„Klimakleber“

Aspekte der polizeitaktischen Lagebewältigung


Von LPD Frank Ritter, Itzehoe1

 

1 Protestaktionen und der Begriff des Störers


„Sich ankleben zur Rettung des Klimas“ ist eines der polarisierenden Themen unserer Zeit. Aber auch andere neue Protestformen fordern Gesellschaft und Polizei zunehmend.


Um den Bachelor-Studierenden die Breite und die Vielfältigkeit der teils legalen, teils illegalen Protestformen und Aktivitäten rund um das Versammlungsgeschehen zu verdeutlichen, schreibt der Autor Jahr für Jahr seine Unterrichtsdatei „Störertaktiken“ fort. Zu den jüngsten Einträgen zählen hier die Besetzung von Kreuzfahrtschiffen, Farbattacken, die Zerstörung von Kunstwerken, die Blockade des internationalen Schiffsverkehrs und Anklebe-Aktionen. Der Begriff der Störertaktik stigmatisiert zugegebenermaßen, unterschlägt er doch die vielen durchaus kreativen Protestformen einer großen Zahl friedlicher Versammlungsteilnehmer2, die sich völlig unstrittig im Schutzbereich von Art. 8 GG bewegen. Generell scheint die Polizei zuweilen etwas undifferenziert mit der Bezeichnung „Störer“ umzugehen: Wer ein Grundrecht ausübt, sollte sprachlich grundsätzlich nicht in Verbindung mit störendem oder gar rechtswidrigem Verhalten gebracht werden.


Die Art und Weise, wie Versammlungsteilnehmende ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen, unterliegt mithin der sogenannten „Gestaltungs- und Typenfreiheit“3. Wo aber liegen die Grenzen des Hinnehmbaren? Wo ist die Schwelle zum Verlassen des Schutzbereiches aus Art. 8 GG überschritten? Was muss die Polizei wissen, können und machen? Die Öffentlichkeit diskutiert diese Fragen kontrovers und die einschreitende Polizei – egal ob im täglichen Präsenzdienst oder als geschlossene Einheit in BAO-Lagen – muss handlungssicher bleiben bzw. gemacht werden und mit den Entwicklungen Schritt halten.

 

2 Exemplarisches regionales Lagebild


Um in der Aus- und Fortbildung die Notwendigkeit einer intensiveren Befassung mit neuen Herausforderungen und Lösungsansätzen zu untermauern, ist es ratsam, sich an der regionalen Lage zu orientieren (also „Dinge, die hier schon passiert sind und auch mich jederzeit ereilen könnten …“). So erscheint es gar nicht nötig, inter-/nationale Lagebilder bemühen zu müssen – die jüngsten Ereignisse im eigenen Bundesland – ja, selbst im touristisch-beschaulichen Schleswig-Holstein – reichen völlig aus, um „den Ernst der Lage“ zu verdeutlichen – einige Beispiele:


Im Zuge des „Ende-Gelände-Sommercamps“ 2021 blockierten Aktivisten mit 13 Kanus den Nord-Ostsee-Kanal; der Schiffsverkehr kam für Stunden zum Erliegen. Mit Start dieser Aktion wurden bei der zuständigen Kreisversammlungsbehörde zwei Eilversammlungen angemeldet, die eine für eben jene Schiffsblockade, die zweite für eine Mahnwache am Ufer. Letztere wurde zugelassen, die Blockade hingegen durch wasserpolizeiliche Intervention beendet. Im Folgejahr konnte unweit des NOK ein LKW mit Kanus, Transparenten und schwerem Werkzeug aufgebracht werden. Beschlagnahmen hinterließen die kämpferische Aussage, dass man mit der Polizei SH noch eine Rechnung offen habe.


Mehrfach ist es in den vergangenen Jahren auch im Norden zu Brücken-Abseilaktionen auf der BAB 7 gekommen, was zu teils mehrstündiger Vollsperrung des sensiblen Transit-Nadelöhrs zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa führte.


Seit Jahresbeginn 2023 kam es zudem in SH vermehrt zu Protestaktionen der „Letzten Generation“ (LG)4. Zunächst beschränkte sich die Gruppe darauf, sich auf innerstädtischen Fahrbahnen festzukleben. Ab Ende Mai 2023 haben sich die Protestformen verändert. Insbesondere die Nordseeinsel Sylt – ein bekannter Hotspot für wohlhabende Erholungssuchende – geriet in den Fokus vielfältiger Aktionen. Die „Insel der Reichen“, also jener Klientel, die vermeintlich zu Lasten des Klimas ihren Wohlstand sichern bzw. mehren will, war in kurzer Folge Schauplatz mehrerer öffentlichkeitswirksamer Aktionen: Durch Mitglieder der LG wurde auf dem Sylter Flughafen ein Privatflugzeug mit Farbe beschädigt. Auch die Lobby eines Luxushotels in Westerland wurde mit Farbe besprüht und besetzt. Der Rasen eines Sylter Golfplatzes wurde umgegraben und bepflanzt. Zuletzt wurden Gebäudefassaden eines Juweliers, eines Bekleidungsgeschäftes und einer Galerie mit oranger Signalfarbe großflächig besprüht. Im Juni 2023 übergossen Aktivisten der LG in Neustadt/Holstein eine im Hafen liegende Jacht mit Signalfarbe und färbten das Wasser grün.


Zum Start der Sommerferien verschafften sich Aktivisten durch Zerschneiden eines Außenzauns Zugang zum Hamburger Flughafen und klebten sich auf das Flugfeld. Zahlreiche Flüge konnten nicht stattfinden und hinterließen gestrandete Urlaubsreisende in den Abflugterminals. Bereits am Gründonnerstag hatten sich Personen der LG vor dem Hamburger Elbtunnel auf die Fahrbahn der A7 geklebt und ein stundenlanges Verkehrschaos im Oster-Reiseverkehr initiiert.


Im August 2023 drang die bis dato kaum bekannte Protestgruppe „Am Boden bleiben!“ in das Sylter Flughafenareal ein und brachte für einige Zeit den Start- und Landeverkehr zum Erliegen. Die Strecke Hamburg-Sylt gilt als eine der meistbeflogenen Privatjetstrecken Deutschlands. „Jeder einzelne dieser Flüge ist ein Ausdruck von Klima-Ignoranz, absurden Privilegien und lebensfeindlichem Kapitalismus; wir bringen den Protest dahin, wo er hingehört: auf die Insel der Reichen“, so ein Auszug aus dem Rechtfertigungsstatement der Gruppe5.

 


Protestcamp auf der Insel Sylt

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