Führung und Führungsmythen – kritische Überlegungen

Von Dr. Viktoria Schäfer, Montabaur

 

1 Inhalte, Zielstellung und Aufbau des Beitrags

 

Im vorliegenden Beitrag soll zunächst (Abschnitt 2) auf die Begriffsbestimmung des inhaltlich durchaus heterogenen Führungskonstrukts eingegangen werden. Ein Betrachtungsschwerpunkt liegt dabei auf der Erkenntnis, dass von einem „idealen“ Führungsstil nicht ausgegangen werden kann, sondern Führung und Führungshandeln vielmehr als dynamisches und von unterschiedlichen Anforderungen abhängiger Prozess aufgefasst werden sollten. Im weiteren Verlauf des zweiten Abschnitts werden insbesondere Vorteile eines partizipativen und den Geführten Freiheitsgrade einräumenden Führungsverhaltens erläutert. Im Anschluss werden, mit Bezug auf die neuere Führungsforschung, Überlegungen zum Führungsverständnis bei der Polizei und zu entsprechenden Herausforderungen unterbreitet (3). Gleichsam als inhaltlicher Kontrast beinhaltet der Folgeabschnitt (4) eine kritische Reflexion von „Führungsmythen“, „Modetrends“ und weiteren Konzepten der Führungspraxis. Auch die Fragestellung „Frauen und Führung“ wird aufgegriffen, wobei Modellvorstellungen einer speziellen, „weiblichen Führung“ wiederum kritisch hinterfragt werden sollen (5). Im Fazit des Beitrags (6) soll auch noch einmal kurz der Bogen zur führungsbezogenen Forschung, Lehre und Praxis innerhalb der Polizei geschlagen werden.

 

2 Führung: Zur Begriffsbestimmung eines heterogenen Konstrukts


Führung stellt ein interessantes Phänomen dar, das – in unterschiedlicher Form und Ausprägung – prinzipiell jeden in ein soziales Gefüge eingebetteten Menschen betrifft. Dieses Phänomen wird aus der Perspektive verschiedener Fachdisziplinen betrachtet und erforscht. Exemplarisch können hier die Organisationspsychologie und angewandte Managementlehre, aber ebenso die Soziologie und Politikwissenschaft genannt werden. Grundsätzlich lassen sich Führung und Führungsverhalten bzw. eine Beschäftigung mit diesem Phänomenkreis in sämtlichen Epochen der Menschheitsgeschichte und allen Kulturen nachweisen. Offenkundig ist es so, dass – wo und wie auch immer sich ein menschliches Miteinander und soziale Gruppen herausbilden – sich zugleich gewisse Formen eines ordnenden Einflusses und Einflussebenen, sei es nun als Ausprägung einer natürlichen Autorität, auf Wissen basierend oder aber aus anderen Gründen, finden.2 Auf den Punkt gebracht: „Führung ist wichtig, seit es soziales Leben auf dieser Erde gibt“3. Seitens der Organisationspsychologie und wirtschaftswissenschaftlichen Anwendungsforschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Führung ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, der einen ganz wesentlichen Anteil an der Realisierung von Zielen in Organisationen und Unternehmen hat. Die Charakterisierung von Führung als „der – wenn nicht wichtigste, so doch – für den Beobachter beeindruckendste Einflussfaktor auf das Verhalten der Mitarbeiter von Organisationen“ erscheint daher durchaus angemessen.4


Obwohl eine systematische und schließlich wissenschaftlich-empirische Auseinandersetzung mit Führung bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einsetzte und im weiteren Verlauf intensiviert wurde, konnte sich bis heute letztlich keine wirklich homogene Definition von Führung durchsetzen. Lediglich im Sinne einer pragmatischen und gezielt gestrafften Näherung lässt sich – im Sinne der insbesondere von Lutz v. Rosenstiel (gest. 2013) an der LMU München vertretenen und bis heute prägenden Führungslehre – Menschenführung als eine auf Ziele hin orientierte Beeinflussung der motivationalen Bereitschaft und des konkreten Verhaltens von Personen und Gruppen innerhalb von Organisationen kennzeichnen.5


Eigenschaftsfokussierte Ansätze, die vor allem für die frühe Führungsforschung relevant waren, werden heute kaum mehr vertreten. Diese Ansätze betonten dispositionelle, damit nicht erlernbare, sondern vielmehr stabile und situationsunabhängige Eigenschaften, durch die sich Führungspersonen maßgeblich von ihren Mitarbeitern – den zu Führenden – unterscheiden sollten. Bestimmten Eigenschaften bzw. „Trait-Konfigurationen“ (Persönlichkeitsmerkmale, Charakter, Willensstärke) wurde zudem eine unmittelbare Erfolgsträchtigkeit für das Handeln in Organisationen, Unternehmen usw. zugeschrieben. Im Mittelpunkt neuerer Führungstheorien und Rahmenmodelle stehen hingegen eher die Beziehungen zwischen Führungsperson und Geführten. Führung wird nicht statisch, etwa nur als durch die Eigenschaften einer „Führungspersönlichkeit“ determiniert aufgefasst, sondern als ein dynamisches und prozessuales Geschehen, das sich unterschiedlichen und wechselnden Situationen und Anforderungen anpassen muss. Vor allem aber resultiert Führung nach solch einem Verständnis aus Interaktionen, entsteht also „relational zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, indem diesen durch jene Freiheitsgrade ermöglicht werden“.6


Die moderne Führungsforschung und Rückmeldungen aus der Praxis zeigen ferner, dass ein gleichsam idealtypischer Führungsstil nicht existiert. Vielmehr vermengen sich im praktischen Führungshandeln, insbesondere bei Einschnitten in den situativen Anforderungen, nicht selten Elemente unterschiedlicher Führungsstile.7 Auch vor solch einem Hintergrund wird es nachvollziehbar, dass sich Führungserfolge – seien es nun wirtschaftliche Parameter oder andere Aspekte wie etwa Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden bei Mitarbeitern – nicht monokausal erklären lassen. Vielmehr gilt es, die Charakteristika der Führungssituation zu berücksichtigen und Führungsverhalten als eine Funktion der Person und der jeweiligen Situation zu begreifen. Dies wiederum bedeutet, dass dieselbe Führungskraft in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen kann und ein gleiches Führungsverhalten keineswegs in jeder Situation den gleichen Erfolg oder aber Misserfolg bewirken wird.8


Gleichwohl kann sich auch gemäß neuerer Erkenntnisse ein partizipativ orientiertes Führungsverhalten in vielen Situationen grundsätzlich bewähren. Solch eine Form der Führung ermöglicht die weiter oben bereits angesprochenen Freiheitsgrade bei Geführten und integriert zudem, wie im Fall des „Genossenschaftlichen Leaderships“, wertebewusstes Handeln. Partizipative Elemente und die Einräumung von Freiheitsgraden spielen aber beispielsweise auch bei agiler und transformationaler Führung eine wichtige Rolle. Letztgenanntes Führungsverhalten stellt darauf ab, die Geführten intrinsisch zu motivieren und deren Potentiale zur Entwicklung zu bringen sowie gemeinsam geteilte Zielbilder zu entwickeln. Leistungssteigerungen und Führungserfolgen liegt dabei ganz wesentlich eine „Transformation“ von Werten und Einstellungen in Richtung übergreifender Ziele zugrunde.9 Interessanterweise werden gezielt eingeräumte Freiheitsgrade auch im Militär (wo man zunächst einmal vor allem hierarchische Strukturen voraussetzen mag) realisiert. Bezeichnend hierfür ist das Prinzip „Führung mit Auftrag“, das insbesondere die Bundeswehr auszeichnet und das sich nach Expertenmeinung in der Vergangenheit bewährt hat. Der Kommandeur des Bundeswehr-Schulungs- und Forschungs-Zentrums für Innere Führung, Generalmajor André Bodemann, fasste Führung mit Auftrag anschaulich wie folgt zusammen: „Der militärische Vorgesetzte gibt ein Ziel aus, lässt aber auf der anderen Seite genügend Spielraum, wie man diesen Auftrag erfüllt.  Das schafft Vertrauen. Auf dem Weg zur Auftragserfüllung gibt es auch wechselnde Lagen beziehungsweise unsichere Lagen und so kann man auf diesem Weg immer wieder im Sinne der übergeordneten Führung handeln und das Ziel erreichen“10.

 

 

3 Bedingungen und Herausforderungen der polizeilichen Führungsarbeit


Die Polizeiarbeit in Deutschland stellt ein interessantes Feld dar, um unterschiedliche Konzepte, Potentiale, aber auch Problemanfälligkeiten von Führung zu diskutieren. Von Experten wurde noch in jüngerer Zeit darauf hingewiesen, dass dieses Feld vergleichsweise stark ausgeprägte Hierarchien und zugleich komplexe Führungssituationen aufweist, zu deren Bewältigung eine formale Hierarchie in vielen Fällen nicht hilfreich beitragen kann. Zudem verfügte die Polizei mit dem aus den 1970er-Jahren stammenden KFS (Kooperatives Führungssystem) über ein Leitbild und eine Handlungsorientierung, das schließlich neueren Anforderungen nicht mehr gerecht werden konnte.11 Vor solch einem Hintergrund wurde in der jüngeren Zeit auf eine wissenschaftlich und organisationssoziologisch fundierte Erneuerung der polizeilichen Führungslehre hingewirkt, um auch die Bearbeitung komplexer Führungssituationen praktikabler zu machen. „Lehre“ ist dabei nicht statisch oder im Sinne eines gleichsam feststehenden „kanonischen Wissens“ gedacht.12 Vielmehr liegen auch hier interaktionsorientierte Führungskonzepte zugrunde, die eine kritische Reflexion der Rolle von Führungskräften sowie von Motivationskonzepten mit einschließen.13 Die Notwendigkeit kritischer Reflexion stellt sich, und zwar für unterschiedliche Organisationen und Unternehmen, in besonderer Weise ebenso für „Mythen, Moden, Trends“, die auf durchaus subtile und zugleich psychologisch wirksame Weise den Alltag von Führungskräften und Geführten prägen können. Auf diese Aspekte wird im nun folgenden Abschnitt eingegangen.

 

4 Führungskonzepte: „Mythen und Moden“, Trends und weitere Entwicklungen


Bei Mythen handelt es sich um Überlieferungen und erzählerisch wiedergegebene Deutungsmuster, die einen eindringlichen, in der Regel ausgesprochen anschaulichen Topos, etwa eine Götter- oder Heldengestalt, beinhalten. In ihrer Plastizität ermöglichten Mythen in alter Zeit Deutungen (Götter- und Weltbilder), die den Menschen Orientierung und eine gewisse Geborgenheit vermittelten. Auch im Bereich der Führung finden sich Mythen. Insbesondere die an der Hochschule Hamm-Lippstadt wirkende Irma Rybnikova sowie Jürgen Weibler von der Fernuniversität Hagen haben sich näher mit der Struktur und Wirkung solcher Mythen auseinandergesetzt. Demnach sind Führungsmythen keineswegs ein Relikt aus vergangen geglaubten Zeiten, sondern auch in unserer vermeintlich gänzlich „entzauberten“ Welt auffindbar und wirksam. Sie können „bedeutsame Vorstellungen über Führung, über die Wirkung von Führung und über die Rollenverteilung von Führenden wie Geführten liefern“ und „Einfluss auf das Denken und Handeln in der Führungspraxis“ nehmen.14 Frappierend ist dabei, dass diese Mythen gar nicht als solche wahrgenommen, sondern – wie selbstverständlich – verinnerlicht werden.


Im Bereich der Führung sollte die Wirkkraft der zu einem beträchtlichen Teil historisch tradierten und dann – in „modernisierter“ Form – von vielen Menschen ungefragt angenommenen „mythologischen Führungsmodelle“ nicht unterschätzt werden. Als eines von mehreren Beispielen, das von Rybnikova und Weibler unter Bezug auf weitere Quellen aufgegriffen wird,15 kann der sog. heroische Mythos dienen. Solch ein Heldenmythos betont die (vermeintlich) einzigartigen, ein erfolgreiches Führungshandeln determinierenden Charakteristika einer Führungskraft (Fähigkeiten, „Aura“ und „Charisma“, Durchsetzungskraft usw.) und kann in Extremfällen in einen regelrechten Personenkult übergehen. Abstammungsmythen heben eine angeblich besondere „genetisch“ oder „dynastisch“ fixierte Ausstattung hervor, die eine erfolgreiche Führungskraft ausmache. Mit dem Helden- und Abstammungsmythos stark verwoben ist der „Great Man“-Mythos, demzufolge „echte“, überragende Führungspersönlichkeiten bereits in ihren frühen Lebensabschnitten Kennzeichen wie enorme Energie, große Willensstärke, hohe Durchsetzungskraft, Klugheit und Überzeugungsfähigkeit aufweisen. Die Fähigkeit zur Führung, so die Annahme, liegt dispositionell allein in diesen Persönlichkeiten, während etwa das Umfeld oder Gefährten kaum eine Rolle spielen. „Great Man“-Denkweisen waren vor allem im 19. Jahrhundert dominant, lassen sich aber bis weit ins 20. Jahrhundert belegen und dürften auch heutzutage nicht gänzlich verblasst sein. Interessanterweise schlossen die historischen „Great Man“-Denkweisen, obgleich sie sich überwiegend auf Männer konzentrierten (Separatmythos der „männlichen Führung“), die Vorstellung von Frauen als erfolgreich Führende keineswegs aus („Man“ im Sinne von Mensch, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit).


Unter den „modernen“ mythologischen Führungsvorstellungen kommt dem Rationalitätsmythos sowie dem sich damit überschneidenden Erfolgsmythos Bedeutung zu. Ersterer beinhaltet die Verklärung, dass Führungskräfte Probleme stets auf Basis rational-technischer Expertise angehen, über klare Ziele und Mittel verfügen, also gleichsam Organisationen gekonnt steuernde Sozialingenieure sind. In ähnlicher Weise stellt der Erfolgsmythos darauf ab, dass eine diesbezüglich zu kennzeichnende Führungskraft auf einer quasi perfektionierten Grundlage unbegrenzter Rationalität einzig und allein den Erfolg „ihrer“ Organisation anstrebe bzw. durchsetze.16 Stellt man den Mythologisierungen die Arbeits- und Führungsrealitäten kritisch gegenüber, so wird – in Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Führungsforschung – mithin ersichtlich, dass Führungskräfte in ihrem beruflichen Handeln eben keine mythologisch verklärten „Lichtgestalten“ sind. Im Gegenteil – in vielen Situationen sehen sich Führungskräfte mit unerwarteten und komplexen Problemen sowie der Ungewissheit, wo sie selbst und andere eigentlich stehen, konfrontiert.17


Statt eine wie auch immer geartete Akzeptanz mythologischer Anmutungen und Verklärungen zu „kultivieren“ ist somit – auf ganz pragmatische Weise – zu folgern, dass Führung „viel stärker in die sie umgebenden Ereignisse eingewoben und stärker reaktiv gefordert [ist] als gemeinhin angenommen und gewünscht“.18 Die kritische Auseinandersetzung mit Führungsmythen unterstreicht also die weiter oben bereits geschilderte Position, Führung auf keinen Fall statisch, sondern relational zu konzipieren. Mit anderen Worten: Führung sollte „auf andere bezogen und mit anderen gegenseitig geformt, gedacht werden“, wobei Bedingungen des Umfelds ihre Ausformung mitbestimmen.19 Alles in allem widerspiegeln Führungsmythen Pseudogewissheiten hinsichtlich des Wesens und der Praxis von Führung. Nicht selten fußen diese Mythen auf tief verankerten Sehnsüchten und vermitteln ein trügerisches Gefühl von Orientierung und Sicherheit. Allerdings blockieren sie damit Führungsoptionen für zielführende Problemlösungen und reduzieren letztlich die Eigenverantwortlichkeit von Führungskräften für ihr Handeln. Die Kritik an Führungsmythen ebnet zugleich konstruktive Wege, indem sie zeigt, wie wichtig es ist, „Führung mutig anders zu denken“ sowie „vermeintliche – gar allein auf die Führungsperson abzielende – Erfolgsrezepte zu ignorieren und stattdessen zu sensibilisieren für den Kontext und die Eigenheiten, die mit Führung verbunden sind“.20


Wie im Fall der regelrechten Führungsmythen ist auch eine kritische, gleichwohl unbefangene Auseinandersetzung mit Moden und Trends im Bereich der Führung sinnvoll. Kritische Rückmeldungen aus Forschung und Praxis legen jedenfalls nahe, dass eine unverkennbare „Flatterhaftigkeit“ von Führungsmodellen vorliegt. Offenbar liegt alle paar Jahre ein neuer Führungsstil im Trend. Neben hierbei maßgeblichen Medien- und Marketingaktivitäten in Richtung von „Management- und Führungsmoden“ sorgen aber auch wissenschaftsimmanente Prozesse, etwa Publikationsdruck („publish or perish“), dafür, dass bestimmte Führungsmodelle für eine gewisse Zeit Auftrieb in Fachzeitschriften erhalten und in der Praxis wirksam werden können.21

 



Als ein mögliches Beispiel für derartige Trendphänomene und Entwicklungen kann die agile Führung genannt werden. Die entsprechende Agilität weist Prinzipien auf, die sich unter bestimmten Bedingungen und Anforderungen bewähren können, aber keineswegs Alleinstellungsmerkmale darstellen. Derartige Alleinstellungsmerkmale wurden allerdings im Zuge eines gewissen Agilitäts-„Hypes“ teils marketingmäßig propagiert. In der jüngeren Fachdiskussion wird hingegen durchaus kritisch darauf aufmerksam gemacht, dass agile Führung „gern als eine Ablehnung von hierarchieorientierten Organisationspraktiken hochstilisiert“ oder gar als finale Phase von Führungsmodellen, also gleichsam als deren Erfüllung, angesehen werde.22 Überdies – so die Kritik – „gerieren sich agiles Management und agile Führung als Managementrevolutionen, im konzeptionellen Kern sind es aber klassische Ideen der Führungspartizipation und Selbstorganisation in Teams, die in der traditionellen Managementlehre oft zu kurz kamen und bei denen die Agilitätsmode für einen neuen Aufwind sorgt“.23 Vieles an agiler Führung beinhalte letztlich nur unreflektierte Anleihen an anderen partizipations- und demokratieorientierten, ebenso aber auch effizienzorientierten Vorstellungen.24


Auch in Bezug auf agile Führung würde ein konstruktiver Umgang in einer angemessenen Reflexion und praktischen Anwendung der entsprechenden Konzepte bestehen. Handlungsleitend kann dabei die Erkenntnis sein, dass Agilität als inhaltlich begründbares Konzept selbstverständlich diskussionswürdig ist; so sind nach bisherigem Erkenntnisstand positive Agilitätsimpulse für die Führung insbesondere in Situationen mit hohen Graden an Ungewissheit und Volatilität möglich. Versuche einer nicht gründlich reflektierten, quasi „bausatzmäßigen“ Einführung von Agilität in Organisationen wären mithin gänzlich unangemessen und nachteilig im Hinblick auf die Qualität von Tätigkeiten und die Mitarbeiterzufriedenheit.


Schließlich sei noch auf die sog. „authentische Führung“ eingegangen, die ebenfalls nicht frei von einer gewissen Trendunterlegung ist. Authentische Führung beinhaltet insbesondere Zielvorstellungen und Normen, die durch die Führungskraft gemeinsam mit den Mitarbeitern formuliert und realisiert werden sollen, sowie eines ehrlichen Bestrebens, sich als Führungskraft selbst weiterzuentwickeln und zugleich Potenziale der Mitarbeiter zu identifizieren und zu fördern (Anbindungen an Empowerment-Konzepte). Als scharfer Gegenentwurf zu dysfunktionaler Führung erfordert – so jedenfalls das vertretene Zielbild – authentische Führung ein klares Bewusstsein für Werte und entsprechendes Handeln, und zwar im Denken, im Sprechen und im Tun. Authentisch agierende Führungskräfte sollten sich also, im Zusammenwirken mit praktizierter Selbsterkenntnis und Selbstregulation, selbst treu sein und als Vorbild für Mitarbeiter dienen.25


Sicherlich sind diese Elemente authentischer Führung im Grundsatz als konstruktiv zu erachten. Forderungen nach authentischer Führung werden aber auch kritisch kommentiert.26 So finde sich im Hinblick auf dieses Führungskonzept, das zumindest vor einigen Jahren regelrecht „hype“-geprägt wirkte, nicht selten ein allzu moralisierender, aber letztlich nicht substantiierter Anspruch. Bei einer Idealisierung authentischer Führung könne leicht die Bedeutung des Kontexts aus dem Blickfeld geraten. Experten wiesen diesbezüglich beispielsweise kritisch darauf hin, dass selbst eine glaubwürdige Führung durch einzelne Mitarbeiter in einer insgesamt strukturell defizitären und als ungerecht empfundenen Organisation letztendlich nur schwer wirkmächtig werden könne. Wiederum kann gefolgert werden, dass ein konstruktives Kennzeichen authentischer Führung zweifellos im Vertreten eigener Werte und innerer Überzeugungen liege, doch „was man dann daraus macht, mag variieren“.27 Glaubwürdiges Führungshandeln ist möglich, es gilt jedoch stets zu reflektieren, „dass Führung in die jeweilige Situation eingebettet ist“ – wesentlich sind also der „Kontext, die Struktur und die Kultur der Organisation, die ein authentisches und damit wertbasiertes Führungshandeln manchmal erleichtern und gelegentlich erschweren“28.

 

5 Spezifisch „weibliche“ Führung?


In öffentlichen Diskussionen, in der Praxis von Organisationen sowie verschiedentlich auch in Publikationen wird die Position eines spezifisch weiblichen Führungsstils vertreten (es wird für den vorliegenden Beitrag die Dichotomie männlich-weiblich zugrundegelegt – andere Geschlechtszuordnungen sind damit in keiner Weise inhaltlich zurückgestellt29). Dabei werden unter der dichotomen Perspektive weiblichen Führungskräften Charakteristika wie etwa besondere Empathie, Sensibilität im Umgang mit anderen, soziale Offenheit und wertschätzende Kommunikation zugeschrieben. Unabhängig von der Frage, inwieweit solche Attributionen empirisch überhaupt haltbar wären, kann es problematisch sein, einen solchen weiblichen Führungsstil gleichsam zu idealisieren oder Frauen auf eine bestimmte „weibliche“ Persönlichkeitskonfiguration mit entsprechenden Verhaltensweisen und Reaktionsmustern festzulegen. Denn gerade dies könnte sich womöglich nicht als karriereförderlich erweisen, sondern eher als stereotype Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster bekräftigend und damit für die betreffenden Frauen nachteilig bemerkbar machen.30


Mithin legen die Daten empirischer und methodisch fundierter Arbeiten den Schluss nahe, dass zwischen Männern und Frauen zwar partielle Unterschiede im Führungsverhalten gegeben sind, jedoch „nicht von wirklich durchgreifenden geschlechtsspezifischen Diskrepanzen ausgegangen werden sollte“.31 Lediglich exemplarisch sei auf eine Untersuchung von Katja Glaesner mit dem Titel „Geheimrezept weibliche Führung?“ verwiesen, in der auf „Hintergründe, Mythen und Konzepte zum weiblichen Führungsstil“ eingegangen wurde. Im Ergebnis dieser qualitativ orientierten Arbeit (kompakte Interviewstudie) hielt die Autorin fest, dass – abgesehen von punktuellen Diskrepanzen – keine überzeugenden Indikatoren eines „typisch weiblichen Führungsstils“ bestehen und „Unterschiede im Führungsstil generell nicht auf dem Geschlecht beruhen“.32


Solche Folgerungen sind auch vor dem Hintergrund plausibel, dass sich inhaltliche Anforderungen und praktische Zwänge im Führungsalltag für männliche und weibliche Führungskräfte gar nicht so sehr unterscheiden, sondern gleiche oder zumindest ähnliche Reaktionsweisen erfordern. Unter einem praktisch-konstruktiven Blickwinkel erscheint es somit sinnvoll, nicht auf als spezifisch weiblich gedachte Führungsaspekte abzustellen, sondern jeder Art von Benachteiligung nach Geschlecht, Ethnie oder Sozialschicht konsequent entgegenzutreten und vielmehr Handlungs- und Gestaltungsziele so festzulegen, dass Frauen berufliche Aufstiegsvoraussetzungen wie insbesondere eine gute Ausbildung und berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten nutzen können.33 Dessen ungeachtet existieren sicher Notwendigkeiten für weibliche Führungskräfte, geschlechtsspezifische Stereotypen, denen sie begegnen oder ausgesetzt sind, zu neutralisieren. Mit anderen Worten können solche Stereotype bzw. die Neigung, diese zu vermeiden bzw. zu konterkarieren, den Eindruck eines vermeintlich „weiblichen“ Führungsverhaltens erwecken.

 

 

6 Fazit


Führung beinhaltet ein vielschichtiges Geschehen, in dem sich unterschiedliche Erklärungs- und Prognoseansätze finden. Lag in früheren Führungsmodellen der Fokus insbesondere auf Eigenschaften und als dispositionell angenommenen Charakteristika von Führungskräften, so werden im Zuge der modernen Führungsforschung derartige Orientierungen und deterministische, monokausale Modelle kaum mehr vertreten. Vielmehr wird auf Basis zeitgemäßer interaktionsorientierter Modelle Führung als komplexes Prozessgeschehen konzipiert, bei dem sowohl Person- und Verhaltensvariablen auf Seiten von Führungskräften und Geführten als auch die Situations- und Anforderungscharakteristika bedeutsam sind. Hierbei wird überdies eingeräumt, dass über die Komplexität hinaus Führung beträchtliche Grade an Ambiguität aufweisen kann und auch die Kriterien für „Führungserfolge“ diskussionswürdig sind (etwa nicht nur Konzentration auf Leistungs- und Effizienzkriterien, sondern ebenso auf Aspekte der Arbeits-/Mitarbeiterzufriedenheit). „Führungsmythen“ decken sich nicht mit solch differenzierten Perspektiven, sondern rücken gleichsam „Glaubensgewissheiten“ in den Mittelpunkt, was – bei oberflächlicher Betrachtung – zunächst einmal Unsicherheiten und Ambiguitäten reduzieren kann. Dies betrifft beispielsweise die „heroische“ Führung sowie den Rationalitäts- und Erfolgsmythos der Führung. Derartige Mythen können sich weitaus stärker in Organisationen auswirken als man erwarten mag – mithin halten sie einer kritischen Prüfung nicht stand, sondern lassen sich als Pseudogewissheiten entlarven. Zudem können Offenheit und Reflexionsbereitschaft in einer Organisation deren Anfälligkeit für mythologisierende Verklärungen neutralisieren. Die Einnahme einer kritischen und reflexionsbereiten Position ist aber ebenso bei anderen und teils durch Medienberichte und Marketingmaßnahmen „gehypten“ Führungsmodellen sinnvoll. Vorliegend wurde solch eine Position anhand der Beispiele des Agilitäts- und Authentizitätsanspruchs der Führung erläutert. Geboten erscheint darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich spezifischer „weiblicher Führung“, die empirisch kaum hinreichend validiert ist und womöglich sogar Geschlechterstereotypisierungen zum Nachteil von Frauen unterliegen kann. In ihrer Gesamtheit unterstreichen die im vorliegenden Beitrag unterbreiteten Überlegungen die Folgerung, dass es ein „idealtypisches“, auf unterschiedliche Situationen und Anforderungen anwendbares Führungsverhalten nicht geben kann. Vielmehr sollte, worauf auch in der der neueren polizeilichen Führungsarbeit und -forschung hingewiesen wird, ein Schwerpunkt auf interaktionsorientierten und selbstverständlich wissenschaftlich weiter zu erforschenden Führungskonzepten sowie auf die entsprechende Reflexionsbereitschaft gelegt werden.

 

Anmerkungen

 

  1. Viktoria Schäfer ist Master of Science und wurde 2020 an der Steinbeis-Hochschule Berlin promoviert. Sie ist als Vorstandsvorsitzende und wissenschaftliche Leiterin des genossenschaftlichen Forschungsinstituts ADG Scientific-Center for Research and Cooperation mit Sitz in Montabaur tätig.
  2. Viktoria Schäfer, Bernhard Vogt, Thomas Wink & Yvonne Zimmermann (2021): Kennzeichen und Potentiale genossenschaftlicher Führung. Ergebnisse empirischer Erhebungen in Genossenschaftsbanken und Unternehmen mit kooperativ-genossenschaftlichem Hintergrund. Berlin: Köster, S. 16 (dort mit weiterführenden Literaturhinweisen).
  3. Lutz v. Rosenstiel, Erika Regnet & Michel E. Domsch (Hg.) (2014): Führung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement. 7. Aufl. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 1 (Einführungstext der Herausgeber) (1-2).
  4. Friedemann W. Nerdinger (2019): Führung von Mitarbeitern, in: Ders., Gerhard Blickle & Niclas Schaper: Arbeits- und Organisationspsychologie. 4. Aufl. Berlin: Springer, S. 96 (95-118).
  5. Lutz v. Rosenstiel  & Jürgen Wegge (2004): Führung, in: Heinz Schuler (Hg.): Organisationspsychologie – Gruppe und Organisation. Göttingen: Hogrefe, S. 494 ff. (493-558).
  6. Viktoria Schäfer, Anne Fischer & Andreas Walker (2021): Führung in Genossenschaften – Perspektiven aus Theorie und Praxis. idée coopérative Impulse, 2/2021, S. 3 (1-30).
  7. Ibd.
  8. Lutz v. Rosenstiel (2001): Führung, in: Lexikon der Psychologie, Bd. 2. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
  9. Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 29 ff.
  10. André Bodemann  (o.J.): Führung in der Pandemie – Führung mit Auftrag. URL: www.bundeswehr.de/de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/zentrum-innere-fuehrung/transkription-fuehrung-in-der-pandemie-fuehren-mit-auftrag-269722.
  11. Christian Barthel & Dirk Heidemann (2017): Einleitung – Entwicklungsphasen und Perspektiven des polizeilichen Führungsdiskurses, in: Dies. (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 3-20 (3-20).
  12. Christian Barthel (2019): Zur Diskussion des UAFEK zur „Polizeilichen Führungslehre“. URL: www.dhpol.de/microsite/dhpol-blog/fuerung_in_der_polizei/fuehrungsdiskurs-im-uafek.php; Dirk Heidemann (2022): Sehen und gesehen werden! Zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Fundierung der Führung in der Polizei. URL: www.dhpol.de/microsite/dhpol-blog/fuerung_in_der_polizei/sehen-und-gesehen-werden.php.
  13. Christian Barthel & Dirk Heidemann (2017): Die Rolle der Führungskraft, in: Dies. (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 85 ff. (85-120); Phillip Marsell (2017): Der „Mythos Motivation“ in der Polizei, in: Christian Barthel & Dirk Heidemann (Hg.): Führung in der Polizei. Bausteine für ein soziologisch informiertes Führungsverständnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 245 ff. (245-260).
  14. Jürgen Weibler (2013): Entzauberung der Führungsmythen. München: Roman Herzog Institut (RHI-Essay, Nr. 2), S. 37.
  15. Irma Rybnikova (2014): Führungsmythen: Über die wirkmächtigen Wunschvorstellungen, in: Rainhart Lang & Irma Rybnikova: Aktuelle Führungstheorien und Konzepte. Wiesbaden: Springer Gabler, S. 286 ff. (285-312), sowie Weibler (siehe Anm. 14), S. 8 ff.
  16. Rybnikova (siehe Anm. 15), S. 291 (unter Bezug auf weitere Quellen, insbes. Überlegungen des vormals an der Univ. der Bundeswehr in München und der Univ. Augsburg wirkenden Organisationspsychologen und Führungsforschers Oswald Neuberger).
  17. Schäfer/ Vogt/ Wink/ Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 67.
  18. Weibler (siehe Anm. 14), S. 39.
  19. Ibd., S. 42.
  20. Randolf Rodenstock (2013): Vorwort, in: Jürgen Weibler: Entzauberung der Führungsmythen. München: Roman Herzog Institut (RHI-Essay, Nr. 2), S. 5 (4-5).
  21. Lang/ Rybnikova (siehe Anm. 15), S. 16.
  22. Irma Rybnikova & Rainhart Lang (2020): Partizipative Führung: Auf den Spuren eines Konzeptes. Gruppe – Interaktion – Organisation: Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 51, S. 151 (141-154).
  23. Ibd., S. 152.
  24. Ibd.
  25. Jürgen Weibler (2017): Authentische Führung, in: Changement!, 9, S. 32-33 (32-33).
  26. Joanne B. Ciulla (2020): The Search for Ethics in Leadership, Business, and Beyond. Cham (CH): Springer, S. 191.
  27. Weibler (siehe Anm. 25), S. 33.
  28. Ibd.
  29. Die Berücksichtigung weiterer bzw. diverser Geschlechtsorientierungen hätte den Rahmen des vorliegenden Beitrags überdehnt, zumal auch die diesbezügliche Forschungslage derzeit noch schwer einzuordnen ist.
  30. Annette v. Alemann (2019): Mythen und Fakten zu Frauen in Führungspositionen, in: WEGE Wirtschaftsentwicklungsges. Bielefeld (Hg.): Mehr Frauen in Führung – so geht’s! Karrieren – Profile, Strukturen, Klischees. Bielefeld: WEGE, S. 41 ff. (40-43); ferner Schäfer/ Vogt/ Wink/ Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 56 f.
  31. Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 56.
  32. Katja Glaesner (2007): Geheimrezept weibliche Führung? Hintergründe, Mythen und Konzepte zum weiblichen Führungsstil – eine empirische Untersuchung beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Kassel: Kassel University Press, S. 146.
  33. V. Alemann (siehe Anm. 30), Schäfer/Vogt/Wink/Zimmermann (siehe Anm. 2), S. 54 ff.