Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir erinnern in dieser Jubiläumsausgabe an bedeutende Urteile zu aufsehenerregenden Ereignissen der letzten 40 Jahre.


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

I Materielles Strafrecht


§ 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB – Besonders schwerer sexueller Übergriff; hier: Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges. Der A hatte zunächst während des Oralverkehrs mit einer Prostituierten (P) deren Kopf gegen das Autofenster geschlagen. Nachdem er deren Kopf abermals zurückgerissen hatte, hielt er sichtbar einen handelsüblichen Schraubenzieher von ca. 25 cm Länge, den er unter seinem Fahrersitz hervorgeholt hatte, in seiner linken Hand, ohne ihn „unmittelbar der P entgegenzurichten“. Nach einigen Sekunden legte er den Schraubenzieher wieder aus der Hand und begann erneut, an den Brüsten der P zu lutschen und in sie zu beißen. Sie bekam auch unter dem Eindruck des Schraubenziehers zunehmend Angst und äußerte, dass sie alles tun werde, was er wollte.


Der BGH hob die Verurteilung wegen besonders schweren sexuellen Übergriffs gem. § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB auf, weil nicht ausreichend festgestellt wurde, dass der A das gefährliche Werkzeug verwendet hat. Ein Verwenden liegt in zeitlicher Hinsicht vor, wenn das gefährliche Werkzeug zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Versuchsbeginn und Beendigung eingesetzt wird. Der strafbare Zweckeinsatz ist dann gegeben, wenn das gefährliche Werkzeug entweder als Nötigungsmittel oder bei der sexuellen Handlung eingesetzt wird. Es genügt, wenn sich das Geschehen als einheitlicher Vorgang mit Sexualbezug darstellt und die Verwendung des gefährlichen Gegenstands deshalb ihrerseits sexualbezogen ist. Kein Verwenden, sondern nur ein Beisichführen i.S.d. § 177 Abs. 7 Nr. 1 StGB ist demgegenüber gegeben, wenn das Werkzeug von dem Täter nicht als zweckgerichtetes Mittel eingesetzt wird, sondern sich das gefahrerhöhende Moment für das Tatopfer in dem körperlichen Vorhandensein des Werkzeugs bei der Tat erschöpft. (BGH, Beschl. v. 8.9.2021 – 4 StR 166/21)


§ 184i Abs. 1 StGB – Sexuelle Belästigung; hier: Herunterziehen von Hose und Unterhose. Der A zog zu zwei verschiedenen Gelegenheiten jeweils einem der neun bzw. zehn Jahre alten Geschädigten im Rahmen spielerischen Herumtobens unvermittelt Hose und Unterhose in sexueller Absicht herunter, so dass deren unbekleidete Geschlechtsteile zu sehen waren. Die geschädigten Jungen reagierten beschämt und belästigt und zogen sich die Kleidungsstücke sogleich wieder hoch.


Ein körperliches Berühren i.S.d. § 184i Abs. 1 StGB liegt jedenfalls dann vor, wenn der Täter auf das Opfer unmittelbar körperlich einwirkt. Hierfür ist im Grundsatz der Kontakt des Täters mit seinem eigenen Körper am Körper des Opfers erforderlich. Das Anfassen und Herunterziehen von körpernah getragenen Hosen und Unterhosen des Geschädigten ist taugliche Tathandlung einer sexuellen Belästigung. (BGH, Beschl. v. 9.3.2021 – 3 StR 489/20)


§ 185 StGB – Beleidigung; hier: Polizei als „Hurensöhne“. Die B hält sich zum Zwecke einer Kontrolle auf einer Polizeidienststelle auf. Als sie die Dienststelle verlässt, bezeichnet sie die mit der Kontrolle befassten Beamten, gegenüber ihrer Freundin schreiend als „Hurensöhne“.


Der Tatbestand der Beleidigung ist auch dann erfüllt, wenn die Kundgabe der Missachtung nicht unmittelbar gegenüber dem Geschädigten, sondern gegenüber einem Dritten in Bezug auf den Geschädigten erfolgt. In Abgrenzung dazu liegt ein strafloses Selbstgespräch vor, wenn die Äußerung nach der Vorstellung des Täters von niemandem gehört werden soll. (Bay-ObLG, Beschl. v. 1.3.2023 – 203 StRR 38/23)


§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Schuh als gefährliches Werkzeug. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf der zunächst nicht daran beteiligte A an den Z herantrat und ihn mit seinen Händen leicht nach hinten stieß. Anschließend versetzte er ihm unvermittelt und grundlos einen wuchtigen Faustschlag ins Gesicht, so dass der Z zu Boden stürzte. Als dieser gerade dabei war, sich wieder aufzurichten und sich in der Hocke befand, trat ihm der A schwungvoll und mit zwei Schritten Anlauf gezielt „mit seinem mit einem Turnschuh mit weicher Sohle beschuhten rechten Fuß“ wuchtig ins Gesicht. Der Z fiel infolgedessen zu Boden und blieb liegen, wobei er kurzzeitig sein Bewusstsein verlor.


Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kommt es für die Frage, ob der Schuh am Fuß des Täters als ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen ist, auf die Umstände des Einzelfalls an, u.a. auf die Beschaffenheit des Schuhs sowie darauf, mit welcher Heftigkeit und gegen welchen Körperteil getreten wurde. Ein Straßenschuh von üblicher Beschaffenheit stellt regelmäßig ein gefährliches Werkzeug dar, wenn damit einem Menschen gegen den Kopf getreten wird. Das gilt jedenfalls für Tritte in das Gesicht des Opfers. Entsprechendes ist anzunehmen, wenn der Täter Turnschuhe der heute üblichen Art trägt. (BGH, Urt. v. 25.1.2023 − 6 StR 298/22)


§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB – Besonders schwerer Fall des Diebstahls; hier: Verstärkung des Funksignals des Fahrzeugschlüssels. Verlängert der A durch die Verwendung von Verstärkern das Funksignal des Fahrzeugschlüssels (sog. Keyless-go-System) und öffnet er auf diese Weise den Pkw des Geschädigten und startet den Motor, dringt er in einen umschlossenen Raum ein, indem er den Schließmechanismus ähnlich wie mit einem Schlüssel mittels des Verstärkers ordnungswidrig zur Öffnung in Bewegung setzt. (BGH, Beschl. v. 15.3.2022 – 4 StR 52/22)


§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchdiebstahl; hier: „Falscher“ Schlüssel. Der angeklagte Vermieter (A) nutzte um in seine an eine andere Person vermietete Wohnung zu gelangen einen Wohnungsschlüssel, der auf dem Dachboden des Hauses deponiert war, ohne dass die Wohnungsmieterin davon wusste. Der A hatte nur deshalb Kenntnis davon, weil in der Vergangenheit eine Ex-Freundin von ihm dort gelebt hatte.


Ein Schlüssel ist i.S.d. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB „falsch“, wenn ihm im Tatzeitpunkt die Widmung des Berechtigten zum Öffnen des Schlosses fehlt. Behält ein Vermieter einen Schlüssel ohne Wissen des Mieters zurück, wird dieser durch die Vermietung der Wohnung entwidmet und damit „falsch“. Gleiches gilt, wenn der Vermieter selbst keine Kenntnis mehr von der Existenz eines weiteren Wohnungsschlüssels hat. Durch die Vermietung einer Wohnung einschließlich der Übergabe der Wohnungsschlüssel wird zumindest konkludent zum Ausdruck gebracht, dass nunmehr nur noch die im Besitz des Mieters befindlichen Schlüssel zur ordnungsgemäßen Öffnung der Wohnung bestimmt sind, außer der Vermieter behält mit Kenntnis des Mieters vereinbarungsgemäß einen weiteren Schlüssel. (BGH, Beschl. v. 12.10.2021 − 5 StR 219/21)


§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB – Verbotenes Kraftfahrzeugrennen; hier: Ohne Absicht zur Erreichung der höchstmöglichen Geschwindigkeit. Der Beschuldigte (B), Fahrer eines Audi A5, sollte gegen 02:00 Uhr einer allgemeinen Verkehrskontrolle unterzogen werden. Nachdem die eingesetzten Polizeibeamten etwa auf Höhe des Fahrzeughecks des B waren, fuhr er mit hoher Geschwindigkeit davon. Hierbei überfuhr B eine „Rot“ zeigende Lichtzeichenanlage. Der Fluchtversuch trug sich zunächst im Stadt- bzw. Wohngebiet zu und ging mit verschiedenen ordnungsrechtlichen Verstößen einher. B fuhr sodann auf eine Bundesstraße, – bei Geltung einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h bzw. 70 km/h – mit einer Geschwindigkeit von ca. 220 km/h. In der Folge konnte sich ein weiteres Einsatzfahrzeug vor das Fahrzeug des B setzen und diesen anhalten.


Die Absicht, die maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen, braucht nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reicht aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen. (LG Verden, Beschl. v. 9.9.2021 - 4 Qs 88/21)

 

II Prozessuales Strafrecht


§§ 102, 105 StPO – Durchsuchungsbeschluss; hier: Fotos von nackten Jungen auf seinem Smartphone. Einem Durchsuchungsbeschluss lag die Strafanzeige einer Ladenbesitzerin zugrunde, die ein Geschäft für Gebrauchtwaren betrieb. Diese kannte den Beschuldigten (B) als Stammkunden. Sie gab bei der Anzeigeerstattung an, der B habe ihr Urlaubsfotos zeigen wollen. Dabei habe er versehentlich eine falsche Datei auf seinem Smartphone angeklickt. Sie habe so sehen können, dass der B Bilder von nackten Jungen auf seinem Telefon gespeichert habe. Das Alter dieser nackten Jungen schätzte sie auf ca. sieben bis zehn Jahre. Sexuelle Handlungen habe sie nicht sehen können. Weitere Angaben dazu, was genau auf den Fotos zu sehen war, machte sie nicht. Der B sei auch nachdem er bemerkt habe, dass er offensichtlich den falschen Ordner geöffnet hatte, ganz ruhig geblieben und habe sich „nichts anmerken lassen“. Durch das AG Duisburg wurde die Durchsuchung der Person, Wohnung und der sonstigen Räume einschließlich der dazugehörigen Sachen und Behältnisse, Nebengelasse, Kraftfahrzeuge und Garagen sowie der persönlichen Behältnisse des B angeordnet.


Lediglich die Tatsache, dass der B Fotos von nackten Jungen auf seinem Smartphone gespeichert hat, reicht für die einen Anfangsverdacht, dass eine Straftat, etwa der Besitz von kinderpornographischen Inhalten gemäß § 184b Abs. 3 StGB, begangen worden ist, nicht aus. (LG Duisburg, Beschl. v. 16.4.2021 – 36 Qs-107 Js 82/20-24/21)


§§ 102, 105 StPO – Durchsuchungsbeschluss; hier: Fotos von nackten Jungen auf seinem Smartphone. Es fehlt an einem hinreichenden Anfangsverdacht für einen Durchsuchungsbeschluss gem. §§ 102, 105 StPO in einem Verfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften, wenn aufgrund der polizeilichen Ermittlungen lediglich festgestellt werden konnte, dass die Dateien über die E-Mail-Adresse des Beschuldigten hochgeladen wurden. Die zu dieser Adresse hinterlegte Rufnummer wurde der Mutter des Beschuldigten zugeordnet. Hinzu kommt, dass unter der ermittelten Wohnanschrift neben dem Beschuldigten noch vier weitere Personen amtlich gemeldet waren, von denen zumindest zwei aufgrund ihres Geschlechts und Alters potentiell als Tatverdächtige in Betracht kommen. Bei einer Gesamtwürdigung war die beantragte Durchsuchungsanordnung daher trotz der Schwere der Straftat insbesondere mit Rücksicht auf den Zeitablauf (über ein Jahr ab Hochladen der Daten) als nicht mehr verhältnismäßig anzusehen. (LG Detmold, Beschl. v. 11.4.2022 – 23 Qs 27/22)

 

III Sonstiges


§ 21 Abs. 2, 3 TTDSG – Auskunftspflicht durch Social-Media-Plattform-Betreiber; hier Beleidigung, § 185 StGB. Die Antragstellerin (Ast.) machte Auskunftsansprüche wegen eines Nutzerkontos auf Instagram geltend, dessen Inhalt sie nach ihrer Auffassung in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt hat. Die minderjährige Ast. betreibt selbst einen Account. Eine der Ast. unbekannte dritte Person eröffnete einen Account mit dem Nutzernamen „X_wurde_gehackt“ und stellte in einem mit „Nudes“ bezeichneten Ordner Bilder der Ast. ein. Dieser war öffentlich. Die Bilder zeigten eine lediglich mit Unterwäsche bekleidete junge Frau mit langen braunen Haaren, deren Gesicht jeweils durch ein Smartphone verdeckt war. Auf den Fotos waren u.a. die Äußerungen zu lesen: „Ich bin eine schlampe mit push up“. Die Ast. hat behauptet, die Fotos zeigten ihren Kopf auf einem anderen Körper. Klassenkameraden hätten sie auf den Bildern erkannt. Sie benötige die verlangten Informationen zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen den Inhaber des Nutzerkontos.


§ 21 Abs. 2 TTDSG beinhaltet eine spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage für eine Auskunftspflicht des Betreibers einer Social-Media-Plattform gegenüber den Betroffenen von Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Der Auskunftsanspruch nach § 21 TTDSG umfasst jedoch nur die Bestandsdaten (Name, E-Mail-Adresse, Telefonnummer). (OLG Schleswig, Beschl. v. 23.2.2022 – 9 Wx 23/21)


Ein lesenswerter Beitrag mit der Überschrift „Personale verdeckte Ermittlungen wegen Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte“ von Prof. Dr. Soiné finden Sie in der NStZ 2022, S. 321-327. In der NStZ 2022, S. 393-398 finden Sie auch einen gelungenen Beitrag von Dr. Magnus mit dem Titel „Fortwirken verbotener Vernehmungsmethoden (§ 136a StPO) nach unterlassener qualifizierter Belehrung“.