Kapitaldelikte

Zur Problematik der ärztlichen Leichenschau aus rechtsmedizinischer Sicht

Die Leichenschau ist der letzte Dienst des Arztes am Patienten und gleichzeitig eine außerordentlich schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe.
Hierbei müssen zunächst der Tod, ferner der Todeszeitpunkt, die Todesursache (zum Beispiel Herzinfarkt, Lungenembolie, hämorrhagischer Schock) und die Todesart (natürlich, nicht-natürlich, ungeklärt) attestiert und die Identität festgestellt werden. Bei Anhaltspunkten für einen nicht-natürlichen Tod oder bei ungeklärter Todesart oder bei unbekannten Toten hat der Arzt die Polizei zu informieren. Somit kommt dem leichenschauenden Arzt eine ganz entscheidende Weichenstellung bei der Erkennung und Aufdeckung nicht-natürlicher Todesfälle zu.

Univ.-Prof. Dr. med.
Thomas Riepert

Johannes Gutenberg-
Universität Mainz


Die Todesarten sind folgendermaßen definiert:

  • Natürlicher Tod: aus krankhafter innerer Ursache.
  • Nicht-natürlicher Tod: von außen verursacht, ausgelöst oder beeinflusst.
  • Ungeklärte Todesart: Festlegung auf natürlichen oder nicht-natürlichen Tod nicht möglich. (nach Dettmeyer 2006)

Weichenstellung durch den Arzt
Der nicht-natürliche Tod entsteht durch eine äußere mechanische, toxische oder thermische Einwirkung. Konkret sind hier zu nennen: Unfälle (selbstverschuldet, fremdverschuldet sowie ohne Verschulden), Suizid (Selbsttötung) und fahrlässige sowie vorsätzliche Tötungsdelikte. Wichtig zu wissen ist, dass auch ein Todesfall aufgrund einer äußeren Einwirkung, die längere Zeit zurückliegt, als nicht-natürlich zu klassifizieren ist. Voraussetzung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der äußeren Schädigung und dem Todeseintritt. Ein solcher wird mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen einem Ereignis und dem Todeseintritt immer schwieriger nachzuweisen sein, gegebenenfalls nur mit Hilfe einer gerichtlichen Leichenöffnung. Eine grundsätzliche zeitliche Begrenzung gibt es nicht. So kann ein Tod infolge einer Lungenentzündung natürlich oder nicht-natürlich sein, je nachdem, ob eine äußere Einwirkung (z. B. Verkehrsunfall) oder eine natürliche Ursache (z. B. Lungenkrebs) für die zum Tode führende Krankheit anzunehmen ist.

Univ.-Prof. Dr. med.
Dr. rer. nat.
Reinhard Urban

Direktor des Instituts
für Rechtsmedizin der
Johannes Gutenberg-
Universität Mainz


Hohe Verantwortung des Arztes
Über diesen aus Sicht der Ermittlungsbehörden besonders wichtigen Aspekt hinaus kommt der unmittelbaren Durchführung der Todesfeststellung und der Leichenschau weitere Bedeutung zu. Grundsätzlich muss der Arzt davon ausgehen, dass er zu einem leblosen Menschen gerufen wird, der vielleicht noch wiederbelebt werden kann. Jeder längere Zeit im Beruf tätige Rechtsmediziner und Polizeibeamte kennt Berichte über „scheintote„ Patienten. Einen Scheintod im eigentlichen Sinne gibt es jedoch nicht, sondern es handelt sich stets um eine ärztliche Fehldiagnose durch ungenaue Untersuchung. Somit kommt der Erkennung der sicheren Todeszeichen (Totenflecken, Totenstarre, Fäulnis) eine entscheidende Bedeutung zu. Darüber hinaus gilt es durch die Erkennung bisher unerkannter Gefahren (Kohlenmonoxid-Quellen, defekte Elektrogeräte) bei der Leichenschau nachfolgende Todesfälle zu verhindern.

Unterschiedliche Länderregelungen
Die ärztliche Leichenschau fällt in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Daher gibt es zahlreiche Besonderheiten, die von Land zu Land unterschiedlich sind, wie die Meldepflichten und Regelungen zur Verständigung der Polizei (Übersichten bei Madea und Dettmeyer 2003 sowie Madea 2006). Ferner gibt es Meldepflichten nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG), die auch nach dem Tode bestehen, z. B. die Meldung einer Meningokokkensepsis oder einer behandlungsbedürftigen Tuberkulose an das Gesundheitsamt (§ 6 IfSG) oder die Meldung einer Berufskrankheit an die zuständige Berufsgenossenschaft.
Das Formblatt für die ärztliche Leichenschau (Todesbescheinigung) ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gestaltet und ändert sich erfahrungsgemäß im Laufe der Jahre. Gemein ist ihnen jedoch, dass im so genannten vertraulichen Teil die Todesursache und alle dafür wesentlichen Vorerkrankungen und Verletzungen aufgeführt werden müssen. Diese Informationen werden von den Gesundheitsämtern ausgewertet und über die statistischen Landesämter an das statistische Bundesamt weitergeleitet. Sie bilden die Grundlage für die amtliche Todesursachenstatistik. Aus den Ergebnissen werden Handlungsempfehlungen und Strategien für die epidemiologische Forschung, die Prävention und die Gesundheitspolitik abgeleitet (Schelhase und Rübenach 2006). Somit entscheidet die ärztliche Leichenschau auch über die Verteilung finanzieller Ressourcen im unserem Gesundheitssystem.

Bedeutung der Leichenschau

  • Vermeidung der Bestattung „Scheintoter„
  • Vermeidung weiterer Todesfälle
  • Rechtssicherheit, Erkennung nicht-natürlicher Todesfälle
  • Klassifizierung der Todesumstände bei zivil-, versicherungs- und versorgungsrechtlichen Fragen
  • Grundlage der amtlichen Todesursachenstatistik in Deutschland
  • Seuchenrechtliche Aspekte

Die Bestimmung der Todeszeit ist ebenfalls nicht nur aus kriminalpolizeilicher Sicht wichtig, sondern kann auch zivilrechtlich eine große Rolle spielen, beispielsweise bei der Feststellung der Erbfolge. In der Praxis dürfte in diesem Zusammenhang die häufigste Frage sein, ob der Anfang eines Monats noch erlebt wurde, da hiervon meist die Auszahlung des Lohns bzw. der Rente abhängig ist.

Hohe Dunkelziffer bei nicht-natürlichen Todesfällen
Eine Dunkelziffer bzw. Dunkelzahl ist bekanntermaßen kaum abschätzbar. Der Frage, wie oft nicht-natürliche Todesfälle und insbesondere vorsätzliche Tötungsdelikte bei der ärztlichen Leichenschau in Deutschland nicht als solche erkannt werden, haben sich jedoch zwei umfassende rechtsmedizinische Studien gewidmet. In der einen Studie (Brinkmann und Mitarbeiter 1997) wurden Daten aus 23 deutschen rechtsmedizinischen Instituten, die etwa drei Viertel der gerichtlichen Obduktionen in Deutschland durchführen, zusammengetragen. Hierbei konnten zahlreiche nicht-natürliche Todesfälle aufgedeckt werden, die nur zufällig einer Obduktion zugeführt worden waren oder bei denen durch die Obduktion völlig überraschende Befunde gesichert wurden. Aus vorsichtigen Hochrechnungen ergab sich danach eine Zahl von wenigstens 1.200 Tötungsdelikten und 11.000 nicht-natürlichen Todesfällen, was größenordnungsmäßig einer Dunkelziffer von etwa 1 : 1 entspricht, d. h. auf jedes erkannte vorsätzliche Tötungsdelikt kommt ein unerkanntes, welches nicht geahndet werden kann.
Die zweite umfassende rechtsmedizinische Studie stammt von Vock und Mitarbeitern (1997). Hierin wird die Zahl tödlicher Kindesmisshandlungen in Westdeutschland mit denen im Gebiet der ehemaligen DDR in den Jahren 1985 bis 1990 verglichen. An dieser Untersuchung nahmen fast alle rechtsmedizinischen Institute in Westdeutschland teil. In Ostdeutschland wurden alle verstorbenen Kinder bis zum 16. Lebensjahr aufgrund einer Anordnung obduziert. Im Vergleich zeigte sich eine fast doppelt so hohe relative Häufigkeit in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland, was eigentlich nur durch eine entsprechend hohe Dunkelziffer in Westdeutschland aufgrund einer viel geringeren Obduktionsfrequenz zurückzuführen ist.
Auch aus eigenen langjährigen Erfahrungen an verschiedenen rechtsmedizinischen Instituten (u. a. Mainz, Hannover, Köln) sind mehrere Fälle bekannt, bei denen zufällig ein Tötungsdelikt aufgedeckt wurde, z. B. durch Geständnis eines Täters lange Zeit nach der Tat oder durch eine überraschende Wendung bei der Obduktion. Auch ist die Zahl der durch eine zweite Leichenschau vor Feuerbestattung aufgedeckten nicht-natürlichen Todesfälle oder zumindest hinsichtlich der Todesart unklaren Todesfälle nach eigener Erfahrung sehr hoch, nämlich im zweistelligen Prozentbereich, obwohl zunächst ein natürlicher Tod attestiert worden war. Der so genannte „perfekte Mord„ ist derjenige, bei dem der leichenschauende Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt.

Keine verpflichtende Fortbildung für Ärzte
In Deutschland ist jeder Arzt verpflichtet, die Leichenschau durchzuführen. Er ist aber nicht speziell verpflichtet, sich in dieser wichtigen Tätigkeit fortzubilden. Dies ist ein wesentlicher Grund für das Übersehen von nicht-natürlichen Todesfällen. Viele Ärzte werden nur selten zu einer Leichenschau gerufen. Der Kurs Rechtsmedizin, in dem die Medizinstudenten auf diese Aufgabe, meist im mittleren Abschnitt des Studiums, vorbereitet werden, kann dies allein nicht leisten. Von Nachteil sind auch die unterschiedliche Gesetzgebungen und Formblätter zur Todesbescheinigung in den einzelnen Ländern. Ein Arzt, der in Mainz natürlich nach dem Bestattungsgesetz in Rheinland-Pfalz ausgebildet wurde, wird nur wenig weiter in Bayern, Hessen oder Baden-Württemberg andere Bedingungen vorfinden.
Aus rechtsmedizinischer Sicht gibt es darüber hinaus ein ganzes Bündel von Ursachen für ungenügende Leistungen bei der ärztlichen Leichenschau, die zu Unzufriedenheit bei den Ermittlern, aber auch auf Seiten der Ärzte führen, und von denen die wichtigsten folgendermaßen zu benennen sind:

  • Fehlen einer spezifischen Aus- und Fortbildung
  • Überforderung bei spurenarmen Tötungsdelikten, fortgeschrittener Fäulnis etc.
  • Interessenskonflikte als Hausarzt, beim Tod in Krankenhäusern oder Pflegeheimen, in der Zusammenarbeit mit der Polizei, bei eigenen Behandlungsfehlern

Hieraus ergibt sich eine im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr geringe Häufigkeit von etwa 2 % für rechtsmedizinische Obduktionen und hieraus wiederum eine sehr hohe Exhumierungsfrequenz (Brinkmann und Mitarbeiter 2002). Wie muss man sich den idealen Leichenschauarzt vorstellen? Er ist gut ausgebildet, erfahren, engagiert, unabhängig und bildet sich regelmäßig fort. Leider gibt es ihn nicht oft.

Mehr Rechtssicherheit durch bundeseinheitliche Reformen
Das Leichenschauwesen in Deutschland ist aus rechtsmedizinischer Sicht nur durch tiefgreifende Änderungen entscheidend zu verbessern. In diesem Zusammenhang ist der Beschluss der 78. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 28. Juni 2007 in Berlin zu nennen, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Qualität der ärztlichen Leichenschau zu verbessern. Hierfür sollen Ärzte mit speziellen rechtsmedizinischen Kenntnissen gewonnen werden, die für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet werden könnten. Aus den oben aufgeführten Gründen begrüßen wir diesen Vorschlag zur Einführung eines amtlichen Leichenschau-Arztes sehr. Die Institute für Rechtsmedizin könnten einen Beitrag bei der Ausbildung und Fortbildung der Kollegen leisten. Am besten wäre gleichzeitig die Einführung eines bundeseinheitlichen Bestattungsgesetzes und einer bundeseinheitlichen Todesbescheinigung. Hiervon würden nicht nur die Ermittlungsbehörden, sondern alle Menschen in Deutschland im Sinne einer Verbesserung der Rechtssicherheit am Ende des Lebens profitieren.

Literatur

Brinkmann B et al. (1997) Fehlleistungen bei der ärztlichen Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland (I) sowie (II). Arch Kriminol 199, 1-12 sowie 65-74.
Brinkmann B, Du Chesne A., Vennemann B (2002) Aktuelle Daten zur Obduktionsfrequenz in Deutschland. Dtsch Med Wochenschr 127, 791-795.
Dettmeyer R (2006) Medizin & Recht, Springer Verlag Berlin, 2. Auflage.
Dettmeyer R, Madea B (2003) Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung. Deutsches Ärzteblatt 100, Heft 48, A3161-A3179.
Madea B (2006) Die ärztliche Leichenschau. Springer Verlag Berlin, 2. Auflage.
Schelhase Torsten, Rübenach Stefan P: Die Todesursachenstatistik, Methodik und Ergebnisse 2004. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 6/2006 oder www.destatis.de.• Vock R (1999) Tödliche Kindesmisshandlung (durch physische Gewalteinwirkung) in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1.1.1985 bis 2.10.1990. Arch Kriminol. 203, 73-85.