Recht und Justiz

Gemeinsames Sorgerecht – Auslegungsfehler bei Gewalt gegen Kinder

Von PD a.D. Rainer Becker, Dana Zelck und Prof. Dr. Mirko Faber, Berlin/Güstrow



Ähnlich erfolgt die Argumentation von Kritikern des sog. interkollegialen Austausches von Kinderärzten bei Anhaltspunkten auf eine Kindeswohlgefährdung. Auch hier wird verlangt, dass bei gemeinsamer Sorge beide Elternteile nur gemeinsam darüber entscheiden können, ob sich der Kinderarzt ihres Kindes mit einem Kollegen über zurückliegende Diagnosen austauschen darf. Auch hier wird nicht selten – sogar von Datenschutzbeauftragten – das Sorgerecht mit angeführt, obwohl das aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleitete Recht eines Verdächtigen, sich nicht selber belasten zu müssen, hiermit überhaupt nichts zu tun hat.


Und die unverzügliche Einbeziehung des Jugendamtes und das Berufen eines Ergänzungspflegers mag zwar auf Grund der sich abzeichnenden familiären Konflikte der Erziehungspersonen untereinander und mit ihren Kindern geboten erscheinen, aber eben nicht unter Bezugnahme auf das Sorgerecht.


Die Verfasser fragen sich, warum es auch unter Richtern so oft zu begrifflichen Fehlauslegungen oder Überdehnungen kommt, die insbesondere für betroffenen Kinder fatale Folgen haben können.

 

 

4 Nur ein Problem?


Es beginnt bereits bei dem Begriff Kindeswohlgefährdung. So reicht es Familienrichtern – logisch nachvollziehbar – grundsätzlich nicht aus, nach häuslicher Gewalt gegen den anderen Elternteil abstrakt anzuführen, dass dadurch wahrscheinlich auch die Kinder des betroffenen Paares gefährdet sein könnten. In aller Regel verlangen sie konkrete an Tatsachen festzumachende Hinweise auf die dem Kind bei Umgängen drohenden Gefahren. Und so verlangen sie völlig zu Recht belastbarere Berichte von Polizei und Jugendamt.


Nicht nachvollziehbar ist, dass oftmals und zu oft Gewalt gegen das andere Elternteil nicht als Kindeswohlgefährdung angesehen wird, wenn die Gewalt nur gegen das andere Elternteil und nicht (auch) gegen das Kind ausgeübt wurde. Mitarbeiter der Jugendämter und auch Familienrichter lassen hierbei außer Acht, dass § 10b JSG unter der Überschrift „Entwicklungsbeeinträchtigende Medien“ festlegt, dass hierzu bereits übermäßig ängstigende, Gewalt befürwortende oder das sozialethische Wertebild beeinträchtigende Medien zählen. Warum erkennt niemand, dass das hilflose Miterleben psychischer oder physischer Gewalt eines körperlich überlegenen Elternteils gegen das andere Elternteil doch wohl mindestens ebenso entwicklungsbeeinträchtigend sein dürfte wie das Konsumieren von in der Regel gespielten Darstellungen von Gewalt in Bild und Ton in Medien?


Wenn es jedoch darum geht, zu entscheiden, ob eine zumindest zeitweilige Kontaktaussetzung oder -reduzierung zum schlagenden Elternteil erfolgen soll, wird dagegen in aller Regel möglicherweise eigenen Erziehungsklischees oder pädagogischen Ideologien gefolgt und abstrakt festgestellt, dass ein (zeitweiliger) Kontaktabbruch das Kindeswohl gefährden würde, weil ein Kind beide Eltern braucht und liebt – und dies ohne die sonst geforderten konkreten an Tatsachen festzumachenden Hinweise. Dies ist wiederum nicht nur logisch nicht nachvollziehbar, dies stellt sogar einen logischen Bruch dar. Selbst Gutachter scheinen nicht selten derartigen Narrativen zu folgen, warum auch immer.

 

5 Schluss


Unsere Sprache ist bei dem Versuch, Recht zu finden und zu sprechen ein besonders wichtiges Hilfsmittel. Alle die als Richter, Jugendamtsmitarbeiter oder Polizeibeamte mit Sachverhalten zu tun haben, in denen es um das Beschreiben und Bewerten menschlichen Verhaltens und Erlebens geht, sollten sich dies immer wieder neu bewusst machen und besonders sorgfältig und bewusst mit unserer Sprache umgehen.


Es ist gut, dass auch in Berufszweigen, die nur gelegentlich mit psychischen Störungen und Erkrankungen zu tun haben, Grundwissen hierüber vermittelt wird. Es bleibt aber Grundwissen und vermag andere nicht selten unbewusst zu manipulieren. Es dürfte selbstverständlich sein, dass auch Richter, Jugendamtsmitarbeiter und Polizeibeamte manipulierbar sind.


Dabei ist es erschreckend, wenn einem Elternteil, das häusliche Gewalt durch das andere Elternteil anzeigt, hieraus abgeleitet nicht selten eine vorsätzliche Eltern-Kind-Entfremdung vorgehalten wird, weil sie/er Probleme damit hat, das Kind zu Umgängen oder Besuchen einem Schläger bzw. einer Schlägerin anzuvertrauen. Noch erschreckender ist es, dass man nicht einmal auf den Gedanken zu kommen scheint, dass doch zuvor und gerade das schlagende Elternteil die Autorität des geschlagenen Elternteils dem gemeinsamen Kind gegenüber untergräbt und so seine eigene Eltern-Kind-Entfremdung betrieben und bewiesen hat.


Die Verfasser könnten weitere Beispiele für gefährliche sprachliche Umdeutungen oder Missverständnisse durch einen inflationären Gebrauch von Fachtermini anführen wie symbiotische Beziehung, Münchhausen by Proxy und vieles mehr, alles zweifellos mögliche Störungen/Erkrankungen, aber ist es dabei realistisch, dass dies neuerdings „Massenphänomäne“ zu sein scheinen?


Und die berechtigte oder zumindest nachvollziehbare Empörung der davon Betroffenen, derartige Störungen oder Erkrankungen vorgehalten zu bekommen dann ebenfalls als Bestätigung des Vorhaltes zu bewerten, ist skandalös.

 

Anmerkungen

 

  1. Rainer Becker ist ehemaliger Polizeidirektor und Fachbereichsleiter sowie Dozent an der heutigen Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern (FHöVPR) sowie von 2013 bis 2020 Vorsitzender, seither Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe – die ständige Kindervertretung e.V.; Dana Zelck ist Journalistin und seit 2005 als freie Redakteurin beim NDR-Fernsehen und -Hörfunk tätig. Sie arbeitet seit 2022 im Bereich PR und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Kinderhilfe gemeinsam mit Rainer Becker in den Projektbereichen Justiz, Polizei, Jugendämter und Kinderrechte; Prof. Dr. Mirko Faber ist Dozent an der FHöVPR und lehrt u.a. Eingriffsrecht.
  2. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) am 12.10.2017 ratifiziert. Das Übereinkommen trat am 1.2.2018 in Kraft (BGBl 2017 II, 1026).
Seite: << zurück12