„Klimakleber“

Aspekte der polizeitaktischen Lagebewältigung

3 Versammlungsrechtliche Einordnung


Die Polizei ist gut beraten, Protestformen von Personenmehrheiten zunächst im Kontext einer Versammlung zu betrachten – losgelöst, ob eine solche im Vorwege erklärt wurde oder ob sich Personen (bei ad hoc-Lagen) als Versammlungsleitung zu erkennen geben6. Die Annahme, dass das „Festkleben auf einer Fahrbahn“ per se unfriedlich sei und damit bereits die verfassungsunmittelbare Schranke aus Art. 8 GG greife, kann nicht überzeugen7. Unabhängig von der strafrechtlichen Einordnung des Nötigungstatbestandes, ist das festgeklebte Sitzen auf der Straße ja nicht unfriedlicher als das „unfixierte Verweilen“. Unstrittig sein dürfte zudem, dass der (Klima-)Protest darauf abzielt, die kollektive Meinungsbildung in einer eindeutig öffentlichen Angelegenheit beeinflussen zu wollen. Über die Wahl der Mittel mag man geteilter Ansicht bleiben.


Derartige Protestaktionen werden im Vorwege nicht (oder bestenfalls ausnahmsweise) bei der Polizei bzw. der Versammlungsbehörde angezeigt. Es ist nicht zu erwarten, dass LG an einem angebotenen Kooperationsgespräch teilnähme oder hierbei sogar den Versammlungstyp des „Sich-auf-die-Straße-Klebens“ ins Spiel brächte. Schon Baron8 hat beschrieben, warum Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen LG und Polizei kaum möglich erscheinen. Doch auch ohne Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft darf nicht ausgeschlossen werden, dass Aktionen oder Teile davon im Schutzbereich von Art. 8 GG liegen könnten. Im Sinne des Kooperationsgebots, der Deeskalation und der versammlungsfreundlichen Verfahrensgestaltung9 sollte das Vorliegen einer Versammlung zunächst also grundsätzlich von der Polizei in Betracht gezogen werden. Grundsätzlich gilt aber: Das Versammlungsrecht ist verfassungswesentlich, aber nicht schrankenlos. Auch die Rechte Dritter sind zu schützen, z.B. das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit für die Teilnehmer des Straßenverkehrs (Mobilitätsrecht).


Nur am Rande sei hier festgestellt, dass der Begriff der Spontanversammlung häufig falsch ist (und auch von Polizeibeamten zuweilen falsch genutzt wird). Es sei auf die übliche Abgrenzung zwischen Versammlungen, Eilversammlungen und eben Spontanversammlungen verwiesen10. Wenn sich Personenmehrheiten verabreden, Transparente u.Ä. vorbereiten, ggf. vorab die Presse informieren und sich sonstige Formen des zwar kurzfristigen, aber gleichwohl organisierten Handelns erkennen lassen, ist das regelmäßig nicht mehr als „spontan“ zu bezeichnen. Auch ist kaum glaubhaft zu machen, dass man stets und ständig so viel Sekundenkleber bei sich habe, dass man sich damit jederzeit und jedenorts „spontan an irgendetwas“ festkleben könnte.


Diese Diskussion erscheint jedoch insofern müßig, als dass die sprachlich korrekte Einordnung des Versammlungstyps ja nicht zu einem Mehr oder einem Weniger an Versammlungsfreiheitsrechten führen würde.

 

4 Polizeiliches Handeln


Als in den 1960er-Jahren die Historie der Sitzblockaden-Urteile ihren Anfang nahm, galt für das Gros der Gesellschaft allein schon die Idee, sich auf die Straße zu setzen, als der Inbegriff der Unfriedlichkeit im Versammlungswesen. Davon sind wir heute weit entfernt – Sitzblockaden mit Aufstoppen des fließenden Verkehrs sind verbreitet und der Umgang damit allseits geübt. Blockierer erheben sich nach kurzer Zeit oder werden von der Polizei weggetragen.


Menschen, die festkleben, können sich aber weder erheben noch weggetragen werden.


„Lasst die doch einfach da sitzen, die werden schon sehen, was sie davon haben!“ Auch solche und ähnliche Aussagen hören Polizisten, die bei Klebe-Blockaden eingesetzt sind. Die Volksweisheit „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ ist mit dem Gefahrenabwehranspruch deutscher Polizeigesetze jedoch nicht vereinbar. Die Polizei muss hier handeln – schnell, kompetent, rechtlich einwandfrei und mit dem gebotenen Eigensicherungsmaß. Sie muss – im wahrsten Sinne des Wortes – den Fall lösen.


Bundesweit haben die Polizeibehörden – mehr oder weniger intensiv – mit den besonderen Formen des Klimaprotests zu tun, so auch mit der Variante des Festklebens. Überall wurden (und werden fortlaufend) polizeiliche Strategien entwickelt, z.B. in Form von Einsatzkonzeptionen, von Handlungsanweisungen oder durch Rahmenbefehle. Dies gebietet bereits der Einsatzgrundsatz der PDV 100, wonach „sich die Polizei nicht nur auf Zeit-, sondern auch auf Sofortlagen vorzubereiten hat“11 – ohne zu wissen, wann, wo und wie sich jene Sofortlagen zutragen mögen. Das Arbeitsfeld ist komplex und kann an dieser Stelle bestenfalls einen Überblick12 auf die relevanten polizeilichen Aspekte und Fragen zulassen:

  • Die Dringlichkeit polizeilicher Maßnahmen hängt vom Gefahrengrad ab (sitzen Angeklebte „nur“ auf dem Gehweg oder gar auf einer Bundesautobahn? Gewähren die Blockierenden dabei eine Rettungsgasse oder nicht?).
  • Woran kleben die Personen – kann man sie mitsamt des Objekts bewegen oder muss man sie herauslösen bzw. -schneiden?
  • Welcher Kleber wurde benutzt? Befragung oder Durchsuchung der Person, Absuche des Umfeldes (in Wegwurfweite). 1-Komponentenkleber lassen sich mit Speise-, Mehrzweck- oder Waffen-Öl lösen, Mehr-Komponentenkleber eher nicht. Hier bedarf es anderer Mittel und ggf. spezialisierter Kräfte.
  • Erfahrungen zeigen, dass Klebemittel oft erst unmittelbar mit dem Eintreffen der Polizei aufgebracht wird und es je nach Menge des Klebstoffs und Witterung länger dauert, bis der Kleber bindet (siehe auch Ziffer 5). Dieser Zeitraum kann für das – schnellere – polizeiliche Lösen genutzt werden13.
  • Es ist ratsam, medizinisches Hilfspersonal oder einen Arzt vor Ort zu haben.
  • Für die polizeilichen Ermittlungen helfen Übersichtsfotos (Gesamteindruck zu Blockierern und Blockierten, Zuordnungen einzelner Tathandlungen, genaue Standorte der blockierten Fahrzeuge).
  • Personalienfeststellung der Blockierer und der Fahrzeugführer (als Geschädigte und Zeugen)14, Dokumentation der Blockadedauer.
  • Fortlaufende Foto-/Filmaufnahmen der polizeilichen „Lösung“ – Einsatz der Mittel, Zustand der Straße und der Körperfläche vor und nach der Ablösung (Verletzungen, Beschädigungen)?
  • Täterseitig: Festnahmen, Belehrungen, ED-Behandlungen, Fertigung von Strafanzeigen.
  • Einordnung der möglichen Versammlungslage? Gibt sich ein Versammlungsleiter zu erkennen, werden Transparente gezeigt, ist ein Versammlungsmotto ersichtlich? Kann ein Kooperationsgespräch geführt werden? Sind beschränkende Verfügungen nötig/möglich, z.B. die Aufforderung von der Fahrbahn auf den Gehweg zu verlegen? Wird die Versammlung aufgelöst?
  • Wird eine Versammlungslage bejaht, sind begleitende Luftaufnahmen (z.B. mittels Polizeidrohnen) schwierig bis unzulässig.
  • Obwohl eine polizeiliche Kommunikation mit LG und anderen Protestgruppen als schwierig oder gar aussichtlos gilt, sollte der Versuch einer Kommunikationsaufnahme nicht unversucht bleiben. Da die Gruppen durchweg medienfokussiert sind, kann es der Polizei möglicherweise gelingen, Medienvertreter als Vermittler einzubinden (win-win-Situation).
  • Mittels „Cop-Recorder“ oder verdeckten Smartphones wird regelmäßig die Ansprache der Blockierer durch die Polizei aufgezeichnet. Eine Strafbarkeit im Sinne des § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) ist dadurch i.d.R. nicht gegeben, weil es bei dieser polizeilichen Kommunikation am „nicht öffentlich gesprochenen Wort“ mangelt.
  • Bei Einsätzen im Zuge des Klimaprotests nimmt die polizeiliche (einsatzbegleitende) Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle ein. Sie ist u.a. notwendig, um der rechtlich ungeübten Öffentlichkeit erklären zu können, warum die Polizei gewisse Dinge tut oder eben nicht tut.
  • Über die strafprozessualen Maßnahmen des ersten Angriffs hinaus (Identitätsfeststellung, ED-Maßnahmen, Ermittlungen, Sicherstellung/Beschlagnahme), kann die Polizei auch im Bereich der Gefahrenabwehr (z.B. bei angekündigten Aktionen oder bei Mehrfachtätern) auf ein breites Instrumentarium zurückgreifen. Zu nennen sind hier der Platzverweis, das Aufenthaltsverbot, die Meldeauflage, die Anhalte- und Sichtkontrolle, die Identitätsfeststellung, die Sicherstellung, die Gewahrsamnahme (Präventivgewahrsam), die polizeiliche Beobachtung sowie die kurzfristige Observation.


Hinsichtlich infrage kommender Straftatbestände sei auf die umfassende Darstellung von Bock/Mischke verwiesen15. Aus polizeilicher Sicht kommen hier zudem regelmäßig die Tatbestände der gefährlichen Eingriffe in den Straßen-, Bahn- Luft- und Schiffsverkehrs16 und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte sowie Verstöße gegen die länderspezifischen Versammlungsgesetze ins Spiel17.