Kinder im Ermittlungsverfahren

Möglichkeiten und Grenzen der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen (Teil 1)


Von KOK`in & Ass. jur. Julia Luther, Kiel1

 

1 Einleitung


Im Herbst 2020 ging ein Fall durch die Medien, der für einen Aufschrei sorgte: Nachdem ein Streit unter Sechsjährigen in einem Berliner Hort durch die dortigen Aufsichtspersonen nicht geschlichtet werden konnte und der Vater eines Jungen angerufen werden sollte, um seinen Sohn abzuholen, soll dieser einer Erzieherin auf die Hand geschlagen haben. Die Folge? Die Betreuungseinrichtung erstattete Anzeige wegen Körperverletzung – und die Berliner Polizei nahm die Ermittlungen auf - der Junge wurde als Beschuldigter vorgeladen.2 Kann das sein?


Kinder stehen in Deutschland unter einem besonderen rechtlichen Schutz. Das wird u.a. dann deutlich, wenn ein Kind etwas macht, wodurch es den Tatbestand einer strafgesetzlichen Verbotsnorm realisiert: Es kann für einen solchen Verstoß nicht zur Verantwortung gezogen werden, da es vor dem Gesetz als schuldunfähig gilt. Darum darf auch die Polizei auch kein Ermittlungsverfahren gegen es führen.


Bisweilen wirft das Probleme auf, da es aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden aus verschiedenen Gründen geboten erscheinen kann, strafprozessuale Maßnahmen durchzuführen. Dies kann der Fall sein, wenn die Identität oder das Alter des Tatverdächtigen nicht feststeht, da bspw. lediglich mündliche Angaben hierzu vorliegen. Können diese Angaben beim Verdacht der Strafunmündigkeit im Rahmen des Ermittlungsverfahrens verifiziert werden? Des Weiteren gibt es Konstellationen, in den Erwachsene oder Heranwachsende die Strafunmündigkeit von Kindern für sich ausnutzen und diese für sich Straftaten begehen lassen. Wenn Kinder als unmittelbar Handelnde festgestellt werden, stellt sich die Frage, ob Maßnahmen ergriffen werden können, um die strafrechtlich verantwortliche Person zu ermitteln. Es stellt sich daher die Frage, welche Maßnahmen die Polizei zum Zwecke der Ermittlungen ergreifen darf und welche nicht.


Der Umgang der Polizei mit Kindern in Ermittlungsverfahren ist in der PDV 382 geregelt. Diese basiert auf aktuellen kriminologischen Erkenntnissen und soll die Grundlage für eine moderne Arbeit der Polizei sein.3 Die PDV wurde 1995 novelliert und in weiten Teilen gegenüber der vorherigen Fassung von 1987 verändert. Sie liefert Handlungsanweisungen für die tägliche Polizeipraxis.


Die Positionen dazu, wie mit tatverdächtigen Kindern im Ermittlungsverfahren umzugehen sei, gehen weit auseinander und reichen von einem restriktiven Vorgehen, dass jede weitere Maßnahme bei dem Verdacht auf Strafunmündigkeit untersagt4 bis hin zu der Theorie, dass lediglich die Anwendung des Strafrechts, nicht aber die des Strafverfahrensrechts durch die fehlende strafrechtliche Verantwortlichkeit gesperrt sei5.

 

2 Kinder in der Rechtsordnung


Kinder werden im deutschen Recht besonders geschützt. Dieser Schutz findet sich sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht wieder, wenn auch nicht mit einheitlichen Altersgrenzen. Der Entwicklung junger Menschen und der damit einhergehenden Reife des Verstandes und der Einsichtsfähigkeit wird durch eine Art Abstufung der rechtlichen Verantwortlichkeit Rechnung getragen.

2.1 Abgestufte Verantwortlichkeit

Im Zivilrecht wird dies durch die umfassende Geschäftsunfähigkeit von Kindern bis zum 6. Lebensjahr, § 104 BGB, sowie die ab dem 7. Lebensjahr beginnende und bis zum 18. Lebensjahr reichende eingeschränkte Geschäftsfähigkeit deutlich, §§ 106 ff. BGB.


Im Strafrecht findet sich diese Abstufung durch die Unterteilung in Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in Abgrenzung zu den Erwachsenen statt. Erst für Jugendliche, also ab dem 14. bis zum 18. Lebensjahr, wird eine eingeschränkte, der Entwicklung entsprechende Schuld- und Einsichtsfähigkeit angenommen.6 Jüngere Kinder sind nicht schuldfähig und auch das JGG findet keine Anwendung. Auf diese Weise wird verhindert, dass Kinder in gleicher Weise mit den Konsequenzen ihres Verhaltens konfrontiert werden wie Menschen, deren Entwicklung bereits weiter fortgeschritten ist.

2.2 Kinder als Träger von Grundrechten

In Bezug auf die Fähigkeit, selbst Träger von Grundrechten zu sein, findet in der deutschen Rechtsordnung keine Abstufung der Rechtsfähigkeit statt. Es ist gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, dass Kinder ab der Geburt Träger der aller Grundrechte sind.7 Dies ist mit Blick auf die Frage nach der Möglichkeit der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen gegen tatverdächtige Kinder insofern von Bedeutung, als dass sich die Frage stellt, ob und in welchem Umfang Grundrechtseingriffe bei Kindern stattfinden dürfen.


Unter einem Eingriff ist dabei jedes staatliche Handeln zu verstehen, dass dem Einzelnen ein in den Schutzbereich eines Grundrechts fallenden Verhaltens, ganz oder teilweise unmöglich macht.8 In der Praxis ist das bspw. der Fall, wenn durch die Polizei eine Strafanzeige aufgenommen wird. Denn hierbei werden unter anderem ohne oder gegen den Willen der betroffenen Person deren persönliche Daten erfasst. Da aber jeder Mensch grundsätzlich selbst über die Verwendung seiner persönlichen Daten entscheiden kann, stellt die Anzeigenaufnahme einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.9


Aus diesem Grund sind Grundrechtseingriffe nur zulässig, wenn sie aufgrund einer Ermächtigungsgrundlage erfolgen und sowohl formell als auch materiell rechtmäßig sind. Die Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen im Strafverfahren finden sich in der StPO. Unter Berücksichtigung der Regelung des § 19 StGB stellt sich aber die Frage, inwieweit staatliche Eingriffe auf Grundlage der StPO in die Rechte von Kindern erfolgen können.

2.3 Der Status von tatverdächtigen Kindern im Ermittlungsverfahren

Die Art der Anwendbarkeit der StPO richtet sich maßgeblich danach, ob tatverdächtige Kinder den Status eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erhalten können. Denn viele der strafprozessualen Maßnahmen, die für die Ermittlung einer Straftat erforderlich sind, sind an eben diese Eigenschaft geknüpft.

 

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