Das Bundeskriminalamt

Zentralstelle der Zukunft


Von Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes


Liebe Leserinnen, liebe Leser,

 

wie lesen Sie eigentlich gerade diesen Artikel – noch traditionell auf Papier als gedruckte Ausgabe oder digital auf Ihrem PC, Tablet oder Smartphone?


Zweitere Variante wäre vor 40 Jahren, als diese Fachzeitschrift gegründet wurde, noch unvorstellbar gewesen. Vor vier Jahrzehnten standen wir gerade einmal am Anfang der digitalen Entwicklung, dessen weitreichende Dimensionen wir uns noch gar nicht vorstellen konnten. Im BKA wurde damals erstmals die Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) eingeführt – das war zu dieser Zeit geradezu revolutionär.


Gleichzeitig entwickelte und „modernisierte“ sich auch die Kriminalität: Die vergangenen 40 Jahre waren durch dynamische und komplexe Entwicklungen, insbesondere durch die Globalisierung, Digitalisierung und digitale Vernetzung geprägt. Damit einhergehend haben sich über alle Kriminalitätsphänomene hinweg Modi operandi sowie Täterstrukturen schnell und tiefgreifend verändert. Wo bis in die 1990er-Jahre relativ gefestigte Gruppierungen das Kriminalitätsgeschehen dominiert haben, sehen wir uns heute mit immer differenzierteren, loseren und global agierenden Netzwerken konfrontiert.

 

 


Bundeskriminalamt, Standort Wiesbaden.


Heute stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir uns technisch weiterentwickeln, sondern nur noch wie und mit welcher Geschwindigkeit wir es tun. Im Zeitalter von Cybercrime und Massendaten in fast jedem Phänomenbereich müssen wir „Schritt halten“ mit einer Kriminalität, die sich moderne Technik zu Nutze macht, um schwerste Straftaten zu begehen. Das bedeutet nicht nur, dass die von der Polizei zu bearbeitende Menge an Daten enorm steigt, sondern diese Daten ebenfalls größtenteils verschlüsselt, anonymisiert und vor allem kurzlebig sind.


Digitale Beweismittel sind heute oftmals ein zentraler oder gar der einzige Ermittlungsansatz. Deshalb braucht es nicht nur entsprechende Tools und Know-how in der Polizei, wie die Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) und der Einsatz von Expertinnen und Experten in der Aufbereitung und Auswertung, sondern auch einen rechtlichen Rahmen, der zunächst die Sicherung von Daten ermöglicht.


Eine weitere Voraussetzung, um Schritt halten zu können, ist die Verbesserung und Flexibilisierung unserer polizeilichen Instrumente und Prozesse der digitalen Zusammenarbeit. Das Konzept des BKA als Zentralstelle 4.0 im Sinne der folgenden vier Dimension ist hierfür ein wegweisender Ansatz.


Erstens: Die Polizei arbeitet im Rahmen der Plattformstrategie an und auf einer gemeinsamen digitalen Plattform mit einem Datenhaus und für alle verfügbaren Anwendungen. Fähigkeiten werden somit einmal entwickelt und allen Teilnehmern zur Verfügung gestellt. Beispielsweise wird die notwendige IT-Architektur für den sicheren Beweismitteltransport im Rahmen der Plattformstrategie entwickelt, um ein gemeinsames technisches Bund-Länder-Auswertenetzwerkes zur Auswertung von Massendaten zu etablieren.


Zweitens: Wir setzen dem Crime-as-a-service ein Crimefighting-as-a-service entgegen. Das BKA ist hierbei zentraler Service- und Solution-Provider für den polizeilichen Verbund und stellt finanziell und technisch anspruchsvolle Lösungen für die Kriminalitätsbekämpfung zur Verfügung. Ein Beispiel hierfür ist die Einrichtung der Zentralen Clearingstelle Tool- und Methodenentwicklung (ZCS TME) im BKA, mit dem Ziel, Doppelarbeit und Insellösungen im Bereich der Software-Entwicklung zu vermeiden.


Drittens: Das BKA wird weiter zur digitalen Eingangsstelle ausgebaut. Das BKA ist bereits digitale Eingangsstelle für polizeiliche Informationen aus dem Ausland – und wird es künftig zunehmend auch für definierte Bereiche im Inland sein.


Viertens: Die bereits dargestellten Dimensionen verfolgen auch das Ziel durch beispielsweise Standardisierung und – wo erforderlich – Zentralisierung einen Lastenausgleich zu erreichen. Zusätzlich ist es Teil des Aufgabenverständnisses des BKA im Sinne einer modernen Zentralstelle 4.0 die betroffenen Polizeibehörden bei besonderen Herausforderungen technisch und personell zu unterstützen. Das bedeutet in Einzelfällen auch die Übernahme von Ermittlungsverfahren mit besonderer Tragweite.


Dieses Konzept wurde erstmals auf der Herbsttagung 2021 vorgestellt und wird seither stetig ausgebaut. Unser Ziel ist es, die polizeiliche Zusammenarbeit im Verbund so zu optimieren, dass jede Polizeidienststelle in Deutschland Zugriff auf die für sie relevanten Daten und Tools hat. Die Cybertoolbox ist ein erfolgreiches Beispiel für eine solche neue Form der agilen Zusammenarbeit und ist damit Ausdruck des neuen Zentralstellenverständnisses im BKA. Es geht dabei um die Erfassung von „digitalen Spuren“, die sogenannten Cyber-Entitäten.


Im analogen Bereich werden Spuren und Hinweise wie Fingerabdrücke, DNA oder sonstige biometrische Daten erhoben oder sichergestellt und im polizeilichen Informationsverbund erfasst, um diese Daten auch anderen Verbundteilnehmern zugänglich zu machen. Bei entsprechender Abfrage ergeben sich dann Treffer, die weitere Ermittlungsansätze liefern können.


Der Vorteil von digitalen Spuren, wie E-Mail-Adressen, IP-Adressen, User-Accounts, ist, dass es sie in der digitalen Welt nur einmal gibt und sie überwiegend auch immer nur von einer Person genutzt werden. In der analogen Welt würde die Polizei diese nun – meistens zeitversetzt – im Informationsverbund erfassen, damit andere Kolleginnen und Kollegen danach suchen und auf vorhandene Erkenntnisse treffen. Eine Alternative wäre, so früh wie möglich danach zu fragen, ob jemand anders diese digitalen Spuren bereits „gesichert“ hat. Fragen werden bisher mit Wissen – den erfassten Daten der Polizei – abgeglichen:


Was aber, wenn wir Fragen mit Fragen abgleichen würden? Dann wären wir als Zentralstelle in der Lage, Kolleginnen und Kollegen mit gleichen Informationsbedürfnissen und überlappender Spurenlage miteinander zu verknüpfen. Alle relevanten Erkenntnisse können zusammengeführt und unnötige Aufwände vermieden werden. Dies wird in modernen Prozessbeschreibungen als Deconfliction bezeichnet und bereits in der Abteilung Cybercrime des BKA mit der Cybertoolbox umgesetzt – auch in Bezug auf Social Media Accounts. Dadurch steigen die Erfolgschancen, den Täter zu identifizieren und Doppelarbeit wird vermieden, indem quasi die „Schwarm-Intelligenz“ der Polizei aktiviert wird. Das beweisen die Nutzungszahlen: Mehr als 20.000 registrierte User, knapp 20.000 Suchen nach Social Media Accounts und dabei über 3.000 Deconflictions.


Um eine digitale Zusammenarbeit auch technisch ressourcenschonend zu ermöglichen, muss die Cybertoolbox zudem an bestehende polizeiliche Informationssysteme angeschlossen werden. Deshalb bereiten wir über ein Tool, das im Programm P 20 entwickelt wird, den Anschluss der polizeilichen Vorgangsbearbeitungssysteme an die Cybertoolbox vor. Dieses Beispiel zeigt, dass wir bereits auf dem richtigen Weg hin zu einer digitalisierten und vernetzten Polizeiarbeit sind.


Vor 40 Jahren hätten wir uns diese Entwicklung noch nicht ansatzweise vorstellen können. Im Jahr 2023 ist dies unser aller Realität – und wir stehen noch immer erst am Anfang einer digitalen Revolution, bei der sich Entwicklungen mit einer enormen Geschwindigkeit vollziehen. In 40 Jahren, im Jahr 2063, wird uns der heutige Stand der Technik wahrscheinlich stark veraltet vorkommen. Daher ist „Schritt halten“ das Motto der Stunde – auch in Zukunft müssen wir für jede technische Entwicklung bereit und am besten der Kriminalität immer einen Schritt voraus sein. Dazu braucht es eine moderne Organisation der Polizei im Sinne des Konzeptes der Zentralstelle 4.0 sowie einen an die digitalisierte Kriminalität angepassten rechtlichen Rahmen. Denn die Polizei kann sich eine ressourcenintensive Kriminalitätsbekämpfung im digitalen Raum nicht mehr leisten.


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