Kriminologie Heute

Die sichere Stadt

Von Jörg-Michael Klös, Kriminaldirektor, Berlin

Die sichere Stadt

Ja, das klingt verlockend! Wer wollte das nicht, in einer sicheren Stadt leben, sofern nicht das Landleben ohnehin vorgezogen wird? Der Titel suggeriert zudem auch ein wenig Wettbewerb, ähnlich dem „Wir suchen das schönste Dorf". Nun, Hamburg, Berlin und Frankfurt/Main sollten sich die Bewerbung um das Prädikat „sichere Stadt" sparen, chancenlos wie diese drei Metropolen sein dürften. Vielmehr liegen sie traditionell seit langem unangefochten an aussichtsreichster Position, wenn es gilt, alljährlich wieder die Frage nach der kriminalitätsbelastetsten Region zu klären. Was aber sind die Parameter, die dazu führen, dass eine Stadt eher als sicher oder unsicher definiert wird? Je nachdem, ob Politiker, Experten oder Bürger befragt werden, fällt die Einschätzung höchst unterschiedlich aus. Die Volksvertreter halten sich überwiegend an Zahlen, Fakten, Daten. Da drängt sich die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) geradezu auf, auch für einen bundesweiten Vergleich. Die Experten hingegen verweisen auf die Schwachstellen der PKS und sehen die Problematik differenzierter. Sie geben zu bedenken, dass sich die PKS ausschließlich auf das Hellfeld bezieht und keinen Aufschluss zum Dunkelfeld gibt, also zu den Taten, die zwar verübt, nicht aber polizeibekannt wurden. Zudem wird bei der Auslegung der Statistik nicht gewichtet, welcher Qualität die jeweiligen Straftaten entsprechen. Im Prinzip zählt somit jedes angezeigte Delikt zunächst einmal gleich, egal, ob es eine Tötungshandlung oder eine Fahrgeldhinterziehung, ob es eine Sachbeschädigung durch Graffiti oder einen Bankraub betrifft.

Ist nun aber eine Stadt, in der verglichen mit anderen Gemeinden anteilmäßig erheblich mehr Wirtschafts- und Betrugstaten registriert wurdenweil es sich eben nun mal um eine Geschäfts- und Dienstleistungsmetropole handeltreal unsicherer als beispielsweise eine Stadt mit einer relativ niedrigen Belastung an „white-collar-crime", dafür aber einer signifikant hohen Rate an Morden, Raubdelikten oder rechtsgerichteter Gewalt? Das wohl nicht. So gesehen sollte die „Häufigkeitszahl" (Fallzahlen x 100.000, geteilt durch Einwohner) immer nur für spezielle Delikte berechnet werden, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen. So war es auch ursprünglich gedacht, wird aber eben nicht immer konsequent durchgehalten. Und selbst die Frage danach, wie krimivalent eine Stadt bzw. deren Bevölkerung sei, ist über die PKS-Daten nicht schlüssig zu beantworten. Die Berechnungsformel zur Feststellung der Tatverdächtigenbelas-tungszahl (TVBZ) liefert uns zwar durchaus ein Ergebnis (Anzahl aller Tatverdächtiger ab 8. Lebensjahr multipliziert mit 100.000, geteilt durch die Einwohnerzahl ab 8 Jahre), bei näherer Betrachtung wird dann aber klar, dass der Aussagewert auch hier sehr begrenzt bleibt. Die Anzahl der registrierten Straftaten in Relation zur Bevölkerungsdichte zu setzen hätte nämlich nur dann seine Berechtigung, wenn die Täter gleichzeitig der Gruppe Bevölkerung zugehörig wären. Aber genau das ist bei Städten mit erheblichem Pendler- und Touristenaufkommen nur bedingt der Fall, da häufig sogar sowohl Opfer wie auch Täter als Touristen registriert werden. Nun zum Bürger. Der wünscht sich die ideale Stadt so, dass sie sauber, sicher und ohne Kriminalität sein möge. Grundsätzlich ist man ja geneigt, dem zuzustimmen. Nur: Welches Maß an Sauberkeit, Sicherheit und Kriminalitätsverhinderung ist das richtige? Wäre jede Absolutheit nicht nur auf Kosten von Freiheiten und Innovationstendenzen erreichbar und damit eindeutig zu teuer bezahlt? Begriffe wie Sauberkeit und Sicherheit unterliegen ohnehin dem persönlichen Ermessen, zumal es weniger um die tatsächliche Sicherheit, vielmehr um das Sicherheitsempfinden geht. Was für den einen als sauber gilt, ist für den anderen schon unerträglich steril, unpersönlich, befremdlich. Oder ein gelungenes Graffiti (was heißt eigentlich gelungen....?), was erfreuen oder Anlass zum Ärgern über die „Schmiererei" geben kann. Wer aber will denn in letzter Konsequenz wirklich solche Verhältnisse wie in Singapur, wo man nicht einmal eine Bemerkung, geschweige denn ein Stück Papier fallen lassen darf, ohne für kleinste Regelverstöße unverhältnismäßig hoch abgestraft zu werden? Gerade aber in Punkto Sicherheit ist es kaum möglich, den Erwartungen der Bürger tatsächlich gerecht zu werden. Diese wollen sich sicher fühlen. Es kann also durchaus so sein, dass jemand sich (subjektiv) sicher wähnt, real aber in Gefahr ist. Viel häufiger ist es aber eher umgekehrt. Diverse angstbesetzte Örtlichkeiten (Tiefgaragen, dunkle Parkanlagen, einsames Wald- und Wiesengelände) vermitteln ein Unsicherheitsgefühl dort, wo in Wirklichkeit Gefahrlosigkeit besteht. Wenn doch Frauen als potenzielle Opfer nur ahnen würden, dass sie nachts in einsamen, dunklen Parks weit sicherer vor Übergriffen sein könnten als in den Wohnungen von Bekannten, Verwandten, Lebenspartnern, vermeintlichen Freunden... (ca. 2/3 aller Übergriffe ereignen sich an gedeckten Tatorten; nur 1/3 aller Täter stammen nicht aus dem Bekannten- Verwandtenkreis). Damit wird deutlich, dass die objektive Sicherheitslage keinesfalls mit der subjektiven Empfindung übereinstimmen muss.

Nun noch einige Anmerkungen zum Wunsch nach Verhinderung von Kriminalität. Auch das hat selbstverständlich seine Grenzen. Deshalb wird heutzutage ohnehin eher von Kriminalitätskontrolle als von Kriminalitätsbekämpfung gesprochen. Schon allein die Frage, wann etwas völlig legal, nicht mehr so ganz zulässig oder gar verboten ist, lässt sich nicht immer eindeutig klären. Ist erlaubt, was nicht verboten ist oder ist (nur) erlaubt, was (ausdrücklich) gestattet ist? Dazwischen können Welten liegen! Freiräume zu nutzen, aber auch Grenzen zu überwinden, gegen Regeln, Normen, Gesetze bewusst zu verstoßen, kann einen innovativen Effekt erzielen, kann Fortschritt bedeuten. Gerade Begriffe wie Anstand und Moral unterliegen einem stetigen Wandel. Wer hätte vor 10 Jahren schon ahnen können, dass die Rechtsprechung die Ausübung der Prostitution heutzutage nicht mehr als sittenwidrig definiert? Wie viel technischen Fortschritt haben wir dem Wunsch und Erfordernis nach Optimierung von Sicherheitseinrichtungen, also letztlich den Tätern zu verdanken? Hätte nie jemand Regeln und Normen in Frage gestellt, wäre die Welt wohl heute noch eine Scheibe und das nicht nur beim Eishockey! Genau so sah das schon der französische Philosoph und Soziologe Emile Durkheim, der von 1858 bis 1917 lebte. Von ihm stammt die gesellschaftsbezogene Anomietheorie, die Merton später weiterentwickelte und direkt auf das Individuum abstellte. Durkheim setzte sich in seinen Werken (Die Regeln der soziologischen Methode, 1. franz. Auflage Paris 1895; Le suicide, Paris 1897, zu deutsch: SelbstmordWerk über den anomischen Selbstmord) mit abweichendem Verhalten und sozialer Desintegration auseinander. Seine Aussage ist eindeutig: Anormal ist nicht das Vorhandensein von Verbrechen und andere Formen des abweichenden Verhaltens als solches, sondern nur ein plötzlicher und sprunghafter Anstieg der Durchschnittswerte an Verbrechen. Ein bestimmtes Maß an Verbrechen ist also „ein integraler Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft". Damit erklärt er den Verbrecher nicht mehr zu einem radikal unsozialen Wesen und nicht mehr zu einem nicht zu assimilierenden Fremdkörper im Innern der Gesellschaft, vielmehr zu einem regelmäßigen Bestandteil des sozialen Lebens. Was die Kriminalgeografie betrifft, also das Thema Urbanisierung und Urbanismus, gelten C.Shaw und H.D.McKay (Delinquency Areas, Chicago, 1929) als die herausragenden Vertreter der ökologischen Theorie. Sie haben aufgezeigt, dassam Beispiel Chicagoseine Stadt in feste Bereiche gegliedert werden kann, die jeweils eine signifikante Ausprägung an Täterpersönlichkeiten bzw. Täteraktivitäten aufweisen. Vom Stadtkern (Stadtmitte) ausgehend legen sich die einzelnen Zonen wie breite Ringe in Richtung Vorstadtgebiet. Der zentrale Geschäftsbereich ist dabei für die Menschenaber eben damit auch für die Täterinteressanter als die Außenbezirke. Da, wo viel los ist, sich die Touristen bewegen, das Rotlichtmilieu seinen Platz hat, Handel und Wandel blüht, da ist auch Kriminalität. Das sindwie Shaw und McKay es bezeichnetendie „attracting areas". Dahinter befindet sich das Rückzugsgebiet, bis in den Vorstadtbereich, der dann von ihnen als „breeding areas" ausgewiesen wurde, also die Orte, an denen die Delinquenten leben.

Klar, wenn eine Stadt vom Zentrum her im Laufe der Zeit sich nach außen entwickelt, dürfte das zutreffend beschrieben sein. Nur ist das eben nicht bei allen Städten so. Berlin in seiner jetzigen Ausdehnung beispielsweise entstand erst 1920 aus einzelnen Gemeinden und selbständigen Städten zu Groß-Berlin. All die eingemeindeten Orte hatten aber auch ein eigenes Zentrum. Und dass es die Delinquenten immer dort hinzieht, wo sich besonders günstige Gelegenheiten zur
Tatausführung bieten, überrascht nicht wirklich. Es gilt also, Tatgelegenheitsstrukturen so zu verändern, dass sie für potentielle Täter ungünstig sind. Das ist weit besser, als gewisse Bereiche einfach zu meiden, sozusagen „preiszugeben". Werden nämlich bestimmte Straßen, Anlagen oder Plätze zu gewissen Zeiten deshalb weniger benutzt, weil sie von der Assoziation des Bürgers her als „nicht sicher" gelten, meiden immer mehr Menschen diese Orte. Damit schwindet gleichzeitig das, was man „informelle Kontrolle" nennt, nämlich das normale Bewegungsbild einer Straße mit Geschäften/Geschäftsleuten, Passanten spielenden Kindern und Fahrzeugverkehr. Je weniger informelle Kontrolle besteht, desto eher wird es einem potenziellen Straftäter möglich, eine für ihn günstige Situation zur Begehung eines Deliktes auszunutzen. Mehr noch: er wird durch die äußeren Verhältnisse geradezu dazu animiert, die Tat genau jetzt und hier zu begehen. Abgesehen davon, dass der Passant, der trotz eines gewissen Unsicherheitsgefühls diese „Gefahrenstelle" zu passieren suchte, diesen Ort aufgrund der nunmehr persönlich gemachten schlechten Erfahrung in Zukunft ebenfalls meiden wird, trägt die Publizierung der Tat in den Medien verstärkend zu einer weiteren Vereinsamung dieser Gegend bei. Immer mehr Menschen meinen subjektiv, dass es dort „nicht mehr sicher" sei. Das führt dazu, dass sich den Straftätern weitere relativ ungestörte Wirkungsfelder zur Begehung ihrer Straftaten auftun. Damit steigt die Anzahl der dort zu registrierenden Delikte erneut, womit sich der Kreislauf der Bedingungsabhängigkeiten geschlossen hätte. Zur wirksamen Kriminalitätskontrolle gehört vor allem ein möglichst genaues Lagebild. Das erlaubt sowohl angemessene Sofortreaktionen wie Langzeitanalysen. Ob uns das jemals dazu bringt, in einer sicheren Stadt zu leben, bleibt zu bezweifeln. Ob eine solche Situation überhaupt erstrebenswert ist, ebenfalls. Unser Ziel sollte es aber bleiben, in einer Stadt sicher zu leben!