Wissenschaft  und Forschung

Führung und Führungsmythen – kritische Überlegungen

Von Dr. Viktoria Schäfer, Montabaur

 

3 Bedingungen und Herausforderungen der polizeilichen Führungsarbeit


Die Polizeiarbeit in Deutschland stellt ein interessantes Feld dar, um unterschiedliche Konzepte, Potentiale, aber auch Problemanfälligkeiten von Führung zu diskutieren. Von Experten wurde noch in jüngerer Zeit darauf hingewiesen, dass dieses Feld vergleichsweise stark ausgeprägte Hierarchien und zugleich komplexe Führungssituationen aufweist, zu deren Bewältigung eine formale Hierarchie in vielen Fällen nicht hilfreich beitragen kann. Zudem verfügte die Polizei mit dem aus den 1970er-Jahren stammenden KFS (Kooperatives Führungssystem) über ein Leitbild und eine Handlungsorientierung, das schließlich neueren Anforderungen nicht mehr gerecht werden konnte.11 Vor solch einem Hintergrund wurde in der jüngeren Zeit auf eine wissenschaftlich und organisationssoziologisch fundierte Erneuerung der polizeilichen Führungslehre hingewirkt, um auch die Bearbeitung komplexer Führungssituationen praktikabler zu machen. „Lehre“ ist dabei nicht statisch oder im Sinne eines gleichsam feststehenden „kanonischen Wissens“ gedacht.12 Vielmehr liegen auch hier interaktionsorientierte Führungskonzepte zugrunde, die eine kritische Reflexion der Rolle von Führungskräften sowie von Motivationskonzepten mit einschließen.13 Die Notwendigkeit kritischer Reflexion stellt sich, und zwar für unterschiedliche Organisationen und Unternehmen, in besonderer Weise ebenso für „Mythen, Moden, Trends“, die auf durchaus subtile und zugleich psychologisch wirksame Weise den Alltag von Führungskräften und Geführten prägen können. Auf diese Aspekte wird im nun folgenden Abschnitt eingegangen.

 

4 Führungskonzepte: „Mythen und Moden“, Trends und weitere Entwicklungen


Bei Mythen handelt es sich um Überlieferungen und erzählerisch wiedergegebene Deutungsmuster, die einen eindringlichen, in der Regel ausgesprochen anschaulichen Topos, etwa eine Götter- oder Heldengestalt, beinhalten. In ihrer Plastizität ermöglichten Mythen in alter Zeit Deutungen (Götter- und Weltbilder), die den Menschen Orientierung und eine gewisse Geborgenheit vermittelten. Auch im Bereich der Führung finden sich Mythen. Insbesondere die an der Hochschule Hamm-Lippstadt wirkende Irma Rybnikova sowie Jürgen Weibler von der Fernuniversität Hagen haben sich näher mit der Struktur und Wirkung solcher Mythen auseinandergesetzt. Demnach sind Führungsmythen keineswegs ein Relikt aus vergangen geglaubten Zeiten, sondern auch in unserer vermeintlich gänzlich „entzauberten“ Welt auffindbar und wirksam. Sie können „bedeutsame Vorstellungen über Führung, über die Wirkung von Führung und über die Rollenverteilung von Führenden wie Geführten liefern“ und „Einfluss auf das Denken und Handeln in der Führungspraxis“ nehmen.14 Frappierend ist dabei, dass diese Mythen gar nicht als solche wahrgenommen, sondern – wie selbstverständlich – verinnerlicht werden.


Im Bereich der Führung sollte die Wirkkraft der zu einem beträchtlichen Teil historisch tradierten und dann – in „modernisierter“ Form – von vielen Menschen ungefragt angenommenen „mythologischen Führungsmodelle“ nicht unterschätzt werden. Als eines von mehreren Beispielen, das von Rybnikova und Weibler unter Bezug auf weitere Quellen aufgegriffen wird,15 kann der sog. heroische Mythos dienen. Solch ein Heldenmythos betont die (vermeintlich) einzigartigen, ein erfolgreiches Führungshandeln determinierenden Charakteristika einer Führungskraft (Fähigkeiten, „Aura“ und „Charisma“, Durchsetzungskraft usw.) und kann in Extremfällen in einen regelrechten Personenkult übergehen. Abstammungsmythen heben eine angeblich besondere „genetisch“ oder „dynastisch“ fixierte Ausstattung hervor, die eine erfolgreiche Führungskraft ausmache. Mit dem Helden- und Abstammungsmythos stark verwoben ist der „Great Man“-Mythos, demzufolge „echte“, überragende Führungspersönlichkeiten bereits in ihren frühen Lebensabschnitten Kennzeichen wie enorme Energie, große Willensstärke, hohe Durchsetzungskraft, Klugheit und Überzeugungsfähigkeit aufweisen. Die Fähigkeit zur Führung, so die Annahme, liegt dispositionell allein in diesen Persönlichkeiten, während etwa das Umfeld oder Gefährten kaum eine Rolle spielen. „Great Man“-Denkweisen waren vor allem im 19. Jahrhundert dominant, lassen sich aber bis weit ins 20. Jahrhundert belegen und dürften auch heutzutage nicht gänzlich verblasst sein. Interessanterweise schlossen die historischen „Great Man“-Denkweisen, obgleich sie sich überwiegend auf Männer konzentrierten (Separatmythos der „männlichen Führung“), die Vorstellung von Frauen als erfolgreich Führende keineswegs aus („Man“ im Sinne von Mensch, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit).


Unter den „modernen“ mythologischen Führungsvorstellungen kommt dem Rationalitätsmythos sowie dem sich damit überschneidenden Erfolgsmythos Bedeutung zu. Ersterer beinhaltet die Verklärung, dass Führungskräfte Probleme stets auf Basis rational-technischer Expertise angehen, über klare Ziele und Mittel verfügen, also gleichsam Organisationen gekonnt steuernde Sozialingenieure sind. In ähnlicher Weise stellt der Erfolgsmythos darauf ab, dass eine diesbezüglich zu kennzeichnende Führungskraft auf einer quasi perfektionierten Grundlage unbegrenzter Rationalität einzig und allein den Erfolg „ihrer“ Organisation anstrebe bzw. durchsetze.16 Stellt man den Mythologisierungen die Arbeits- und Führungsrealitäten kritisch gegenüber, so wird – in Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Führungsforschung – mithin ersichtlich, dass Führungskräfte in ihrem beruflichen Handeln eben keine mythologisch verklärten „Lichtgestalten“ sind. Im Gegenteil – in vielen Situationen sehen sich Führungskräfte mit unerwarteten und komplexen Problemen sowie der Ungewissheit, wo sie selbst und andere eigentlich stehen, konfrontiert.17


Statt eine wie auch immer geartete Akzeptanz mythologischer Anmutungen und Verklärungen zu „kultivieren“ ist somit – auf ganz pragmatische Weise – zu folgern, dass Führung „viel stärker in die sie umgebenden Ereignisse eingewoben und stärker reaktiv gefordert [ist] als gemeinhin angenommen und gewünscht“.18 Die kritische Auseinandersetzung mit Führungsmythen unterstreicht also die weiter oben bereits geschilderte Position, Führung auf keinen Fall statisch, sondern relational zu konzipieren. Mit anderen Worten: Führung sollte „auf andere bezogen und mit anderen gegenseitig geformt, gedacht werden“, wobei Bedingungen des Umfelds ihre Ausformung mitbestimmen.19 Alles in allem widerspiegeln Führungsmythen Pseudogewissheiten hinsichtlich des Wesens und der Praxis von Führung. Nicht selten fußen diese Mythen auf tief verankerten Sehnsüchten und vermitteln ein trügerisches Gefühl von Orientierung und Sicherheit. Allerdings blockieren sie damit Führungsoptionen für zielführende Problemlösungen und reduzieren letztlich die Eigenverantwortlichkeit von Führungskräften für ihr Handeln. Die Kritik an Führungsmythen ebnet zugleich konstruktive Wege, indem sie zeigt, wie wichtig es ist, „Führung mutig anders zu denken“ sowie „vermeintliche – gar allein auf die Führungsperson abzielende – Erfolgsrezepte zu ignorieren und stattdessen zu sensibilisieren für den Kontext und die Eigenheiten, die mit Führung verbunden sind“.20


Wie im Fall der regelrechten Führungsmythen ist auch eine kritische, gleichwohl unbefangene Auseinandersetzung mit Moden und Trends im Bereich der Führung sinnvoll. Kritische Rückmeldungen aus Forschung und Praxis legen jedenfalls nahe, dass eine unverkennbare „Flatterhaftigkeit“ von Führungsmodellen vorliegt. Offenbar liegt alle paar Jahre ein neuer Führungsstil im Trend. Neben hierbei maßgeblichen Medien- und Marketingaktivitäten in Richtung von „Management- und Führungsmoden“ sorgen aber auch wissenschaftsimmanente Prozesse, etwa Publikationsdruck („publish or perish“), dafür, dass bestimmte Führungsmodelle für eine gewisse Zeit Auftrieb in Fachzeitschriften erhalten und in der Praxis wirksam werden können.21