Entscheidung des BVerfG vom 9.12.2022 zum SOG MV

Neue Leitplanken für die Polizeigesetze


Von LPD Dirk Staack und KOK Lasse Stock-Dähling, Owschlag/Kronshagen1

 

Mit dem Beschluss vom 9.12.20222 hat das BVerfG entschieden, dass mehrere Vorschriften des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV)3 mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Das SOG MV wurde wie andere Polizeigesetze u.a. vor dem Hintergrund der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und aufgrund der Empfehlungen zur Erreichung gemeinsamer Standards bei der Terrorbekämpfung4 der 206. Konferenz der Innenminister und -senatoren (IMK) im Juni 2017 in Dresden durch Maßnahmen zur Abwehr von terroristischen Gefahren ergänzt.5 Viele dieser Maßnahmen sind auch in anderen Polizeigesetzen von Bund und Ländern enthalten und zum Teil stark an die bisherige Rechtsprechung des BVerfG6 angelehnt. Mit diesem Beschluss hat der Erste Senat des BVerfG seine Rechtsprechung konkretisiert und zum Teil fortentwickelt. Insofern dürfte nicht allein der Landesgesetzgeber in Mecklenburg-Vorpommern aufgefordert sein, sein Polizeisetz zu überarbeiten.

 

1 Die Kernaussagen der Entscheidung

 

Der vorliegende Beitrag soll anhand von ausgewählten Befugnisnormen die wesentlichen Aussagen des Beschlusses nachzeichnen und den Handlungsbedarf für die Gesetzgeber der Polizeigesetze in Bund und Ländern darstellen. Hervorzuheben sind die Aussagen des Senats über den Einsatz von Vertrauenspersonen (VP) und Verdeckten Ermittlern (VE) sowie die Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei solchen Maßnahmen, die tatbestandlichen Regelungen im Zusammenhang mit der sog. konkretisierten Gefahr, die Befugnisnorm zum heimlichen Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder Quellen-Telekommunikationsüberwachung und die damit verbundene Konkretisierung der Auslegung zum Wohnungsgrundrecht aus Art. 13 GG sowie die Aussagen zur Gesetzgebungskompetenz bei der Verfolgung künftiger Straftaten.

 

2 Kernbereichsschutz beim VE- und VP-Einsatz


In der Entscheidung des Senats werden unter anderem die bestehenden Regelungen zum Kernbereichsschutz beim Einsatz von VE und VP als verfassungsrechtlich unzureichend gerügt. In seiner Bewertung macht der Senat (in diesem Umfang erstmals) weitreichende Ausführungen zur Eingriffsintensität und entwickelt, ähnlich wie bereits in der Vergangenheit bei anderen verdeckten Datenerhebungsmaßnahmen7, ein Konzept zur Umsetzung eines effektiven Kernbereichsschutzes speziell beim Einsatz von VE und VP. Zunächst wird festgestellt, dass der Einsatz solcher, im Auftrag des Staates handelnden Personen, schon grundsätzlich den Kernbereich privater Lebensgestaltung8 tangieren kann.


Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG besteht darin, dass die Person ein aufgebautes oder bereits bestehendes schutzwürdiges Vertrauensverhältnis dergestalt ausnutzt, dass Informationen beim Grundrechtsträger erhoben werden, die er dem Staat normalerweise nicht preisgegeben hätte.9 Dabei wird gerade im Fall, dass auf diese Weise Geheimhaltungsinteressen überwunden werden, von einer sehr hohen Eingriffsintensität ausgegangen. Interessanterweise stellt der Senat an dieser Stelle klar, dass er zumindest zwischen dem dauerhaften Einsatz eines VE und einer VP keinen wesentlichen Unterschied im Hinblick auf die Eingriffsintensität sieht.10 Entscheidend für die potenzielle Kernbereichsrelevanz ist vielmehr die Art und Tiefe des Verhältnisses. Je tiefer die vermeintliche Vertrauensbeziehung greift, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Inhalte aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Besonders wahrscheinlich ist die Kernbereichsrelevanz bei einer möglicherweise aktiven Einflussnahme im Leben des Grundrechtsträgers, die einen wesentlichen Unterschied zu passiven, technisch-basierten Überwachungsmaßnahmen (z.B. der Telekommunikationsüberwachung) ausmacht.11


Als besondere Feststellung von weitreichender Bedeutung ist zu bemerken, dass der Senat auch Konstellationen benennt, bei denen der Einsatz von VE oder VP ohne jegliche Berücksichtigung des Informationsgehalts eine Kernbereichsrelevanz entfalten kann. Dies ist der Fall, wenn „zum Erhalt oder Aufbau des Vertrauensverhältnisses intime Beziehungen oder vergleichbar engste Bindungen […]“ aufgebaut oder fortgeführt werden. Ein solches staatlich veranlasstes Eingehen oder Weiterführen von beispielsweise Liebesbeziehungen kann tief in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifen, da der Grundrechtsträger im privatesten Bereich über Motivation und sogar Identität des Gegenübers getäuscht wird. Somit kommt es an dieser Stelle nicht auf die möglicherweise erhobenen Informationen, sondern bereits im Vorfeld auf die Form und Intensität der Beziehung an, die für sich genommen schon kernbereichsrelevant ist und damit frei von jedem staatlichen Zugriff sein muss.


Auf Grundlage der beschriebenen potenziellen Kernbereichsrelevanz ist ein Schutzsystem nötig, das auf mehreren Ebenen dem Kernbereichsschutz effektiv Rechnung trägt.12 Zum einen muss bereits auf der Ebene der Datenerhebung sichergestellt werden, dass es nach Möglichkeit gar nicht erst zur Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen kommt. So müssen gezielte Datenerhebungen aus dem Kernbereich sowie die oben beschriebenen, bereits der Art nach kernbereichsrelevante Beziehungen schon im Vorfeld ausgeschlossen werden. Auch muss durch eine vorgelagerte Prüfung versucht werden, kernbereichsrelevante Gespräche und Situationen zu vermeiden, sofern dies mit praktisch zu bewältigendem Aufwand möglich ist. Schließlich ist auch ein Abbruchgebot erforderlich, falls trotzdem kernbereichsrelevante Informationen erhoben werden oder sich das Verhältnis im Laufe des Einsatzes in eine oben beschriebene, zu private oder gar intime Richtung entwickeln sollte.13


Neben den Sicherungsmaßnahmen auf der Ebene der Erhebung sind nach Ansicht des Senats aber auch Maßnahmen auf der Aus- und Verwertungsebene zu treffen. So muss zunächst der VE bzw. die VP selbst prüfen, ob die Weitergabe an die VE-/VP-Führung aufgrund der Kernbereichsrelevanz überhaupt möglich ist. Bei einer Weitergabe muss dann die VE-/VP-Führung ihrerseits prüfen, ob eine Kernbereichsrelevanz bei den erhobenen Informationen vorliegt. Darüber hinaus bringt der Senat die Möglichkeit einer weiteren Prüfungsinstanz in Form einer „unabhängigen Stelle“ mit ein. Diese ist zwar bei hoher Verlässlichkeit der ersten beiden Prüfungsinstanzen entbehrlich, besonders in Zweifelsfällen kann sie aber die von Verfassungs wegen verfahrensrechtliche Sicherung des Kernbereichs garantieren.


Die allgemeinen Regelungen zum Kernbereichsschutz bei verdeckten Datenerhebungsmaßnahmen gem. § 26a SOG MV, welche auch für den Einsatz von VE und VP gelten, genügen den dargestellten Anforderungen an den Kernbereichsschutz nicht.


Hinsichtlich der Erhebungsebene richtet der Senat ein besonderes Augenmerk auf das Abbruchgebot. Eine vom Gesetzgeber beschriebene Ausnahme dieses Abbruchgebots gem. § 26a Abs. 3 SOG MV bei Gefährdung der Polizeivollzugsbeamtin oder des Polizeivollzugsbeamten oder der VP sowie deren Weiterverwendung ist zwar im Grundsatz nicht zu beanstanden, jedoch muss diese Gefährdung konkretisiert und so angehoben werden, dass die Ausnahme des Abbruchgebots nicht bereits bei Gefährdungen auf Bagatellebene greift. Insbesondere bei verfassungskonformer Ausgestaltung dieser Ausnahme müssen auf der Aus- und Verwertungsebene speziell auf diese Maßnahmen zugeschnittene, oben beschriebene Sicherungsvorkehrungen implementiert werden, die in der bestehenden Regelung gänzlich fehlen.


Die zu allgemeine Formulierung der Kernbereichsregelung zeigt sich auch in der Begründung des Landtags MV zur Einführung des § 26a SOG MV.14 Der Gesetzgeber orientierte sich zwar am § 100d StPO, nimmt aber in der Begründung zu den einzelnen Absätzen kaum Bezug zu konkreten Datenerhebungsmaßnahmen, sondern bleibt bei allgemeinen Ausführungen.15 Selbst bei der Begründung zur oben beschriebenen Ausnahme zum Abbruchgebot bezieht sich der Gesetzgeber nicht etwa auf den VE-/VP-Einsatz, sondern auf das Beispiel einer Telekommunikationsüberwachung.

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