichen Glauben und jegliche Religionen. So kann die Antwort auf die Frage nach der „richtigen" Religion weder naturwissenschaftlichen Erkenntnissen noch philosophischen Denksystemen entnommen noch rational unter Zugrundelegung historischer Forschungen gegeben und somit letztlich auch nicht im gegenseitigen Konsens theoretisch-abstrakt abgeklärt oder auch nur von Grund auf „harmonisiert" werden. Auch noch so sympathische Erklärungs- oder Versöhnungsversuche helfen hier nicht weiter, wie beispielsweise, dass Gott das helle Licht sei, das sich auf dieser Welt gewissermaßen wie durch ein Prisma in die verschiedensten Regenbogenfarben der einzelnen Religionen auffächert, oder dass sich Gott, wie der Mond in jeder Pfütze, in den verschiedensten Religionen widerspiegelt oder eben, dass niemand den echten Ring des Nathan des Weisen erhalten hat. Sie alle halten einer „transzendenten" Prüfung nicht stand, weil sie aus einer rein theoretisch-abstrakten, sich aus der eigenen existenziellen Wirklichkeit herauslösenden Position getroffen werden, also aus einer Position, die es in der Lebenswirklichkeit des einzelnen Menschen und damit der ganzen Menschheit nicht gibt und nie geben wird. Die letzten Positionen werden immer nur in den ureigenen persönlichen Beziehungen des einzelnen Menschen zu seinem, ihm so vom „Schicksal" oder einem möglichen Gott so zugedachten und überlassenen Leben ausgemacht werden können. Probleme des Nebeneinanders verschiedener Religionen sind letztlich nicht auf der Ebene einer vernünftigen und beherrschbaren Toleranz angesiedelt, sondern haben ihre eigentlichen, nur sehr begrenzt beherrschbaren zwiespältigen Bedrängnisse in fest verwurzelten inneren Überzeugungen.

Das menschliche Wesen ist also zugleich im Rationalen wie im Irrationalen angesiedelt. Auf der rationalen Ebene kann man rational korrespondieren, planen, handeln. Auf der irrationalen Ebene kann man sich - wenn überhaupt - nur irrational begegnen. Hier ist man - eigentlich logischer Weise - oft „sprachlos". Vielleicht aber kann man sich auch in seiner Sprachlosigkeit gegenübertreten, sich näher kommen ohne viel zu reden, schon in ganz einfachen Dingen des Alltags: in der Bewunderung der Natur, der Freude am Leben, der Liebe zu einem anderen Menschen, der Kunst, im Sport - ja auch schon mit freundlichen Gesten und einem verstehenden Anblicken. Die Verständigungsebene auch im „inkommensurablen" Bereich beginnt schon im Alltagsleben - in der Beziehung von Mensch zu Mensch.

V.

An dieser Stelle haben die spezifischen polizeilichen Überlegungen anzusetzen. Je mehr wir es auch schon im Inland mit Menschen aus anderen Kulturkreisen und mit anderen religiösen Überzeugungen zu tun haben, und je mehr unsere Beamten auch in anderen Ländern mit uns fremden Kulturen und Religionen eingesetzt werden, desto mehr ist es geboten, sich mit den damit zusammenhängenden Fragen ernstlich zu beschäftigen und es dabei nicht bei einigen formalen Leitsätzen zu belassen.

Staaten können für den Umgang mit anders Denkenden und Glaubenden immer nur objektive Rahmenbedingungen schaffen, die ein menschliches Näherkommen auf der Ebene auch außerhalb der allgemeinen Rationalität erleichtern oder gar erst ermöglichen. Dazu ist für eine mitmenschliche Atmosphäre mit Sicherheit zunächst ein glaubwürdiges und nicht zu zögerliches Angehen der eingangs schon apostrophierten weltweiten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme unerlässlich. Dass Toleranz anders Denkenden und Glaubenden gegenüber nicht allein mit wohlformulierten Festtagsreden wirksam geschaffen und unter die Völker gebracht werden kann, dürfte wohl unbestritten sein. Es wäre aber auch ein schwerwiegender Fehler zu glauben, man könne Toleranz normativ verordnen und mit einer konturenlosen Gleichmacherei garantieren. Ein solches Unterfangen würde im Laufe der Zeit das Gegenteil bewirken. Menschliches Verstehen und insoweit auch glaubwürdige Toleranz haben vielmehr eine eigenständige menschliche Individualität zur unverzichtbaren Voraussetzung. Dieses Erfordernis einer individuellen Eigenständigkeit gilt in gleicher Weise für Kulturen. Sie dürfen nicht verwässert werden und zu einer seichten, wurzellosen Indifferenz verkommen. Das gilt auch für unsere deutsche Kultur. Jeder Staatsbürger auf der ganzen Welt muss sich in seiner Heimat voll und ganz „zu Hause" fühlen können. Sonst verliert er, die Gesellschaft und der Staat seine ureigenen Wurzeln, wird regelrecht entwurzelt - wird destabilisiert und verliert seine „Bodenfestigkeit". Künftigen Belastungen in der Geschichte wäre ein solcher Staat nur mehr bedingt gewachsen, schon leichte Stürme würden über ihn hinwegfegen, ihn umbiegen oder sogar ganz umwerfen. Und eine solche Entwicklung würde im Laufe der Zeit zwangsläufig dazu führen, dass rein pragmatisches, oberflächliches Denken und Handeln zunehmend um sich greifen und - natürlich elegant und wortreich getarnt - Freiräume zu rücksichtslosem Agieren und gefährlichem Machtstreben öffnen.

Erfolgreiches polizeiliches Tätigwerden ist jedoch nur auf einer stabilen staatlichen Grundlage möglich. Soll die Polizei in schwierigen Zeiten ihre oberste strategische Zielvorgabe einer Befriedung erreichen können, braucht sie Rückhalt in einer fest verwurzelten Gesellschaft. Politisch glitschiger Boden, auf dem man sehr schnell ausrutschen kann, ist Gift - gerade auch in einer, in unserer Zeit sich bevölkerungsmäßig ideologisch und religiös zunehmend vermischenden Welt.
Doch das ist bei Weitem nicht alles:
Staat und so auch die Polizei werden von Menschen getragen und gestaltet. Und gerade insoweit eröffnet sich für sie ein ganz zentraler Einwirkungsbereich in eine Ebene hinein, die normativ oder verstandesmäßig nicht „gesteuert" und beherrscht werden kann. Im Grunde ist hier die Beziehung auf der eigentlichen mitmenschlichen Ebene angesprochen. Dort findet sich ein ganz wesentlicher Einwirkungsbereich für jeden einzelnen Polizeiangehörigen. Seine Kompetenz dafür ist nicht in Gesetzen und Vorschriften verankert, sondern in seiner ureigenen Person - in seiner ganz persönlichen Einstellung zum Leben und zu den Mitmenschen. Sie spricht eine Sprache ohne Worte, sie kann in ihrer Aussage „sprachlos" ausstrahlen und ihre Botschaft so instinktiv rüberbringen - auch wenn man eine andere Sprache spricht als das Gegen über und dieser einer anderen Kultur angehört: Wenn man einem Hungernden etwas zu essen gibt, so muss man dazu nichts sagen. Der Andere versteht auch so, dass man es gut mit ihm meint. Verstehen, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und u.U. auch Sympathie sind ohne Worte vermittelbar. Aus diesem Grund ist es so wichtig, das innere Gefüge in unserer Polizei zu pflegen. Wir sind keine Apparatschis, sondern Menschen, die einen Auftrag zu erfüllen haben - auch als Menschen! Ein wirklich guter Polizist muss nicht immer der sein, der die meisten Gesetze und Vorschriften kennt und am wortgewandtesten ist - so wichtig auch beides ist. Er muss vor allem das Herz auf dem rechten Fleck haben. Gerade in diesem Sinne müssen wir nicht nur Wissen, sondern auch Herz haben, um so unseren Dienst beherzt wahrnehmen, erforderlichenfalls dann auch beherzt einschreiten zu können. Der polizeiliche Dienst braucht insoweit den ganzen Menschen. Das sollte nie in Vergessenheit geraten, und dieses Faktum sollte auch zu allen Zeiten sorgsam gepflegt, gehütet und gefördert werden - und zwar nicht nur verbal, sondern realiter, sonst könnte die Polizei zu einem bloßen politischen Machtinstrument degenerieren.