Wissenschaft  und Forschung

Führung und Führungsmythen – kritische Überlegungen

Von Dr. Viktoria Schäfer, Montabaur

 

1 Inhalte, Zielstellung und Aufbau des Beitrags

 

Im vorliegenden Beitrag soll zunächst (Abschnitt 2) auf die Begriffsbestimmung des inhaltlich durchaus heterogenen Führungskonstrukts eingegangen werden. Ein Betrachtungsschwerpunkt liegt dabei auf der Erkenntnis, dass von einem „idealen“ Führungsstil nicht ausgegangen werden kann, sondern Führung und Führungshandeln vielmehr als dynamisches und von unterschiedlichen Anforderungen abhängiger Prozess aufgefasst werden sollten. Im weiteren Verlauf des zweiten Abschnitts werden insbesondere Vorteile eines partizipativen und den Geführten Freiheitsgrade einräumenden Führungsverhaltens erläutert. Im Anschluss werden, mit Bezug auf die neuere Führungsforschung, Überlegungen zum Führungsverständnis bei der Polizei und zu entsprechenden Herausforderungen unterbreitet (3). Gleichsam als inhaltlicher Kontrast beinhaltet der Folgeabschnitt (4) eine kritische Reflexion von „Führungsmythen“, „Modetrends“ und weiteren Konzepten der Führungspraxis. Auch die Fragestellung „Frauen und Führung“ wird aufgegriffen, wobei Modellvorstellungen einer speziellen, „weiblichen Führung“ wiederum kritisch hinterfragt werden sollen (5). Im Fazit des Beitrags (6) soll auch noch einmal kurz der Bogen zur führungsbezogenen Forschung, Lehre und Praxis innerhalb der Polizei geschlagen werden.

 

2 Führung: Zur Begriffsbestimmung eines heterogenen Konstrukts


Führung stellt ein interessantes Phänomen dar, das – in unterschiedlicher Form und Ausprägung – prinzipiell jeden in ein soziales Gefüge eingebetteten Menschen betrifft. Dieses Phänomen wird aus der Perspektive verschiedener Fachdisziplinen betrachtet und erforscht. Exemplarisch können hier die Organisationspsychologie und angewandte Managementlehre, aber ebenso die Soziologie und Politikwissenschaft genannt werden. Grundsätzlich lassen sich Führung und Führungsverhalten bzw. eine Beschäftigung mit diesem Phänomenkreis in sämtlichen Epochen der Menschheitsgeschichte und allen Kulturen nachweisen. Offenkundig ist es so, dass – wo und wie auch immer sich ein menschliches Miteinander und soziale Gruppen herausbilden – sich zugleich gewisse Formen eines ordnenden Einflusses und Einflussebenen, sei es nun als Ausprägung einer natürlichen Autorität, auf Wissen basierend oder aber aus anderen Gründen, finden.2 Auf den Punkt gebracht: „Führung ist wichtig, seit es soziales Leben auf dieser Erde gibt“3. Seitens der Organisationspsychologie und wirtschaftswissenschaftlichen Anwendungsforschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Führung ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, der einen ganz wesentlichen Anteil an der Realisierung von Zielen in Organisationen und Unternehmen hat. Die Charakterisierung von Führung als „der – wenn nicht wichtigste, so doch – für den Beobachter beeindruckendste Einflussfaktor auf das Verhalten der Mitarbeiter von Organisationen“ erscheint daher durchaus angemessen.4


Obwohl eine systematische und schließlich wissenschaftlich-empirische Auseinandersetzung mit Führung bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einsetzte und im weiteren Verlauf intensiviert wurde, konnte sich bis heute letztlich keine wirklich homogene Definition von Führung durchsetzen. Lediglich im Sinne einer pragmatischen und gezielt gestrafften Näherung lässt sich – im Sinne der insbesondere von Lutz v. Rosenstiel (gest. 2013) an der LMU München vertretenen und bis heute prägenden Führungslehre – Menschenführung als eine auf Ziele hin orientierte Beeinflussung der motivationalen Bereitschaft und des konkreten Verhaltens von Personen und Gruppen innerhalb von Organisationen kennzeichnen.5


Eigenschaftsfokussierte Ansätze, die vor allem für die frühe Führungsforschung relevant waren, werden heute kaum mehr vertreten. Diese Ansätze betonten dispositionelle, damit nicht erlernbare, sondern vielmehr stabile und situationsunabhängige Eigenschaften, durch die sich Führungspersonen maßgeblich von ihren Mitarbeitern – den zu Führenden – unterscheiden sollten. Bestimmten Eigenschaften bzw. „Trait-Konfigurationen“ (Persönlichkeitsmerkmale, Charakter, Willensstärke) wurde zudem eine unmittelbare Erfolgsträchtigkeit für das Handeln in Organisationen, Unternehmen usw. zugeschrieben. Im Mittelpunkt neuerer Führungstheorien und Rahmenmodelle stehen hingegen eher die Beziehungen zwischen Führungsperson und Geführten. Führung wird nicht statisch, etwa nur als durch die Eigenschaften einer „Führungspersönlichkeit“ determiniert aufgefasst, sondern als ein dynamisches und prozessuales Geschehen, das sich unterschiedlichen und wechselnden Situationen und Anforderungen anpassen muss. Vor allem aber resultiert Führung nach solch einem Verständnis aus Interaktionen, entsteht also „relational zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, indem diesen durch jene Freiheitsgrade ermöglicht werden“.6


Die moderne Führungsforschung und Rückmeldungen aus der Praxis zeigen ferner, dass ein gleichsam idealtypischer Führungsstil nicht existiert. Vielmehr vermengen sich im praktischen Führungshandeln, insbesondere bei Einschnitten in den situativen Anforderungen, nicht selten Elemente unterschiedlicher Führungsstile.7 Auch vor solch einem Hintergrund wird es nachvollziehbar, dass sich Führungserfolge – seien es nun wirtschaftliche Parameter oder andere Aspekte wie etwa Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden bei Mitarbeitern – nicht monokausal erklären lassen. Vielmehr gilt es, die Charakteristika der Führungssituation zu berücksichtigen und Führungsverhalten als eine Funktion der Person und der jeweiligen Situation zu begreifen. Dies wiederum bedeutet, dass dieselbe Führungskraft in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen kann und ein gleiches Führungsverhalten keineswegs in jeder Situation den gleichen Erfolg oder aber Misserfolg bewirken wird.8


Gleichwohl kann sich auch gemäß neuerer Erkenntnisse ein partizipativ orientiertes Führungsverhalten in vielen Situationen grundsätzlich bewähren. Solch eine Form der Führung ermöglicht die weiter oben bereits angesprochenen Freiheitsgrade bei Geführten und integriert zudem, wie im Fall des „Genossenschaftlichen Leaderships“, wertebewusstes Handeln. Partizipative Elemente und die Einräumung von Freiheitsgraden spielen aber beispielsweise auch bei agiler und transformationaler Führung eine wichtige Rolle. Letztgenanntes Führungsverhalten stellt darauf ab, die Geführten intrinsisch zu motivieren und deren Potentiale zur Entwicklung zu bringen sowie gemeinsam geteilte Zielbilder zu entwickeln. Leistungssteigerungen und Führungserfolgen liegt dabei ganz wesentlich eine „Transformation“ von Werten und Einstellungen in Richtung übergreifender Ziele zugrunde.9 Interessanterweise werden gezielt eingeräumte Freiheitsgrade auch im Militär (wo man zunächst einmal vor allem hierarchische Strukturen voraussetzen mag) realisiert. Bezeichnend hierfür ist das Prinzip „Führung mit Auftrag“, das insbesondere die Bundeswehr auszeichnet und das sich nach Expertenmeinung in der Vergangenheit bewährt hat. Der Kommandeur des Bundeswehr-Schulungs- und Forschungs-Zentrums für Innere Führung, Generalmajor André Bodemann, fasste Führung mit Auftrag anschaulich wie folgt zusammen: „Der militärische Vorgesetzte gibt ein Ziel aus, lässt aber auf der anderen Seite genügend Spielraum, wie man diesen Auftrag erfüllt.  Das schafft Vertrauen. Auf dem Weg zur Auftragserfüllung gibt es auch wechselnde Lagen beziehungsweise unsichere Lagen und so kann man auf diesem Weg immer wieder im Sinne der übergeordneten Führung handeln und das Ziel erreichen“10.

 

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