Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir erinnern in dieser Jubiläumsausgabe an bedeutende Urteile zu aufsehenerregenden Ereignissen der letzten 40 Jahre.


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

Volkszählungsurteil


Auf Grundlage des Volkszählungsgesetzes sollte 1983 eine Volkszählung in Form einer Totalerhebung stattfinden. Für die Erfassung waren Beauftragte und Verbeamtete der öffentlichen Verwaltung vorgesehen und sollten von Haus zu Haus gehen; ein Registerabgleich sei zu fehleranfällig. Neben der vollständigen „Kopfzählung“ war auch die Erhebung weiterer Angaben beabsichtigt.


Es wurden mehrere Verfassungsbeschwerden eingereicht. Karlsruhe stellte letztlich per Urteil am 15.12.1983 fest, dass zahlreiche Vorschriften des Bundesgesetzes erheblich und ohne Rechtfertigung in Grundrechte des Einzelnen eingriffen. Die entsprechenden Vorschriften erklärte es für nichtig und das gesamte Bundesgesetz für verfassungswidrig, da es die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht verletzte. Das Volkszählungsurteil ist die Grundsatzentscheidung des BVerfG, mit der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde etabliert wurde (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG); der Meilenstein des Datenschutzes. (BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – Az. 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83)

 

Schlecker


Kurz vor Heilig Abend 1987 wurden die Kinder Meike und Lars der Eheleute Schlecker entführt. Drei maskierte Männer überfielen die Mutter und ihre Kinder gegen 23 Uhr in deren Haus und nahmen die Kinder als Geiseln. Die Geschwister wurden gefesselt in einer fünf Kilometer entfernten Fischerhütte festgehalten; zunächst wurden 18 Millionen DM Lösegeld gefordert. In stundenlangen Verhandlungen handelte der Vater, Anton Schlecker, die Forderungen auf 9,6 Millionen DM herunter; über diese Summe war er versichert. Am 23.12.1987, dem Tag nach der Tat, wurde das Lösegeld übergeben. Die Erpresser verschwanden mit dem Auto des Geldüberbringers und fuhren nach Ulm. Die entführten Kinder konnten sich zwischenzeitlich selbst befreien und aus der Fischerhütte fliehen.


Im Sommer 1998 wurden die Geiselnehmer zwei Wochen nach ihrem letzten Bankraub in Schleckers früherer unmittelbaren Nachbarschaft festgenommen. Denn sie hatten den damaligen Direktor dortiger Volksbank in seinem Haus überfallen. Am 22.3.1999 wurden die beiden Hauptangeklagten vom Landgericht Ulm wegen räuberischer Erpressung und erpresserischen Menschenraubes zu jeweils dreizehneinhalb Jahren Haft verurteilt. In sieben weiteren Fällen hatten die Verbrecher insgesamt knapp 16 Millionen DM erbeutet. (https://www.welt.de/print-welt/article568720/Hohe-Haftstrafen-im-Schlecker-Prozess.html, aufgerufen letztmalig am 17.3.2023)

 

Geiseldrama von Gladbeck


Mit dem Geiseldrama von Gladbeck hatte im Sommer 1988 die Bundesrepublik Deutschland ein durch die Unterstützung der Medien aufsehenerregendes Verbrechen, in dessen Verlauf drei Menschen ums Leben kamen. Ein Bankraub mit anschließender Geiselnahme begann in Gladbeck und endete nach rund 54 Stunden auf der BAB 3 bei Bad Honnef mit einem Zugriff des SEK. Die beiden Haupttäter Rösner und Degowski überfielen am 16.8.1988 eine Filiale der Deutschen Bank in einem Einkaufszentrum Gladbecks. Rösners Freundin Löblich schloss sich am Abend desselben Tages den Tätern an. Auf ihrer Flucht nahmen sie mehrmals Geiseln und fuhren mit ihnen durch das nordwestliche Deutschland sowie in die Niederlande. Sie entführten auch einen Linienbus und erschossen einen 14-Jährigen. Nach einem Aufenthalt in der Kölner Innenstadt konnten die drei Geiselnehmer am 18.8.1988 bei dem Zugriff festgenommen werden. Dabei wurde eine weitere 18-jährige Geisel – aus der Waffe Rösners – getötet. Auf der Fahrt zum Tatort kam ein 31-jährige Polizist bei einem Verkehrsunfall ums Leben.


Rösner und Degowski wurden wegen gemeinschaftlichen erpresserischen Menschenraubes und Geiselnahme mit Todesfolge verurteilt, Degowski für Mord und Rösner wegen versuchten Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Für Rösner ordneten die Richter zudem Sicherungsverwahrung an. Löblich erhielt eine neunjährige Freiheitsstrafe wegen erpresserischen Menschenraubes und Geiselnahme mit Todesfolge. (LG Essen, Urt. v. 22.3.1991 – 22 a Ks 70 Js 515/88 StA Essen, 22 a (26/88))

 

Kaufhauserpresser „Dagobert“


Arno Funke erpresste 1988 das Kaufhaus des Westens in Berlin um 500.000 DM. Nach einer gescheiterten Geldübergabe ließ er – nachdem die erste Bombe „versagt hatte“ – am 25.5.1988 im Kaufhaus nachts eine weitere Bombe detonieren, die einen Sachschaden in Höhe von 250.000 DM anrichtete. Bei der Geldübergabe erlangte er den geforderten Geldbetrag, von dem er einige Jahre lebte. Nachdem das Geld der ersten Erpressung verbraucht war, entschied er sich von 1992 bis 1994 mit der bewährten Methode zunächst eine Million, später 1,4 Millionen DM vom Karstadt-Konzern zu erpressen. Weil die Bereitschaft zur Geldübergabe durch eine Zeitungsanzeige mit dem Text „Dagobert grüßt seinen Neffen“ signalisiert werden sollte, wurde er seitdem nur noch als „Dagobert“ bezeichnet. Um die Ernsthaftigkeit seiner Forderungen zu unterstreichen, verübte er fünf Bombenanschläge und einen Brandanschlag gegen Karstadt-Kaufhäuser, bei denen eine Person leicht verletzt wurde. Im Frühjahr 1994 wurde Funke schließlich festgenommen.


Nachdem der BGH das erstinstanzliche Urteil aufgehoben hatte verhängte am 14.6.1996 das Berliner LG in zweiter Instanz eine Haftstrafe von neun Jahren wegen schwerer räuberischer Erpressung. Zudem wurde Funke zur Leistung von 2,5 Millionen DM Schadensersatz an Karstadt verurteilt. (BGH Urt. v. 30.11.1995 – 5 StR 465/95)

 

Walter Sedlmayr


Im Juli 1990 wurde Walter Sedlmayr von seinem Privatsekretär tot im Schlafzimmer seiner Wohnung in München-Schwabing aufgefunden. Der Leichnam wies mehrere Messerstiche an Hals und Nieren auf. Zudem wurde Sedlmeyer mit einem Hammer erschlagen. Durch die Ermittlungen erfuhr die Öffentlichkeit erstmals vom homosexuellen Privatleben des bürgerlichen, konservativen Volksschauspielers. Die Ermittlungen der Polizei, die auch V-Männer einsetzte, konzentrierten sich zunächst auf die Stricherszene.


Schließlich geriet der Privatsekretär durch ein laienhaft gefälschtes Testament in Verdacht und wurde später wegen Urkundenfälschung verurteilt. Im Mai 1991 wurden dann Sedlmayrs ehemaliger Ziehsohn und dessen Halbbruder festgenommen und 1993 in einem Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt, wobei bei dem Ziehsohn die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde. (LG München I, 21.05.1993 – Ks 122 Js 3887/91)

 

Reemtsma


Am 25.3.1996 überwältigten zwei Täter Jan Philipp Reemtsma auf seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese. Dort hinterließen sie einen mit einer Handgranate beschwerten Brief mit der Lösegeldforderung von 20 Millionen DM. Ihr Opfer brachten sie in den Keller eines Hauses rund 90 km von Hamburg entfernt, wo Reemtsma bis zu seiner Freilassung 33 Tage später gefangen gehalten wurde. Mindestens zwei Geldübergabeversuche scheiterten, weil die Täter Polizeipräsenz vermuteten und in Folge dessen erhöhten sie die Lösegeldforderung auf 30 Millionen DM. Angehörige des Entführten organisierten schließlich eine erfolgreiche Geldübergabe ohne Wissen der Polizei. 43 Stunden später, am 26.4.1996, wurde Reemtsma südlich von Hamburg unverletzt freigelassen.


Dank der präzisen Beschreibung Reemtsmas und guter Ermittlungsarbeit konnten drei der vier Tatbeteiligten identifizieren werden. Der Haupttäter Drach wurde 1998 in Buenos Aires verhaftet und zwei Jahre später ausgeliefert. 2001 verurteilte das LG Hamburg Drach zu 14 ½ Jahren Freiheitsstrafe. Auch die drei Mittäter wurden zur Verantwortung gezogen. Bereits 1996 wurden Koszics und Richter in Spanien verhaftet und im folgenden Jahr zu zehneinhalb bzw. fünf Jahren verurteilt. Laskowski stellte sich 1999 selbst und bekam sechs Jahre Freiheitsstrafe. (https://de.wikipedia.org/wiki/Reemtsma-Entf%C3%BChrung, aufgerufen letztmalig am 17.3.2023)

 

Fall Gäfgen


Gäfgen entschloss sich, den 11-jährigen Bankierssohn Jakob von Metzler zu entführen und von seinen Eltern ein Lösegeld zu erpressen, um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren. Dazu lockte er am 27.9.2002 den Jungen unter dem Vorwand, ihm eine von seiner Schwester in Gäfgens Auto vergessene Jacke geben zu wollen, in seine Wohnung und erstickte ihn dort. Sodann ließ er den Eltern Jakobs ein Erpresserschreiben zukommen und forderte eine Million Lösegeld. Die Erpressten informierten die Polizei. Die Leiche legte der Täter noch am Tattag in der Nähe eines Weihers einer hessischen Gemeinde ab. Als Ort der Geldübergabe wurde eine Straßenbahnhaltestelle im Frankfurter Stadtwald vereinbart. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Entführer das Geld an sich nahm, wurde er beschattet. Die Polizei stellte im Rahmen der Observation fest, dass sich Gäfgen seit mehreren Stunden nicht um sein – von der Polizei als noch lebend vermutetes – Opfer gekümmert hatte. Stattdessen bestellte er einen Neuwagen und buchte einen Urlaub mit seiner Freundin. Schließlich wurde er am 30.9.2002 am Frankfurter Flughafen festgenommen. In der polizeilichen Vernehmung verschleierte er den Verbleib und Zustand seines Opfers und beschuldigte zwei unbeteiligte Bekannte als vermeintliche Mittäter. Daraufhin ordnete der damalige Polizeivizepräsident, Wolfgang Daschner, an, dass durch Gewaltandrohung die aus seiner Sicht möglicherweise lebensrettende Aussage zum Aufenthaltsort des Elfjährigen erzwungen werden solle. Veranlasst durch die Folterandrohungen machte Gäfgen schließlich zutreffende Angaben. Die Polizei fand die Leiche Jakobs von Metzler.


Mit Urteil vom 28.7.2003 verurteilte das LG Frankfurt am Main Gäfgen wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und wegen falscher Verdächtigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und stellte dabei die besondere Schwere der Schuld fest. (LG Frankfurt am Main, Urt. v. 28.7.2003 – 5/22 Ks 2/03 3490 Js 230118/02)

 

Rudolph Moshammer


Moshammer wurde in der Nacht zum 14.1.2005 in seinem Haus im Münchner Vorort Grünwald mit einem Stromkabel erdrosselt; sein Chauffeur fand die Leiche am frühen Morgen. Moshammer hatte den ihm nicht bekannten Täter mit zu sich nach Hause genommen, wo es zunächst im Fernsehzimmer zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen kam. Schließlich fasste der Mörder den Entschluss, Moshammer zu töten, um aus dem Anwesen Geld zu entwenden. Als Moshammer ihm später beim Verlassen der Wohnung den Rücken zuwandte, schlang dieser ihm im Treppenhaus von hinten unvermittelt, das Stromkabel viermal um den Hals und riss ihn zu Boden, wo sein Opfer rücklings zum Liegen kam. Sodann stütze er seinen Fuß auf dessen Oberkörper ab und zog mit beiden Händen an einem Kabelende, bis das Kabel riss. Der Tod trat durch zentrales Regulationsversagen ein. Der Angeklagte durchsuchte sein Opfer und das Anwesen nach Stehlenswertem und verließ es mit wenigstens 200 Euro Bargeld. Am folgenden Tag nahm die Polizei einen 25-jährigen Asylbewerber fest, der bald darauf die Tat gestand. Nach Aussagen des verschuldeten und psychisch kranken Täters hatte ihn Moshammer nahe dem Münchner Hauptbahnhof angesprochen und ihm „2000 Euro Lohn für sexuelle Dienstleistungen“ in Aussicht gestellt.


Am 2.11.2005 begann in München der Prozess – Mord durch Heimtücke – gegen den geständigen Täter. Er wurde am 21.11.2005 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes und Raubes mit Todesfolge verurteilt. (LG München, Urt. v. 21.11.2005 – 1 Ks 128 Js 10073/05)