Kriminologie Heute

Kriminologie heute

Kriminologie heute
Von Jörg-Michael Klös, Kriminaldirektor, Berlin

Langjährige Bezieher der Fachzeitschrift „Die Kriminalpolizei" werden sich vermutlich noch daran erinnern, dass seit 1997 neben den tradierten Standardrubriken „Aus der Rechtsprechung" und „Neue Bücher" eine andere Fortsetzungsreihe hinzukam, nämlich „KRIMINALTECHNIK HEUTE".

Immerhin begleitete uns dieser Fachteil von da an etwa vier Jahre lang, ehe er in Ermangelung noch unbearbeiteter Themenfelder ausgesetzt wurde. Eingestellt wäre wohl tatsächlich die falsche Formulierung; bei der rasanten Entwicklung der Kriminaltechnik wird es - da bin ich mir recht sicher - absehbar eine Fortsetzung geben.

Schon damals hatten mich verschiedentlich Anregungen erreicht, einem weiteren Gebiet der Verbrechensbekämpfung (oder wie die heutige Terminologie lautet: der Verbrechenskontrolle) Aufmerksamkeit und Raum zu widmen, der Kriminologie.

Mitunter meinen einige „Altvordern" zwar noch immer, dass kriminologische Aspekte für ihre tägliche Arbeit eigentlich gar nicht bedeutsam wären, damit könne man keine Fälle klären. Demgegenüber beklagen Kriminologen zuweilen, dass der Kriminologie in der Polizei nicht der ihr gebührende Stellenwert eingeräumt wird. Dadurch blieben potenzielle Wirkungsfelder ungenutzt. Beides ist aber - so darf wohl festgestellt werden - falsch. Tatsächlich ist die Kriminologie längst eine untrennbare Symbiose mit der Kriminalistik eingegangen; das eine ist ohne das andere gar nicht bestandsfähig. Nur: Das bemerkt kaum jemand, weil man sich das eben selten bewusst macht. Phänomenologie, Ätiologie, Viktimologie und Prävention sind nicht nur Hauptfelder der Kriminologie, sie sind zugleich essentielle Bestandteile jeder Kriminalitätsbekämpfungskonzeption. Daher ist es nur folgerichtig und wichtig, sich auch in der Fachzeitschrift kriminologischen Aspekten zu widmen.

Profitieren sollen davon darüber hinaus die in der Aus- oder Fortbildung befindlichen Mitarbeiter, die den Beiträgen Hinweise und Anregungen entnehmen können. Es ist aber nicht beabsichtigt - und auch nicht leistbar - eine weitgehend umfassende kriminologische Betrachtung ausgewählter Phänomene anzustreben. Dazu fehlt es einerseits an Platzkapazität, andererseits entspräche das zudem nicht der Grundphilosophie dieser Zeitschrift, die vorrangig Fallorientiert bleiben soll. Das Vorhaben, ab sofort das jeweilige Leitthema der aktuellen periodischen Ausgabe kriminologisch zu begleiten, war, was die vorliegende Ausgabe anbelangt, besonders schwierig umzusetzen.

Zunächst wäre zu definieren, was unter dem Leitthema „Politischer Mord" überhaupt zu subsumieren ist. Gegenwärtig präsent ist wohl allen der Name Anna Lindh, die am 10. September vergangenen Jahres bei einem Messerattentat tödlich verletzte schwedische Außenministerin. Nun, werden einige zu Recht einwenden, das war doch wohl kein politischer Mord?! Der 25-jährige Sohn serbischer Einwanderer hatte als Angeklagter des zurzeit gegen ihn laufenden Prozesses schließlich zu Protokoll gegeben: „Es hätte auch jemand anderes sein können. Ich habe kein politisches Motiv, ich hörte Stimmen, die sagten, ich solle sie angreifen." Ein Zufallsopfer also? Oder ein Fall ähnlich dem der Ermordung John Lennon? Wer will das zum jetzigen Zeitpunkt verbindlich feststellen? Immerhin fand die Tat vier Tage vor dem Euro-Referendum statt!

Einige Morde lassen sich vollständig aufklären, in allen Details, auch, was die Motive zur Tat anbelangt. Andere bleiben gänzlich oder zumindest weitgehend ungeklärt. Nicht unbedingt, was die Person der Attentäter betrifft, wohl aber deren Motivation und sonstiger Hintergründe. In solchen Fällen behilft man sich mit Spekulationen, Legenden, Mythen. Beispiele dafür gibt es viele, etwa Erzherzog Franz Ferdinand, dessen Ermordung Auslöser des 1. Weltkrieges war, oder der Tod des Amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, zu dessen Ableben noch immer Verschwörungs-theorien glaubhafter dargeboten werden als die offizielle Anschlagsversion... Ist ein politischer Mord auch dann gegeben, wenn ein gedungener Täter den Auftrag gegen Bezahlung erledigt? Für den Auftragsmörder sicherlich nicht, was die Auftragsgeber betrifft aber zweifellos schon, sofern nicht unpolitische Motive ausschlaggebend waren.

Auch lässt sich eine seriöse kriminologische Betrachtung auf abstrakter Basis zu diesem Phänomen kaum realisieren, weil eben genau hierfür der konkrete Sachverhalt richtungsweisend bleibt. Zudem sind diese Fälle zumeist so komplex, dass kriminologische Aufarbeitungen, die einem gewissen Anspruch auch nur halbwegs gerecht werden wollen, Bücher füllen würden. Somit wird an dieser Stelle gar nicht erst der Versuch dazu unternommen. Vielmehr beschränkt sich der Beitrag auf die Grobdarstellung ausgewählter kriminologischer Theorien als Erklärungsansätze.

Die Theorie des inneren Haltes nach Reiss, geht als kontrolltheoretischen Ansatz davon aus, dass dem Individuum nur die Mittel und Möglichkeiten für die eigene Lebensführung zur Verfügung stehen, die es in den Sozialisationsphasen - vorrangig während der Primärsozialisation (Geburt bis 6. Lebensjahr) - erlernt hat. Internalisierte (verinnerlichte) Werte und Normen,

Verhaltensmuster, Interpretationen und Rationalisierungen, überwiegend durch die informelle Kontrollinstanz Eltern durch Vorleben oder verbal vermittelt, bilden das Rüstzeug zum Bestehen (oder auch nicht!) im Sozialgefüge. Wer also in einer funktional und strukturell intakten Familie „das Richtige" (im Sinne der Gesellschaft) erlernt und umsetzt, hat selbst und bereitet anderen keine Probleme. Wer hingegen Gewaltanwendung als probates Mittel der Konfliktlösung, Hass und Extremismus erlernt, reproduziert auch solches Verhalten.

Bei denen, die nicht ausreichend oder die falschen Werte vermittelt bekommen, und somit also einen defizitären inneren Halt haben, ist insbesondere dann die Gefahr des Abgleitens in die Kriminalität gegeben, wenn auch der äußere Halt (Halttheorie nach Reckless) nicht in der Lage ist, den fehlenden inneren Halt auszugleichen. Unter „äußerem Halt" werden alle formellen und informellen Kontrollinstanzen verstanden, die eine Art „Betreuung, Begleitung, Aufsicht" im weitesten Sinne leisten bzw. hätten leisten sollen, also Erziehungsberechtigte, Schule, Lehrstelle, soziales Umfeld, aber auch die Polizei, Justiz ect.. Druckfaktoren (vermeintliche oder tatsächliche Erwartungen an die Person, Perspektivlosigkeit, emotionale Gründe ect.) und Zugfaktoren (Geld- oder Ehrversprechungen, Mutproben, Loyalitätsnachweise beispielsweise) wirken zusätzlich auf den Delinquenten ein und forcieren den Weg in die Kriminalität.

Noch problematischer ist die Situation, wenn der Proband intensiven Kontakt zu einer negativ besetzten Gruppe hat oder dieser sogar angehört. Genau in solchen intimen Gruppen wird Verhalten (eben leider auch kriminelles...) vermittelt. Der lerntheoretische Ansatz von Edwin H. Sutherland beschreibt diese Mechanismen anhand der von ihm entwickelten Theorie der differentiellen Assoziation, auch Theorie der unterschiedlichen Kontakte genannt.

Kriminelles Verhalten wird demnach erlernt und zwar durch Kommunikation und Interaktion. Davon umfasst sind sowohl die Techniken des Vorgehens (Modus operandi) als auch Motive, Rationalisierungen, Attitüden. Da die differentiellen Kontakte nach Häufigkeit, Dauer und Intensität variieren, wird eine Person dann eher delinquent, wenn sie überwiegend normenabweichenden Kommunikationsprozessen ausgesetzt ist. Schließt sich jemand einer Gemeinschaft an, die sich bewusst nicht gesetzeskonform verhält oder gar den Staat in seiner bestehenden Form bzw. einzelne Mitglieder/Repräsentanten der Regierung gewaltsam beseitigen will, bleibt zu erwarten, dass dieser perspektivisch nicht nur die Ziele der Gruppe, sondern auch deren Mittel/Methoden übernehmen wird.

Themennah ist die von Whyte aufgestellte und von Cohen weiterentwickelte Subkulturtheorie, eine sozialstrukturelle Kriminalitätstheorie. Sie beschreibt in der Ausprägung als delinquente Subkultur die Ablehnung der Werte und Normen der (Mittelschicht-) Gesellschaft zugunsten eines eigenen subkulturellen Regel- und Sanktionssystems. Ausschließlich über die in dieser Gruppe geltenden „Spielregeln" ist (dort) soziales Ansehen zu erlangen. Die Zahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten, darunter die rechtsextremistischen Skinheads als größte Gruppe, umfasst in der Bundesrepublik beispielsweise ca. 11.000 Personen! Der ideologische Terrorismus findet hier eine „Heimstätte".

Relevant sein könnte auch die Theorie der differentiellen Identifikation nach Glaser. Danach zeigt ein Mensch kriminelles Verhalten in der Ausprägung, in der er sich persönlich mit realen oder imaginären Vorbildern identifiziert und deren - ggf. auch kriminelles - Verhalten übernimmt. Aus dieser Konstellation heraus ist es, wie wir leidvoll erfahren mussten, in der Vergangenheit bereits zu extremsten Gewaltverbrechen gekommen. Nicht unberücksichtigt bleiben sollte die Theorie derTechniken der Neutralisation nach Graham M. Sykes und David Matza, wonach sich der durchaus sozialisierte Delinquent (der also weiß, was „richtig und falsch" ist) dadurch Zugang zur Tat ermöglicht, dass er sein Gewissen über Rechtfertigungsmechanismen beruhigt/ausschaltet und sich somit in die Lage versetzt, „unbelastet" Unrecht zu begehen. Die Rechtfertigung erfolgt also in erster Linie gegenüber der eigenen Person und bereits vor der Tatausführung.

Alle fünf von den Begründern der Theorie herausgearbeiteten Neutralisationstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar.

Die Ablehnung der Verantwortung führt das delinquente Handeln auf Ursachen zurück, die (angeblich) außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Individuums lagen („Spielball anderer Kräfte").

Verneinung des Unrechts gibt vor, dass der Sachverhalt von der Gesellschaft falsch beurteilt wird, die Handlung also eigentlich gar nicht strafbar ist.

Bei der Ablehnung des Opfers wird dieses vom Täter praktisch zum Verursacher gemacht. Oft kommt es dabei zu einer „Anonymisierung" des Opfers (sprachlich oder emotional). Als Leitsatz könnte „der Zweck heiligt die Mittel" gelten.

Die Verdammung der Verdammenden soll die Aufmerksamkeit des Betrachters vom eigentlichen Täter ablenken, hin zu denen, die „auch nicht besser, sogar schlimmer seien und somit keinen Grund hätten, das Handeln des Täters zu kritisieren (Polizisten/ Richter sind korrupt).

Eine Berufung auf höhere Instanzen / Ziele beinhaltet faktisch eine „Güterabwägung" und legitimiert das strafbare Handeln dadurch, dass es noch größeres Unrecht verhindert oder höheren Zielen dient.

Es ist unschwer vorstellbar, dass es möglich sein dürfte, über derartige Neutralisationstechniken eigentlich alles zu „rechtfertigen", auch den politischen Mord.