„Klimakleber“

Aspekte der polizeitaktischen Lagebewältigung


Von LPD Frank Ritter, Itzehoe1

 

1 Protestaktionen und der Begriff des Störers


„Sich ankleben zur Rettung des Klimas“ ist eines der polarisierenden Themen unserer Zeit. Aber auch andere neue Protestformen fordern Gesellschaft und Polizei zunehmend.


Um den Bachelor-Studierenden die Breite und die Vielfältigkeit der teils legalen, teils illegalen Protestformen und Aktivitäten rund um das Versammlungsgeschehen zu verdeutlichen, schreibt der Autor Jahr für Jahr seine Unterrichtsdatei „Störertaktiken“ fort. Zu den jüngsten Einträgen zählen hier die Besetzung von Kreuzfahrtschiffen, Farbattacken, die Zerstörung von Kunstwerken, die Blockade des internationalen Schiffsverkehrs und Anklebe-Aktionen. Der Begriff der Störertaktik stigmatisiert zugegebenermaßen, unterschlägt er doch die vielen durchaus kreativen Protestformen einer großen Zahl friedlicher Versammlungsteilnehmer2, die sich völlig unstrittig im Schutzbereich von Art. 8 GG bewegen. Generell scheint die Polizei zuweilen etwas undifferenziert mit der Bezeichnung „Störer“ umzugehen: Wer ein Grundrecht ausübt, sollte sprachlich grundsätzlich nicht in Verbindung mit störendem oder gar rechtswidrigem Verhalten gebracht werden.


Die Art und Weise, wie Versammlungsteilnehmende ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen, unterliegt mithin der sogenannten „Gestaltungs- und Typenfreiheit“3. Wo aber liegen die Grenzen des Hinnehmbaren? Wo ist die Schwelle zum Verlassen des Schutzbereiches aus Art. 8 GG überschritten? Was muss die Polizei wissen, können und machen? Die Öffentlichkeit diskutiert diese Fragen kontrovers und die einschreitende Polizei – egal ob im täglichen Präsenzdienst oder als geschlossene Einheit in BAO-Lagen – muss handlungssicher bleiben bzw. gemacht werden und mit den Entwicklungen Schritt halten.

 

2 Exemplarisches regionales Lagebild


Um in der Aus- und Fortbildung die Notwendigkeit einer intensiveren Befassung mit neuen Herausforderungen und Lösungsansätzen zu untermauern, ist es ratsam, sich an der regionalen Lage zu orientieren (also „Dinge, die hier schon passiert sind und auch mich jederzeit ereilen könnten …“). So erscheint es gar nicht nötig, inter-/nationale Lagebilder bemühen zu müssen – die jüngsten Ereignisse im eigenen Bundesland – ja, selbst im touristisch-beschaulichen Schleswig-Holstein – reichen völlig aus, um „den Ernst der Lage“ zu verdeutlichen – einige Beispiele:


Im Zuge des „Ende-Gelände-Sommercamps“ 2021 blockierten Aktivisten mit 13 Kanus den Nord-Ostsee-Kanal; der Schiffsverkehr kam für Stunden zum Erliegen. Mit Start dieser Aktion wurden bei der zuständigen Kreisversammlungsbehörde zwei Eilversammlungen angemeldet, die eine für eben jene Schiffsblockade, die zweite für eine Mahnwache am Ufer. Letztere wurde zugelassen, die Blockade hingegen durch wasserpolizeiliche Intervention beendet. Im Folgejahr konnte unweit des NOK ein LKW mit Kanus, Transparenten und schwerem Werkzeug aufgebracht werden. Beschlagnahmen hinterließen die kämpferische Aussage, dass man mit der Polizei SH noch eine Rechnung offen habe.


Mehrfach ist es in den vergangenen Jahren auch im Norden zu Brücken-Abseilaktionen auf der BAB 7 gekommen, was zu teils mehrstündiger Vollsperrung des sensiblen Transit-Nadelöhrs zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa führte.


Seit Jahresbeginn 2023 kam es zudem in SH vermehrt zu Protestaktionen der „Letzten Generation“ (LG)4. Zunächst beschränkte sich die Gruppe darauf, sich auf innerstädtischen Fahrbahnen festzukleben. Ab Ende Mai 2023 haben sich die Protestformen verändert. Insbesondere die Nordseeinsel Sylt – ein bekannter Hotspot für wohlhabende Erholungssuchende – geriet in den Fokus vielfältiger Aktionen. Die „Insel der Reichen“, also jener Klientel, die vermeintlich zu Lasten des Klimas ihren Wohlstand sichern bzw. mehren will, war in kurzer Folge Schauplatz mehrerer öffentlichkeitswirksamer Aktionen: Durch Mitglieder der LG wurde auf dem Sylter Flughafen ein Privatflugzeug mit Farbe beschädigt. Auch die Lobby eines Luxushotels in Westerland wurde mit Farbe besprüht und besetzt. Der Rasen eines Sylter Golfplatzes wurde umgegraben und bepflanzt. Zuletzt wurden Gebäudefassaden eines Juweliers, eines Bekleidungsgeschäftes und einer Galerie mit oranger Signalfarbe großflächig besprüht. Im Juni 2023 übergossen Aktivisten der LG in Neustadt/Holstein eine im Hafen liegende Jacht mit Signalfarbe und färbten das Wasser grün.


Zum Start der Sommerferien verschafften sich Aktivisten durch Zerschneiden eines Außenzauns Zugang zum Hamburger Flughafen und klebten sich auf das Flugfeld. Zahlreiche Flüge konnten nicht stattfinden und hinterließen gestrandete Urlaubsreisende in den Abflugterminals. Bereits am Gründonnerstag hatten sich Personen der LG vor dem Hamburger Elbtunnel auf die Fahrbahn der A7 geklebt und ein stundenlanges Verkehrschaos im Oster-Reiseverkehr initiiert.


Im August 2023 drang die bis dato kaum bekannte Protestgruppe „Am Boden bleiben!“ in das Sylter Flughafenareal ein und brachte für einige Zeit den Start- und Landeverkehr zum Erliegen. Die Strecke Hamburg-Sylt gilt als eine der meistbeflogenen Privatjetstrecken Deutschlands. „Jeder einzelne dieser Flüge ist ein Ausdruck von Klima-Ignoranz, absurden Privilegien und lebensfeindlichem Kapitalismus; wir bringen den Protest dahin, wo er hingehört: auf die Insel der Reichen“, so ein Auszug aus dem Rechtfertigungsstatement der Gruppe5.

 


Protestcamp auf der Insel Sylt

3 Versammlungsrechtliche Einordnung


Die Polizei ist gut beraten, Protestformen von Personenmehrheiten zunächst im Kontext einer Versammlung zu betrachten – losgelöst, ob eine solche im Vorwege erklärt wurde oder ob sich Personen (bei ad hoc-Lagen) als Versammlungsleitung zu erkennen geben6. Die Annahme, dass das „Festkleben auf einer Fahrbahn“ per se unfriedlich sei und damit bereits die verfassungsunmittelbare Schranke aus Art. 8 GG greife, kann nicht überzeugen7. Unabhängig von der strafrechtlichen Einordnung des Nötigungstatbestandes, ist das festgeklebte Sitzen auf der Straße ja nicht unfriedlicher als das „unfixierte Verweilen“. Unstrittig sein dürfte zudem, dass der (Klima-)Protest darauf abzielt, die kollektive Meinungsbildung in einer eindeutig öffentlichen Angelegenheit beeinflussen zu wollen. Über die Wahl der Mittel mag man geteilter Ansicht bleiben.


Derartige Protestaktionen werden im Vorwege nicht (oder bestenfalls ausnahmsweise) bei der Polizei bzw. der Versammlungsbehörde angezeigt. Es ist nicht zu erwarten, dass LG an einem angebotenen Kooperationsgespräch teilnähme oder hierbei sogar den Versammlungstyp des „Sich-auf-die-Straße-Klebens“ ins Spiel brächte. Schon Baron8 hat beschrieben, warum Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen LG und Polizei kaum möglich erscheinen. Doch auch ohne Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft darf nicht ausgeschlossen werden, dass Aktionen oder Teile davon im Schutzbereich von Art. 8 GG liegen könnten. Im Sinne des Kooperationsgebots, der Deeskalation und der versammlungsfreundlichen Verfahrensgestaltung9 sollte das Vorliegen einer Versammlung zunächst also grundsätzlich von der Polizei in Betracht gezogen werden. Grundsätzlich gilt aber: Das Versammlungsrecht ist verfassungswesentlich, aber nicht schrankenlos. Auch die Rechte Dritter sind zu schützen, z.B. das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit für die Teilnehmer des Straßenverkehrs (Mobilitätsrecht).


Nur am Rande sei hier festgestellt, dass der Begriff der Spontanversammlung häufig falsch ist (und auch von Polizeibeamten zuweilen falsch genutzt wird). Es sei auf die übliche Abgrenzung zwischen Versammlungen, Eilversammlungen und eben Spontanversammlungen verwiesen10. Wenn sich Personenmehrheiten verabreden, Transparente u.Ä. vorbereiten, ggf. vorab die Presse informieren und sich sonstige Formen des zwar kurzfristigen, aber gleichwohl organisierten Handelns erkennen lassen, ist das regelmäßig nicht mehr als „spontan“ zu bezeichnen. Auch ist kaum glaubhaft zu machen, dass man stets und ständig so viel Sekundenkleber bei sich habe, dass man sich damit jederzeit und jedenorts „spontan an irgendetwas“ festkleben könnte.


Diese Diskussion erscheint jedoch insofern müßig, als dass die sprachlich korrekte Einordnung des Versammlungstyps ja nicht zu einem Mehr oder einem Weniger an Versammlungsfreiheitsrechten führen würde.

 

4 Polizeiliches Handeln


Als in den 1960er-Jahren die Historie der Sitzblockaden-Urteile ihren Anfang nahm, galt für das Gros der Gesellschaft allein schon die Idee, sich auf die Straße zu setzen, als der Inbegriff der Unfriedlichkeit im Versammlungswesen. Davon sind wir heute weit entfernt – Sitzblockaden mit Aufstoppen des fließenden Verkehrs sind verbreitet und der Umgang damit allseits geübt. Blockierer erheben sich nach kurzer Zeit oder werden von der Polizei weggetragen.


Menschen, die festkleben, können sich aber weder erheben noch weggetragen werden.


„Lasst die doch einfach da sitzen, die werden schon sehen, was sie davon haben!“ Auch solche und ähnliche Aussagen hören Polizisten, die bei Klebe-Blockaden eingesetzt sind. Die Volksweisheit „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ ist mit dem Gefahrenabwehranspruch deutscher Polizeigesetze jedoch nicht vereinbar. Die Polizei muss hier handeln – schnell, kompetent, rechtlich einwandfrei und mit dem gebotenen Eigensicherungsmaß. Sie muss – im wahrsten Sinne des Wortes – den Fall lösen.


Bundesweit haben die Polizeibehörden – mehr oder weniger intensiv – mit den besonderen Formen des Klimaprotests zu tun, so auch mit der Variante des Festklebens. Überall wurden (und werden fortlaufend) polizeiliche Strategien entwickelt, z.B. in Form von Einsatzkonzeptionen, von Handlungsanweisungen oder durch Rahmenbefehle. Dies gebietet bereits der Einsatzgrundsatz der PDV 100, wonach „sich die Polizei nicht nur auf Zeit-, sondern auch auf Sofortlagen vorzubereiten hat“11 – ohne zu wissen, wann, wo und wie sich jene Sofortlagen zutragen mögen. Das Arbeitsfeld ist komplex und kann an dieser Stelle bestenfalls einen Überblick12 auf die relevanten polizeilichen Aspekte und Fragen zulassen:

  • Die Dringlichkeit polizeilicher Maßnahmen hängt vom Gefahrengrad ab (sitzen Angeklebte „nur“ auf dem Gehweg oder gar auf einer Bundesautobahn? Gewähren die Blockierenden dabei eine Rettungsgasse oder nicht?).
  • Woran kleben die Personen – kann man sie mitsamt des Objekts bewegen oder muss man sie herauslösen bzw. -schneiden?
  • Welcher Kleber wurde benutzt? Befragung oder Durchsuchung der Person, Absuche des Umfeldes (in Wegwurfweite). 1-Komponentenkleber lassen sich mit Speise-, Mehrzweck- oder Waffen-Öl lösen, Mehr-Komponentenkleber eher nicht. Hier bedarf es anderer Mittel und ggf. spezialisierter Kräfte.
  • Erfahrungen zeigen, dass Klebemittel oft erst unmittelbar mit dem Eintreffen der Polizei aufgebracht wird und es je nach Menge des Klebstoffs und Witterung länger dauert, bis der Kleber bindet (siehe auch Ziffer 5). Dieser Zeitraum kann für das – schnellere – polizeiliche Lösen genutzt werden13.
  • Es ist ratsam, medizinisches Hilfspersonal oder einen Arzt vor Ort zu haben.
  • Für die polizeilichen Ermittlungen helfen Übersichtsfotos (Gesamteindruck zu Blockierern und Blockierten, Zuordnungen einzelner Tathandlungen, genaue Standorte der blockierten Fahrzeuge).
  • Personalienfeststellung der Blockierer und der Fahrzeugführer (als Geschädigte und Zeugen)14, Dokumentation der Blockadedauer.
  • Fortlaufende Foto-/Filmaufnahmen der polizeilichen „Lösung“ – Einsatz der Mittel, Zustand der Straße und der Körperfläche vor und nach der Ablösung (Verletzungen, Beschädigungen)?
  • Täterseitig: Festnahmen, Belehrungen, ED-Behandlungen, Fertigung von Strafanzeigen.
  • Einordnung der möglichen Versammlungslage? Gibt sich ein Versammlungsleiter zu erkennen, werden Transparente gezeigt, ist ein Versammlungsmotto ersichtlich? Kann ein Kooperationsgespräch geführt werden? Sind beschränkende Verfügungen nötig/möglich, z.B. die Aufforderung von der Fahrbahn auf den Gehweg zu verlegen? Wird die Versammlung aufgelöst?
  • Wird eine Versammlungslage bejaht, sind begleitende Luftaufnahmen (z.B. mittels Polizeidrohnen) schwierig bis unzulässig.
  • Obwohl eine polizeiliche Kommunikation mit LG und anderen Protestgruppen als schwierig oder gar aussichtlos gilt, sollte der Versuch einer Kommunikationsaufnahme nicht unversucht bleiben. Da die Gruppen durchweg medienfokussiert sind, kann es der Polizei möglicherweise gelingen, Medienvertreter als Vermittler einzubinden (win-win-Situation).
  • Mittels „Cop-Recorder“ oder verdeckten Smartphones wird regelmäßig die Ansprache der Blockierer durch die Polizei aufgezeichnet. Eine Strafbarkeit im Sinne des § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) ist dadurch i.d.R. nicht gegeben, weil es bei dieser polizeilichen Kommunikation am „nicht öffentlich gesprochenen Wort“ mangelt.
  • Bei Einsätzen im Zuge des Klimaprotests nimmt die polizeiliche (einsatzbegleitende) Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle ein. Sie ist u.a. notwendig, um der rechtlich ungeübten Öffentlichkeit erklären zu können, warum die Polizei gewisse Dinge tut oder eben nicht tut.
  • Über die strafprozessualen Maßnahmen des ersten Angriffs hinaus (Identitätsfeststellung, ED-Maßnahmen, Ermittlungen, Sicherstellung/Beschlagnahme), kann die Polizei auch im Bereich der Gefahrenabwehr (z.B. bei angekündigten Aktionen oder bei Mehrfachtätern) auf ein breites Instrumentarium zurückgreifen. Zu nennen sind hier der Platzverweis, das Aufenthaltsverbot, die Meldeauflage, die Anhalte- und Sichtkontrolle, die Identitätsfeststellung, die Sicherstellung, die Gewahrsamnahme (Präventivgewahrsam), die polizeiliche Beobachtung sowie die kurzfristige Observation.


Hinsichtlich infrage kommender Straftatbestände sei auf die umfassende Darstellung von Bock/Mischke verwiesen15. Aus polizeilicher Sicht kommen hier zudem regelmäßig die Tatbestände der gefährlichen Eingriffe in den Straßen-, Bahn- Luft- und Schiffsverkehrs16 und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte sowie Verstöße gegen die länderspezifischen Versammlungsgesetze ins Spiel17.

 

5 Eigensicherungsaspekte


Grundsätzlich gelten beim polizeilichen Einschreiten im Zusammenhang mit Klebeaktionen die allgemeinen Empfehlungen des Leitfadens 371 (Eigensicherung im Polizeidienst). Dies bezieht sich z.B. auf das Handeln im öffentlichen Verkehrsraum (zum Teil auf befahrenen Autobahnen) oder auf den Umgang mit dem polizeilichen Gegenüber. Ergänzend könnten PVB beim Kontakt mit Klimaklebern aber mit (unbekannten) chemischen Stoffen in Kontakt geraten. Sekundenkleber sind in der Regel 1-Kompentenkleber auf Cyanacrylat-Basis. Die Aushärtung erfolgt durch Polymerisation, d.h. durch Kontakt mit Feuchtigkeit (bzw. auch Luftfeuchtigkeit). Bei einer Blockadeaktion von LG in Kiel kam es durch Kontakt einer auslaufenden Flüssigkeit mit dem Handschuh eines eingesetzten Beamten zur Verletzung seiner Hand. Dabei handelte es sich nicht um eine Verätzung, sondern um eine Verbrennung. Das Kriminaltechnische Institut der Polizei SH18 untersuchte daraufhin verschiedene Handschuh-Typen und stellte fest, dass es beim Auftragen weniger Tropfen bei einigen Materialien innerhalb von Sekunden zu starker Erwärmung kam. Hersteller von Sekundenklebern empfehlen grundsätzlich das Tragen von Schutzhandschuhen der Sicherheitsklasse EN 37419.


Ergänzend sei jedoch darauf verwiesen, dass in der Praxis auch Mehr-Komponentenkleber (z.B. Bauschaum) zum Einsatz kommen, was die Gefährdungen für einschreitende PVB potentiell erhöhen könnte. Leider ist auch nicht auszuschließen, dass Aktivisten (auf der Suche nach dem ultimativen Super-Kleber aus dem heimischen Chemie-Baukasten) mit fragwürdigen Selbstlaboraten hantieren.

 

6 Das Verhalten der Blockierten


Im Wesentlichen dürften Klimaaktionsgruppen durch Spenden finanziert sein. Anschaulich beschreibt Baron z.B. die auf Spenden aufgebaute Finanzierungsstruktur von LG20 und Bock/Mischke stellen dar, warum derartige Spenden im Regelfall nicht als strafbewährte Beihilfehandlungen zu subsumieren sind21. Klar sein dürfte aber: Wer eine Protestformation mitfinanziert, erwartet etwas von seinem Geld – er will, dass damit medienwirksame Aktionen gestaltet werden (provokant formuliert: Geldzahlung gegen individuelles Seelenheil – gewissermaßen eine moderne Variante des Ablasshandels; „Geld geben ja, aber doch bitte nicht persönlich von den nachteiligen Folgen des Protests betroffen sein!“).


„Klimaprotest ist schon in Ordnung, irgendjemand muss das ja machen und ich bin zu faul dazu“. So drückte es ein zwangsweise wartender Pkw-Fahrer aus, als er während einer Anklebe-Aktion um ein Statement für die TV-Nachrichten gebeten wurde. Diese verständnisvolle Sichtweise ist in unserer Gesellschaft bzw. Verkehrswelt wohl eher nicht sehr verbreitet. Es fällt mithin ja auch nicht schwer, sich in die Rolle der Zwangswartenden oder der finanziell Schadennehmenden hineinzuversetzen.


Die meisten Betroffenen fügen sich missmutig in ihr Schicksal, manche nehmen ihr – vermeintliches – Recht aber auch selbst in die Hand, was im letzten Jahr vermehrt zu polizeilichen Folgemaßnahmen führen musste: LKW-Fahrer steigen aus, schlagen die Festklebenden oder zerren an ihnen, PKW fahren an die Klebenden heran und verursachen Stoßstangenkontakt, es wird beleidigt und bedroht, es gibt Ausweichmanöver über belebte Gehwege, Autofahrer weichen über angrenzende Rasenflächen aus und verursachen teils erhebliche Sachschäden. Schnell ergibt sich hier der Anfangsverdacht einer Straftat und die Polizei muss dem Legalitätsprinzip Geltung verschaffen. Ob es sich im Einzelfall um straflose Fahrlässigkeit, um rechtfertigenden Notstand, um Notwehr und Nothilfe, um die Jedermanns-Rechte aus § 127 (1) StPO usw. handelt, obliegt der späteren Beurteilung der Justiz und ist nicht vor Ort durch die Polizei zu bewerten. Sie beschränkt sich auf die Aufnahme des objektiven Tatbestandes und muss für die Zukunft wohl davon ausgehen, dass sich mit dem Variantenreichtum des Klimaprotests auch die „Gegenwehr“ der Öffentlichkeit weiterentwickeln dürfte. Fakt ist: Die Aktionsformen von LG sind mit dem – in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptierten – Versammlungsagieren der Klimabewegung „fridays for future“ nicht annähernd vergleichbar.

 

7 Zusammenfassende Leitsätze


Die Komplexität des Themas nimmt zu. Gleichwohl soll an dieser Stelle eine zusammenfassende Darstellung in Form von 10 Kernaussagen bzw. Leitthesen nicht unversucht bleiben:

 

  1. Auch Klebeproteste sollten grundsätzlich im Lichte der Versammlungsfreiheitsrechte geprüft werden.
  2. Polizeiliches Handeln und polizeiliche Kommunikation unterliegen den Grundsätzen der Neutralität, der unparteilichen Amtsführung und dem Anspruch höchster Professionalität.
  3. Die Polizei muss sich durch Aus- und Fortbildung sowie durch logistische und ablauforganisatorische Maßnahmen auf Klebe-Aktionen vorbereiten und handlungssicher sein.
  4. Neben der beweissicheren Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ist die Gefahrenabwehr die zentrale Aufgabe der Polizei. Auch wenn Aktivisten sich selbst in höchste Gefahr begeben, ändert das nichts an der Pflicht zum schnellstmöglichen Einsatz aller in Betracht kommenden polizeilich-gefahrenabwehrenden Maßnahmen.
  5. Im Hinblick auf die Beweisführung und späterer Verfahren ist eine äußerst sorgfältige Tatortaufnahme, Beweissicherung und Dokumentation unabdingbar.
  6. Klebe-Aktionen und andere spektakuläre Protestformen zielen eher nicht darauf ab, über längere Zeiträume aufrechterhalten zu werden, sondern vielmehr darauf, maximale mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Durch hohes Medieninteresse wird dieses Ansinnen der Aktivisten derzeit perfekt bedient. Zunehmende Mäßigung läge im polizeilichen Interesse.
  7. Trotz schwieriger Vorzeichen sollte die Polizei nichts unversucht lassen, um mit den Akteuren von LG oder anderen Gruppen in eine (taktische) Kommunikation einzutreten.
  8. Polizeilichen Maßnahmen – insbesondere bei den herausragenden Aktionen im Bereich des Klimaprotests – werden gefilmt und zeitnah in den sozialen Medien veröffentlicht.
  9. Die Polizeigesetze des Bundes und der Länder bieten verschiedene Möglichkeiten des präventiven Vorgehens gegen „Gefährder“. Viele dieser Maßnahmen erscheinen jedoch rechtlich und organisatorisch aufwändig und sind daher mit Bedacht einzusetzen.
  10. Die offensichtliche Entschlossenheit der LG-Angehörigen, sich in der Gesellschaft zu isolieren, ihr Mut, Teile der Öffentlichkeit massiv gegen sich aufzubringen und die Aussicht, dafür persönliche staatliche Repressionen zu erfahren, lässt erwarten, dass LG vor weiteren - möglicherweise noch größeren – Aktionen nicht zurückschrecken wird.


Bildrechte: Inselverwaltung Sylt.

 

Anmerkungen

 

  1. Frank Ritter ist Leitender Polizeidirektor und Leiter des Führungsstabes der Polizeidirektion Itzehoe in Schleswig-Holstein. Bis 2021 war er Einsatzreferent der Landespolizei SH. Seit 2003 ist er Einsatzlehre-Dozent.
  2. Personenbezeichnungen sind eingeschlechtlich formuliert und gelten für alle geschlechtlichen Diversitäten.
  3. BVerfGE 69, 315 -343-; 73; 206 -243-.
  4. „Letzte Generation“ oder „last generation“ oder „Aufstand der letzten Generation (AdLG)“.
  5. Spiegel-Online: „Klimaaktivisten demonstrieren am Sylter Flughafen - in Pinguinkostümen“, abgerufen am 25.08.2023.
  6. Gibt sich keine Versammlungsleitung zu erkennen, entfaltet dies keine Rechtsfolge; die Polizei ist dann allerdings gezwungen, sich ohne „Mittler“ direkt an die Versammlungsteilnehmenden zu wenden.
  7. Zur verfassungsunmittelbaren Gewährleistungsschranke der „Friedlichkeit“ vgl. Jarass, in: Jarass/Kment, 2022, Grundgesetz; Kommentar, 17. Auflage, Art. 8, Rn. 8; Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, 2022, Versammlungsrecht; 2. Auflage, Einleitung, Rn. 55; Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, Versammlungsrecht, 5. Auflage, S. 150.
  8. Baron „Die Klimaschutzbewegung und der Linksextremismus 2.0“ (Ziffer 4 des Artikels in dieser Ausgabe).
  9. BVerfGE 69, 315 („Brokdorf-Beschluss“ v. 14.5.1985).
  10. Zu „Eil- und Spontanversammlungen“ vgl. Kniesel, in: Kniesel/Braun/Keller, Versammlungsgesetze, 18. Auflage, § 14, Rn. 11 ff.; Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, Versammlungsrecht, 5. Auflage, S. 82.
  11. PDV 100, Ziffer 1.6.1.1.
  12. Die freigegebenen Inhalte dieser Aufzählung entstammen maßgeblich den Vorarbeiten von POR Stephan Kahler, Führer der schleswig-holsteinischen Einsatzhundertschaft „Utina 1“ sowie dem „Rahmenbefehl zum Umgang mit LG“ (VS n.f.D.) – LPA SH – 1125 – 14.16/14.39, PHK Bernd Triphahn, Planungs- und Führungsgruppe.
  13. Polizeitaktisch käme ggf. auch der Einsatz von Zivilkräften in Betracht.
  14. Es ist hierbei nicht erforderlich – und wohl auch kaum umsetzbar – alle Blockierten zu erfassen. Für die Beweisführung reichen die ersten Fahrzeugreihen aus.
  15. Bock/Mischke „Die Strafbarkeit von Mitgliedern der Letzten Generation“ (Ziffer 2 des Artikels in dieser Ausgabe).
  16. §§ 315, 315 a-c StGB
  17. Auch Eigentumsdelikte sind denkbar: So kam es im Zuge des Ende-Gelände-Sommercamps im August 2022 zu einem Einbruch in einen Hamburger Baumarkt, der u.a. dem Ziel diente, Sekundenkleber zu entwenden.
  18. Die freigegebenen Aussagen dieses Abschnitts beruhen im Wesentlichen auf den Empfehlungen des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin beim Landespolizeiamt SH – Geschäftsstelle Arbeitsschutz, LPA 331, Dr. Wegner, Jürgens, Tschöke, Ihle.
  19. Einmal-Nitril-Chemikalien-Schutzhandschuhe der Kategorie III, EN ISO 374-1/Typ A EN ISO 374-5 und DIN EN 388 A2.
  20. Baron - in dieser Ausgabe, Ziffer 4.
  21. Bock/Mischke in dieser Ausgabe, Ziffern 2 und 3.