Licht in das Dunkel bringen...
Es war zu Beginn meiner Berufsausbildung und ist jetzt schon über 30 Jahre her, seit ich dieses Zitat das erste Mal vernahm. Ob im Rahmen der Einführung zur Thematik Todesermittlungen im Kriminalistikunterricht oder als Einstieg für die Ausbildungseinheiten in der Gerichtsmedizin: Ich weiß es nicht mehr. „Abhanden gekommen“ ist mir auch der Urheber der prägnanten Worte, sofern der seinerzeit überhaupt benannt wurde. Zwei Dinge aber weiß ich noch ganz sicher. Erstens regte die vom Dozenten an der Landespolizeischule den Lehrinhalten vorangestellte Einleitung sofort meine Phantasie an und zweitens nahm ich mir schon damals vor, meine persönlichen Lehren aus der Situation zu ziehen. Das Zitat stand akustisch noch im Raum, da war ich bereits für Momente dem Unterricht geistig total entrückt. Ich fand mich auf einem großen Friedhof wieder, den es im Übrigen tatsächlich ganz in der Nähe der Polizeischule gibt. Es war Nacht und stockdunkel. Plötzlich, direkt an dem Grab auf der Höhe meiner Wegstrecke, erschien aus dem Nichts ein Licht, welches die Grabstätte beleuchtet. Nur Momente später ging an einer anderen Stelle das nächste Licht an und dann wieder eins. In kürzester Zeit brannten auf unzählig vielen Gräbern Kerzen. Das Friedhofsgelände war hell, taghell. „Wenn auf jedem Grab, in dem eine Leiche liegt, deren Tötung nicht erkannt worden ist, eine Kerze stehen würde, wären die Friedhöfe in Deutschland hell erleuchtet.“
Soweit das Zitat. Und meine persönliche Erkenntnis daraus war, dass ich mir fest vorgenommen hatte, in meinem Wirken als Kriminalbeamter dafür zu sorgen, dass ich möglichst nicht auch noch zur Ausleuchtung der Ruhestätten beitragen würde.
Tatsächlich hat mich diese metaphorische Darstellung bis heute während der gesamten Dienstzeit begleitet und die Bilder waren immer dann präsent, wenn ich allzu große Bereitschaft verspürte, die sich darbietenden plausiblen Situationen genau so zu akzeptieren, wie sie sich zeigten. Chancen dennoch Dinge zu über-sehen, Fehler zu machen, verblieben sicherlich trotzdem genügend. Aber den zwei größten Fallen, nämlich der Routine einerseits sowie der Täuschung durch vermeintliche Normalität und Plausibilität andererseits, konnte ich weitgehend ausweichen.
Der folgende Fall, der sich so in Berlin vor einigen Jahren real zugetragen hatte, ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass es trotz – oder vermeintlich – klarer Sachlage zu Fehleinschätzungen kommen kann. Eine über 90-jährige alte Dame wird von Mitbewohnern des Mietshauses einige Zeit nicht mehr gesehen. Da auf das Klingeln, Klopfen und Telefonanruf keine Reaktion erfolgt, geht man von einem Unglücksfall aus und alarmiert die Feuerwehr.
Nach dem Einstieg in die Wohnung über ein zu diesem Zweck eingeschlagenes Fenster (die Wohnungstür war zweitourig abgesperrt), bot sich den Helfern ein Bild dergestalt, dass die alte Frau augenscheinlich friedlich in ihrem Schaukelstuhl im Wohnzimmer verstorben war. Ohne Auffälligkeiten, das Buch noch auf dem Schoß, war sie „entschlafen“, Der Leichnam wies bereits Zersetzungsmerkmale auf. Die Wohnung selbst war sauber, ordentlich und aufgeräumt. Der Schlüssel, mit dem die Eingangstür wohl von der Mieterin verschlossen worden war, lag auf der Kommode im Flur. Da der Leichenschauschein durch den Bereitschaftsarzt auf „Todesursache ungeklärt“ ausgestellt worden ist, wurde der Kriminaldauerdienst hinzugezogen. Das eingesetzte Team erledigte routiniert den Auftrag und empfahlen am Ende des Tatortbefundberichtes, einen Unbedenklichkeitsvermerk zu fertigen. Es deutete ja auch tatsächlich nichts, aber auch gar nichts auf Fremdeinwirkung hin. Der Sachbearbeiter folgte der Empfehlung. Dies bedeutete im Ergebnis, dass von nun an ein weiteres Licht auf einem Grab eines Berliner Friedhofes zu leuchten begann. Die Kerze brannte drei Jahre lang, dann hielt die Enkeltochter dem Druck nicht mehr stand und ging von sich aus zur Polizei. Schon damals rauschmittelabhängig, war sie mit zwei Kumpels bei Oma aufgetaucht, wollte Geld. Aber Oma wollte nicht. So schleppte man die alte Frau zur Küche, steckte ihren Kopf in den Backofen und öffnete den Gashahn... Später wurde Omi in ihren Lehnstuhl gesetzt, hinzu kamen die Pantoffeln und das Buch und schon sah alles ganz normal aus. Nun hatte man ja auch genug Zeit, „gesittet“ nach Geld zu suchen, ohne Hast, ohne Unordnung. Viel gefunden wurde zwar nicht, für ein paar Tage sollte es aber langen. Die Wohnungstür ist beim Verlassen mittels eines Zweitschlüssels ordnungsgemäß verschlossen worden, sicherheitshalber – man weiß ja nie – es gibt ja so viele schlechte Menschen! Seit der Selbstanzeige ist diese Kerze nun erloschen, die Täter sitzen im Gefängnis. Ohne das Geständnis wäre die Tat nie erkannt und geklärt worden. Wer will den Ermittlungsbeamten im Nachhinein aber einen Vorwurf machen? Die Meldungen über die Dunkelziffer zu unnatürlichen Todesfällen gehen weit auseinander. Sie können sich aber ohnehin nur auf Vermutungen stützen und schwanken zwischen 1 : 3 bis 1 : 6.
Der Tod hat viele Gesichter
Wie viele unterschiedliche Situationen oder Anlässe bzw. Umstände es gibt, bei denen Menschen direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst den Tod anderer Personen zu verantworten haben, vermitteln uns die Medien täglich. Allein eine Woche Auswertung der Tageszeitung zu diesem Thema zeigt ein breites Spektrum auf. Den Berichten aus den Krisengebieten wie Irak, Afghanistan, Palästina sind eher pauschalisierte Angaben über Opferzahlen beigefügt, der Einzelfall spielt oft keine große Rolle mehr. Noch deutlicher wird das bei Meldungen zu Kämpfen rivalisierender Stammesgruppen im afrikanischen Raum oder zu marodierenden Milizionären, wie im Sudan. Die Angaben über die auf grausamste Art umgebrachten Männer, Frauen und Kinder bewegen sich in drei- oder gar vierstelligen Bereichen, ähnlich wie seinerzeit in Ruanda. Genaues wird man dazu nie erfahren. Nachhaltige Betroffenheit erzeugen derartige Nachrichten wohl nicht, zu anonym sind die Umstände, zu weit entfernt die Tatorte. Nicht viel anders fällt das Ergebnis aus, wenn es um Berichte über tödliche Verkehrsunfälle geht, es sei denn, ein Kind ist ums Leben gekommen. Wirkliche Aufmerksamkeit erregt hingegen die Tötung von Menschen als Individualtat. Mord aus Eifersucht, Habgier, Rache, Langeweile, als Auftragstat, zur Machtausübung oder aus sexuellen Motiven heraus – die Bandbreite der Möglichkeiten ist enorm. Jede Tat hat ihr Motiv, die oftmals zitierte motivlose Tat gibt es nicht. Mitunter ist es aber recht schwierig, das Motiv zu erkennen. Je unerklärlicher die Handlungsweise des Täters für den unbedarften/ungeschulten Betrachter ist, desto eher gelingt es dem Fachmann, Zugang zum Motiv und zum Tätertyp zu erlangen. Die Frage, die er sich stellt, heißt nämlich: Was hat der Täter getan, was er zur Ausübung der Tat, also zur Erreichung des Taterfolges, nicht hätte tun müssen? Welche Handlungen gehen über das Erforderliche hinaus? Warum hat der Täter beispiels-weise unzählige Male („sinnlos“) auf das Opfer eingestochen, warum hat der Mörder das Opfer an einem bestimmten Ort abgelegt oder vor Verlassen des Tatortes in eine besondere Lage gebracht (Augenlider geschlossen, Hände gefaltet ect.)? Die „Handschrift“ des Täters sagt mit-unter sehr viel über seine Persönlichkeit, seine Stärken und Schwächen aus. Daraus lassen sich hervorragende Ermittlungsansätze ableiten, die insbesondere bei Serientaten zum Erkennen von Pa-rallelen/Zusammenhängen führen können. Leider sind derartige Serientaten nicht die absolute Ausnahme und dass wir nicht nur auf den Gräbern der Friedhöfe nach alarmierendem Kerzenlicht schauen sollten, hat uns der Fall Dutroux, in dem es um dreifachen Mord, sexuellen Missbrauch von Kindern und mehrfache Vergewaltigung durch den Belgier Marc Dutroux geht, ebenso nochmals deutlich vor Augen geführt wie das Verfahren gegen Michael Fourniret, der aktuell in den Schlagzeilen ist und bislang neun Tötungshandlungen gestanden haben soll. Der mutmaßliche französische Serienmörder hatte bis vor 18 Jahren mehrfach Vergewaltigungen begangen und ist seinerzeit daraufhin zu sieben Jahren Haft, davon zwei auf Bewährung, verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung ging Fourniret dann dazu über, seine Opfer zu töten. Beide Täter hatten sich ihrer Opfer überwiegend dadurch entledig, dass sie diese auf ihren Grundstücken verscharrten. Kerzen können also überall vermutet werden, in Kellern, Wäldern, auf Anwesen oder Schlössern... Dass eine vorsätzliche Tötung mitunter als „natürlicher Tod“, „Unglücksfall“ oder „Selbsttötung“ zur Verdeckung der Wahrheit getarnt wird, ist bekannt. Dass eine Selbsttötung als Delikt der Fremdtötung inszeniert wird, das ist schon seltener. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem der 16-jährige Sohn der Familie morgens tot im Bett seines Zimmers aufgefunden wurde. Die Tatsituation war dergestalt, dass der junge Mann zwei offenbar stromführende Kabelstränge (Plus- und Minuspol) eng um das Handgelenk geschlungen hatte und die beiden Drahtenden fest verdrillt waren. Die abisolierten Kabelenden waren das Endstück eines 5 Meter messenden Verlängerungskabels, dessen anderes Ende zweckgemäß mit einem Stecker versehen war, der in einer vom Bett aus nicht zu erreichenden Steckdose steckte. Todesursächlich war ein Stromschlag. Da das Opfer sich unmöglich die Kabel umgebunden, dann den Stromkreis geschlossen und sich anschließend in das Bett gelegt haben konnte, musste zunächst von Fremdverschulden ausgegangen werden. Und genau das hatte der Sohn beabsichtigt – der Tod sollte seinen Eltern angelastet werden, mit denen er diverse Probleme hatte, u.a. wegen seines Rauschmittelkonsums. Untersuchungen der Stromleitungen haben dann doch recht schnell das Rätsel gelöst. Der junge Mann hatte im Keller des Einfamilienhauses, geschickt hinter alten Holzplatten versteckt, den Kabelstrang zu seinem Zimmer gekappt und eine Zeitschaltuhr zwischenmontiert. Der Rest war einfach: Ein paar Schlaftabletten sorgten für „Nachtruhe“ und zu dem festgesetzten Termin wurde die vorbereitete Leitung unter Strom gesetzt!
Dass Tötungsdelikte bzw. Fremdverschulden nicht als solche erkannt werden, ist in einigen Fällen leider auf das unprofessionelle Verhalten der Bereitschaftsärzte, mitunter auch der Voreingenommenheit der Hausärzte zurückzuführen. Was nutzt eine Leichenschau mit dem Ziel der Todesursachenerforschung, wenn der sie durchführende Arzt nur wenig oder gar keine Erfahrung auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin hat, oder wenn er seiner Verpflichtung nicht auf-tragsgemäß nachkommt. Beispiele gibt es genügend, wo nicht einmal eine ausreichende Inaugenscheinnahme, geschweige denn ein Entkleiden des Toten erfolgen. Die „Begutachtung“ von der Haustür aus ist mitunter alles, was zur Klärung des Sachverhaltes unternommen wird. Wenn dann auch nach – sozusagen unbesehen – der „natürliche Tod“ bescheinigt wird, muss man sich im Einzelfall über den Sarkasmus der Ermittler nicht wundern, die das auch so bewerten, dass der bescheinigende Arzt eine zutreffende Aussage getätigt hatte: Bei dieser Schussverletzung, bei diesem zertrümmerten Schädel o.ä. ist es wirklich „natürlich“, dass der Tod eingetreten ist!
Seit Mai diesen Jahres hat es in Berlin die Kassenärztliche Vereinigung übernommen, Ärzte für Leichenschaudienste besonders qualifizieren zu lassen und zentral für Todesermittlungsverfahren zu vermitteln. Damit soll einerseits der allgemeine Hausbesuchsdienst von den Aufgaben der Durchführung der ärztlichen Leichenschau entlastet werden, andererseits soll dies der Qualitätssicherung dienen.Eine gute Sache, deren Erfolge es abzuwarten gilt. Je öfter dem Leichschaudienst ein Licht aufgeht, desto weniger Kerzen stören die Nachtruhe auf den Friedhöfen...
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