Wissenschaft  und Forschung

Führung und Führungsmythen – kritische Überlegungen

Von Dr. Viktoria Schäfer, Montabaur

 

6 Fazit


Führung beinhaltet ein vielschichtiges Geschehen, in dem sich unterschiedliche Erklärungs- und Prognoseansätze finden. Lag in früheren Führungsmodellen der Fokus insbesondere auf Eigenschaften und als dispositionell angenommenen Charakteristika von Führungskräften, so werden im Zuge der modernen Führungsforschung derartige Orientierungen und deterministische, monokausale Modelle kaum mehr vertreten. Vielmehr wird auf Basis zeitgemäßer interaktionsorientierter Modelle Führung als komplexes Prozessgeschehen konzipiert, bei dem sowohl Person- und Verhaltensvariablen auf Seiten von Führungskräften und Geführten als auch die Situations- und Anforderungscharakteristika bedeutsam sind. Hierbei wird überdies eingeräumt, dass über die Komplexität hinaus Führung beträchtliche Grade an Ambiguität aufweisen kann und auch die Kriterien für „Führungserfolge“ diskussionswürdig sind (etwa nicht nur Konzentration auf Leistungs- und Effizienzkriterien, sondern ebenso auf Aspekte der Arbeits-/Mitarbeiterzufriedenheit). „Führungsmythen“ decken sich nicht mit solch differenzierten Perspektiven, sondern rücken gleichsam „Glaubensgewissheiten“ in den Mittelpunkt, was – bei oberflächlicher Betrachtung – zunächst einmal Unsicherheiten und Ambiguitäten reduzieren kann. Dies betrifft beispielsweise die „heroische“ Führung sowie den Rationalitäts- und Erfolgsmythos der Führung. Derartige Mythen können sich weitaus stärker in Organisationen auswirken als man erwarten mag – mithin halten sie einer kritischen Prüfung nicht stand, sondern lassen sich als Pseudogewissheiten entlarven. Zudem können Offenheit und Reflexionsbereitschaft in einer Organisation deren Anfälligkeit für mythologisierende Verklärungen neutralisieren. Die Einnahme einer kritischen und reflexionsbereiten Position ist aber ebenso bei anderen und teils durch Medienberichte und Marketingmaßnahmen „gehypten“ Führungsmodellen sinnvoll. Vorliegend wurde solch eine Position anhand der Beispiele des Agilitäts- und Authentizitätsanspruchs der Führung erläutert. Geboten erscheint darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich spezifischer „weiblicher Führung“, die empirisch kaum hinreichend validiert ist und womöglich sogar Geschlechterstereotypisierungen zum Nachteil von Frauen unterliegen kann. In ihrer Gesamtheit unterstreichen die im vorliegenden Beitrag unterbreiteten Überlegungen die Folgerung, dass es ein „idealtypisches“, auf unterschiedliche Situationen und Anforderungen anwendbares Führungsverhalten nicht geben kann. Vielmehr sollte, worauf auch in der der neueren polizeilichen Führungsarbeit und -forschung hingewiesen wird, ein Schwerpunkt auf interaktionsorientierten und selbstverständlich wissenschaftlich weiter zu erforschenden Führungskonzepten sowie auf die entsprechende Reflexionsbereitschaft gelegt werden.

 

Anmerkungen

 

  1. Viktoria Schäfer ist Master of Science und wurde 2020 an der Steinbeis-Hochschule Berlin promoviert. Sie ist als Vorstandsvorsitzende und wissenschaftliche Leiterin des genossenschaftlichen Forschungsinstituts ADG Scientific-Center for Research and Cooperation mit Sitz in Montabaur tätig.
  2. Viktoria Schäfer, Bernhard Vogt, Thomas Wink & Yvonne Zimmermann (2021): Kennzeichen und Potentiale genossenschaftlicher Führung. Ergebnisse empirischer Erhebungen in Genossenschaftsbanken und Unternehmen mit kooperativ-genossenschaftlichem Hintergrund. Berlin: Köster, S. 16 (dort mit weiterführenden Literaturhinweisen).
  3. Lutz v. Rosenstiel, Erika Regnet & Michel E. Domsch (Hg.) (2014): Führung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement. 7. Aufl. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 1 (Einführungstext der Herausgeber) (1-2).
  4. Friedemann W. Nerdinger (2019): Führung von Mitarbeitern, in: Ders., Gerhard Blickle & Niclas Schaper: Arbeits- und Organisationspsychologie. 4. Aufl. Berlin: Springer, S. 96 (95-118).
  5. Lutz v. Rosenstiel  & Jürgen Wegge (2004): Führung, in: Heinz Schuler (Hg.): Organisationspsychologie – Gruppe und Organisation. Göttingen: Hogrefe, S. 494 ff. (493-558).
  6. Viktoria Schäfer, Anne Fischer & Andreas Walker (2021): Führung in Genossenschaften – Perspektiven aus Theorie und Praxis. idée coopérative Impulse, 2/2021, S. 3 (1-30).
  7. Ibd.
  8. Lutz v. Rosenstiel (2001): Führung, in: Lexikon der Psychologie, Bd. 2. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
  9. Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 29 ff.
  10. André Bodemann  (o.J.): Führung in der Pandemie – Führung mit Auftrag. URL: www.bundeswehr.de/de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/zentrum-innere-fuehrung/transkription-fuehrung-in-der-pandemie-fuehren-mit-auftrag-269722.
  11. Christian Barthel & Dirk Heidemann (2017): Einleitung – Entwicklungsphasen und Perspektiven des polizeilichen Führungsdiskurses, in: Dies. (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 3-20 (3-20).
  12. Christian Barthel (2019): Zur Diskussion des UAFEK zur „Polizeilichen Führungslehre“. URL: www.dhpol.de/microsite/dhpol-blog/fuerung_in_der_polizei/fuehrungsdiskurs-im-uafek.php; Dirk Heidemann (2022): Sehen und gesehen werden! Zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung der Führung in der Polizei. URL: www.dhpol.de/microsite/dhpol-blog/fuerung_in_der_polizei/sehen-und-gesehen-werden.php.
  13. Christian Barthel & Dirk Heidemann (2017): Die Rolle der Führungskraft, in: Dies. (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 85 ff. (85-120); Phillip Marsell (2017): Der „Mythos Motivation“ in der Polizei, in: Christian Barthel & Dirk Heidemann (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 245 ff. (245-260).
  14. Jürgen Weibler (2013): Entzauberung der Führungsmythen. München: Roman Herzog Institut (RHI-Essay, Nr. 2), S. 37.
  15. Irma Rybnikova (2014): Führungsmythen: Über die wirkmächtigen Wunschvorstellungen, in: Rainhart Lang & Irma Rybnikova: Aktuelle Führungstheorien und Konzepte. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 286 ff. (285-312), sowie Weibler (siehe Anm. 14), S. 8 ff.
  16. Rybnikova (siehe Anm. 15), S. 291 (unter Bezug auf weitere Quellen, insbes. Überlegungen des vormals an der Univ. der Bundeswehr in München und der Univ. Augsburg wirkenden Organisationspsychologen und Führungsforschers Oswald Neuberger).
  17. Schäfer/ Vogt/ Wink/ Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 67.
  18. Weibler (siehe Anm. 14), S. 39.
  19. Ibd., S. 42.
  20. Randolf Rodenstock (2013): Vorwort, in: Jürgen Weibler: Entzauberung der Führungsmythen. München: Roman Herzog Institut (RHI-Essay, Nr. 2), S. 5 (4-5).
  21. Lang/ Rybnikova (siehe Anm. 15), S. 16.
  22. Irma Rybnikova & Rainhart Lang (2020): Partizipative Führung: Auf den Spuren eines Konzeptes. Gruppe – Interaktion – Organisation: Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 51, S. 151 (141-154).
  23. Ibd., S. 152.
  24. Ibd.
  25. Jürgen Weibler (2017): Authentische Führung, in: Changement!, 9, S. 32-33 (32-33).
  26. Joanne B. Ciulla (2020): The Search for Ethics in Leadership, Business, and Beyond. Cham (CH): Springer, S. 191.
  27. Weibler (siehe Anm. 25), S. 33.
  28. Ibd.
  29. Die Berücksichtigung weiterer bzw. diverser Geschlechtsorientierungen hätte den Rahmen des vorliegenden Beitrags überdehnt, zumal auch die diesbezügliche Forschungslage derzeit noch schwer einzuordnen ist.
  30. Annette v. Alemann (2019): Mythen und Fakten zu Frauen in Führungspositionen, in: WEGE Wirtschaftsentwicklungsges. Bielefeld (Hg.): Mehr Frauen in Führung – so geht’s! Karrieren – Profile, Strukturen, Klischees. Bielefeld: WEGE, S. 41 ff. (40-43); ferner Schäfer/ Vogt/ Wink/ Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 56 f.
  31. Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 56.
  32. Katja Glaesner (2007): Geheimrezept weibliche Führung? Hintergründe, Mythen und Konzepte zum weiblichen Führungsstil – eine empirische Untersuchung beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Kassel: Kassel University Press, S. 146.
  33. V. Alemann (siehe Anm. 30), Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 54 ff.

 

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