Zur Entwicklung des Versammlungsrechts im Lichte der Föderalismusreform I

Von Prof./LRD a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms

 

1 Grundlegung

 

Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Versammlungsfreiheit ist hoch, stellt sie doch oft die einzige Artikulationsmöglichkeit für Unzufriedene und damit eine wichtige Ventilfunktion sowie ein Element demokratischer Offenheit dar. Insbesondere in parlamentarischen Repräsentativsystemen hat sie die Bedeutung eines grundlegenden Funktionselements.2 Die Versammlungsfreiheit wird in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich durch Art. 8 GG gewährleistet. Danach haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Grundrechtsnorm schützt Veranstalter, Leiter und Teilnehmer von Versammlungen, soweit sie sich mit ihren Aktivitäten innerhalb der Schranken der Versammlungsfreiheit bewegen. Nach h.M.3 umfasst der verfassungsrechtliche Schutz nicht allein die eigentliche Veranstaltung, sondern auch die Vor- und Nachphase. Müsste ein Grundrechtsträger darauf gefasst sein, nicht ungehindert einen Veranstaltungsort erreichen oder verlassen zu können, so läge ein Eingriff in seine Willensfreiheit und damit in Art. 8 GG vor. Der hohe Rang der Verfassungsnorm gebietet es, auch die Entschlussfreiheit zu berücksichtigen.

 

 

2 Das Versammlungsgesetz des Bundes (BVersG)


Als eine der wesentlichen Problemstellungen im Demonstrationsgeschehen haben sich die Unvollständigkeit und fehlende Bestimmtheit des versammlungsrechtlichen Normengefüges herauskristallisiert.4 Die Adressaten hoheitlicher Eingriffsakte, aber auch Verwaltung und Gerichtsbarkeit, sind bei der Auslegung und Anwendung der fragmentarischen Bestimmungen häufig bereits gesetzessystematisch überfordert. Über grundlegende Aspekte herrscht tiefgreifende Uneinigkeit. Dabei hat das BVerfG bereits in seinem „Brokdorf-Beschluss“5 die Lückenhaftigkeit des BVersG aus dem Jahr 1953 bemängelt und klarstellende Regelungen angemahnt. Allerdings ohne durchgreifenden Erfolg, denn alle Novellierungsversuche bis hin zum Gesetz zur Zusammenführung der Regelungen über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes vom 8.12.20086 stellen Kompromissentscheidungen und defizitäre Insellösungen dar. Das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip fordert indes zwingend, dass die wesentlichen Fragen exekutiver Befugnisse vom Gesetzgeber eindeutig zu lösen sind. Durch konkrete Vorgaben sollen Gleichmäßigkeit und Neutralität im Widerstreit der Interessen gesichert werden. Es muss aus einer Befugnisnorm unmissverständlich hervorgehen, wie umfassend die Gestaltungsfreiheit der Exekutive ist. Bereits seit den 1970er-Jahren wurde über eine Novellierung des Versammlungsrechts diskutiert. Vor dem Hintergrund zunehmender Demonstrationen rechtsextremer Gruppen an symbolträchtigen Orten empfahl die IMK schließlich am 24.11.2000 eine umfassende Novellierung des BVersG.7 Zur Klärung zentraler Fragen holte das Bundesinnenministerium daraufhin zunächst ein Rechtsgutachten8 ein, legte darauf aufbauend am 12.5.2003 ein Eckpunktepapier (sog. „Schily-Papier“) vor und regte zugleich die Einrichtung einer länderoffenen Arbeitsgruppe zur fachlichen Vorbereitung einer Novellierung an. Dem folgte sodann ein erster Diskussionsentwurf der Arbeitsgruppe vom 17.11.2003, den die IMK zustimmend zur Kenntnis nahm und mit Beschluss vom 18./19.11.2004 das Fachministerium bat, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des VersG einzuleiten. Unter dem Eindruck einer für den 8.5.2005 geplanten NPD-Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin hat der Bundesgesetzgeber dann jedoch partiell verbesserte Eingriffsermächtigungen gegenüber rechtsextremistischen Versammlungen vorgezogen. Neben der Modifizierung des § 130 StGB („Volksverhetzung“) ist durch das Änderungsgesetz vom 24.3.20059 die zentrale Bestimmung des § 15 VersG ergänzt worden. Danach ist das Vorhaben einer Generalrevision seitens des Bundes mit Rücksicht auf die Verhandlungen über die Verlagerung der Gesetzgebungszuständigkeit auf die Länder nicht weiterverfolgt worden. Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 („Föderalismusreform I“10) wurde das Versammlungsrecht sodann aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes entlassen und den Ländern übertragen.

 

3 Föderalismusreform I


Durch die Föderalismusreform I wurden die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern neu geregelt. So erhielten die Länder bspw. die Zuständigkeit für den Bereich des Strafvollzugs, das Laufbahn-, Besoldungs- und Versorgungsrecht der Landes- und Kommunalbeamten sowie das Versammlungsrecht.11 Welche Folgen dies für Rechtsvorschriften hat, die auf fortgefallene Kompetenzen gestützt wurden, wird in Art. 125a GG geregelt. Die Norm betrifft Bundesrecht, das aufgrund einer Änderung der bestehenden Regelungen nicht mehr als solches erlassen werden könnte. Sie entfaltet sowohl für die Verfassungsänderungen von 1994 und 2006 als auch für künftige Änderungen Wirkung und damit auch für den Wegfall der Bundeszuständigkeit für das Versammlungsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG (a.F.). Gem. Art. 125a Abs. 1 GG gelten versammlungsspezifische Rechtsnormen als Bundesrecht fort. Sie können durch Landesrecht ersetzt werden, sie müssen es aber nicht. Über den unmittelbaren Wortlaut der Vorschrift hinaus ist der Bund zur Fortschreibung des Bundesrechts und seiner Anpassung an geänderte Verhältnisse ermächtigt, sofern die wesentlichen Elemente erhalten bleiben. Diese Kompetenz ist indes eng auszulegen. Sie endet für den Bereich eines Landes, sobald dieses von seiner Ersetzungsbefugnis Gebrauch gemacht hat.12 Die Landesgesetzgeber haben in ihrer Entscheidung zu beachten, dass der Verfassungsgeber von „Ersetzung“ und nicht von „Änderung“ spricht. Allerdings dürfte auch eine partielle „Teilersetzung“ zulässig sein. So hat der VerfGH Berlin13 festgestellt, dass diese weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur grundsätzlich in Zweifel gezogen werde.14 In der Entscheidung ging es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen Berlin vom 23.4.2013.15

 

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