Vernehmung traumatisierter Opfer

Von Dr. phil. Markos Maragkos, Dipl.-Psych., Department PsychologieLehrstuhl Klinische Psychologie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München


Dr. phil. Markos Maragkos, Dipl.-Psych. Department Psychologie

Abstract

Polizeibeamte sind im Rahmen ihrer Tätigkeit mit der Situation konfrontiert, Menschen zu vernehmen, die Opfer eines extremen Ereignisses (bspw. bewaffneter Raubüberfall, Vergewaltigung, etc.) geworden sind. Um die Situation der traumatisierten Opfer besser verstehen zu können, werden einleitend die Begriffe „Trauma“ und „Traumatisierung“ besprochen, sowie die häufigste psychische Folgeerkrankung nach extremen Erfahrungen: die Posttraumatische Belastungsstörung. Zudem wird auf das Phänomen der Dissoziation eingegangen, das sich als schweres Hindernis bei der Vernehmung des Opfers erweisen kann. Anschließend werden die Situation des Opfers und die des Vernehmers dargestellt, wobei sich herausstellt, dass sich diese diametral entgegen stehen: Während der Vernehmer eine möglichst vollständige, wahrheitsgemäße und detaillierte Aussage erwartet, versucht das Opfer entweder Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis zu vermeiden, weil diese zu massiven Angstzuständen führen oder kann – bedingt durch die traumatypische Verarbeitung im Gedächtnis – nur fragmentierte und teilweise sich widersprechende Aussagen machen. Abschließend werden Hinweise gegeben, wie der Vernehmer die Vernehmungssituation angemessener gestalten kann, um zu brauchbaren Aussagen zu kommen, ohne dabei seine Neutralität zu verlieren.



1. Einleitung – Was ist eine psychische Traumatisierung?

Die Begriffe „Trauma“ (aus dem Griechischen für „Verletzung“) und „Traumatisierung“ haben mittlerweile Einzug in die Alltagssprache gefunden und werden zum Teil inflationär verwendet. So kommt es nicht selten vor, dass Menschen sich auch dann als „traumatisiert“ bezeichnen, wenn sie mit Ereignissen konfrontiert waren, die zwar eine psychische Belastung darstellen, jedoch nicht als traumatisch i.S. der Klinischen Psychologie einzustufen sind. Das folgende Fallbeispiel soll die mit dem Begriff „Traumatisierung“ verbundenen Schwierigkeiten verdeutlichen.

Fallbeispiel:
Ein allein stehender, älterer Herr, bereits seit einigen Jahren berentet, sucht die Angst- und Traumaambulanz auf und berichtet im ersten Gespräch folgende Begebenheit: Er habe sich vor einiger Zeit dazu entschlossen, wieder mal in Urlaub zu fahren, was er seit dem Tod seiner Frau, der bereits einige Jahre zurücklag, nicht gemacht habe. Seinen Hund habe er nicht mitnehmen wollen, weshalb er seinen Nachbarn, seines Zeichens Arzt, gefragt habe, ob er sich um das Tier während seiner Abwesenheit kümmern könne. Dieser habe ohne Zögern eingewilligt. Von seinem Urlaub zurückgekehrt, sei er als Erstes zu seinem Nachbarn gegangen, um seinen Hund abzuholen. Dort musste er mit Erschrecken erfahren, dass dieser seinen Hund habe einschläfern lassen, da er – wahrscheinlich, weil er sein Herrchen vermisst habe – andauernd gebellt habe. Als letzten Satz fügte er hinzu: „Ich bin traumatisiert!“.

Bedenkt man die Situation des älteren Herren (allein stehend ohne Bezugspersonen), so muss der Verlust seines Tieres sehr wohl als „psychisch belastend“ eingestuft werden. Zieht man jedoch die Definition eines traumatischen Ereignisses in Betracht, wie sie in den offiziellen klinisch-psychologischen Klassifikationssystemen (DSM-IV; APA, 2003 und ICD-10; WHO, 1993) aufgeführt wird, dann handelt es sich bei diesem Beispiel um keine Traumatisierung i.e.S. Das DSM-IV, welches im Vergleich zur ICD-10 genauer ist, definiert eine traumatische Erfahrung als Ereignis, das mit „…tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen…“ (S. 491) verbunden war.

Solch ein Ereignis kann von der betroffenen Person direkt erlebt werden (gleichsam als „Opfer“), aber auch indirekt als Beobachter (Zeuge). Es ist auch möglich, unter den Folgen eines Ereignisses zu leiden, von dem der Betroffene nur gehört hat (bspw. in Form einer sehr plastischen Erzählung oder eines Berichts). Während bisher nur das Ereignis in Quantität und Qualität beschrieben wurde (objektives Kriterium), gibt das DSM-IV dann auch vor, wie die Person, welche dieses Ereignis erlebt hat, darauf reagieren „muss“ (subjektives Kriterium), damit von einer psychischen Traumatisierung ausgegangen werden kann, nämlich mit intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.

Betrachtet man das Fallbeispiel vor dem Hintergrund dieser Definition, wird deutlich, dass der Betroffene zwar sehr wohl unter dem Verlust seines Tieres leiden kann, jedoch treffen auf das Ereignis keine der in der Definition beschriebenen Kriterien zu. D.h. es ist für den Rentner zweifelsohne belastend, jedoch nicht als traumatisches Ereignis i.e.S. zu definieren. Es ist deshalb notwendig, den Begriff „Traumatisierung“ nur für Ereignisse zu reservieren, welche die o.a. Kriterien erfüllen.

Liegt eine psychische Belastung vor, ohne dass von einem traumatischen Ereignis, wie eben beschrieben, ausgegangen werden kann, so muss auf andere klinisch-psychologische Diagnosen zurückgegriffen werden, wie bspw. die so genannte „Anpassungsstörung“.

Info-Box:
Die Begriffe „Trauma“ und „Traumatisierung“ haben Einzug in die Alltagssprache gefunden und werden z.T. inflationär benutzt. Die Klinische Psychologie und Psychotherapie definiert ein traumatisches Ereignis relativ genau, nämlich als Ereignis, das mit drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung der eigenen oder einer fremden Person verbunden ist und auf das die betroffene Person mit intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagiert hat.


1.1 Mögliche psychische Folgen einer extremen Erfahrung: Die Posttraumatische Belastungsstörung

Menschen, die ein extrem belastendes, traumatisches Ereignis erlebt haben, können im Gefolge psychische Erkrankungen entwickeln, die sich bspw. in Form von Angststörungen, Depressionen, Somatoformen Störungen oder Substanzmissbrauch (Alkohol und/oder Drogen) äußern können (s. Maercker, 2003; Maercker & Rosner, 2006). Die häufigste klinisch-psychologische Folgestörung ist die so genannte „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS; Kessler et al., 1995; s.a. Butollo & Hagl, 2003 für einen Überblick). Sie soll im Folgenden näher beschrieben werden.1

Das erste Element, welches eine PTBS konstituiert, ist die Definition eines traumatischen Ereignisses, wie sie im vorherigen Abschnitt bereits beschrieben wurde. Zudem werden Symptome aus drei verschiedenen Kategorien (so genannten „Clustern“) unterschieden, die im Ge-folge einer Traumatisierung auftreten können:

a) Wiedererleben2 von Teilen oder Aspekten des traumatischen Ereignisses, z.B. als:
• wiederkehrende (Alb-)Träume vom Ereignis oder damit verbundenen Themen,
• eindringliche und belastende Erinnerungen (Intrusionen), die so stark und plastisch sein können, dass die Betroffenen den Eindruck haben, als würden sie das Ereignis im aktuellen Moment wieder erleben (Flashbacks),
• Gerüche oder körperliche Empfindungen, die, während das Ereignis andauerte, auftraten (bspw. Schweiß, Parfüm, Schmerzen und weitere Empfindungen an bestimmten Körperstellen etc.).

b) Vermeidung von Gedanken, Gefühlen oder Situationen, die direkt oder indirekt mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind, bspw. Versuche,
• nicht an das Ereignis zu denken,
• nicht über das Ereignis zu sprechen,
• den Ort des Geschehens zu meiden, bzw.
• das Gefühl der Gefühllosigkeit (Numbing).

c) andauernde Übererregung, die sich äußern kann in:
• Reizbarkeit,
• überhöhter Wachsamkeit (Hypervigilanz),
• Schreckhaftigkeit,
• Schlafstörungen und
• Konzentrationsschwierigkeiten.

Führt ein extremes Ereignis zu psychischen Beschwerden, so treten diese in den meisten Fällen kurz danach auf. Trotzdem ist es auch möglich, dass sich bei den Betroffenen die Symptome mit einer zeitlichen Verzögerung zeigen („Posttraumatische Belastungsstörung mit verzögertem Beginn“). Dies ist nicht unbedingt als Zeichen zu werten, dass die Betroffenen anfangs die Unwahrheit gesagt haben oder gar die Beschwerden simulieren, sondern – in den meisten Fällen – als Folge des psychischen Störungsbildes zu verstehen.



1.2 Zum Phänomen der Dissoziation

In ihrem normalen Alltagsleben haben Menschen in der Regel ein Gefühl für sich selbst, d.h. für ihre eigene Identität. Sie erleben sich und ihr Leben nicht zerteilt, sondern in einem Kontinuum und entsprechend kontinuierlich ist die Wahrnehmung der inneren (bspw. Gefühle und Gedanken) und der äußeren Welt. Neue Erfahrungen werden mit bereits gemachten verbunden und auf eine persönliche Zeitachse eingeordnet, so dass ein Gefühl für die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsteht, was letztlich die persönliche Identität des Menschen ausmacht.

Das Gefühl für sich selbst und die eigene Identität, wie auch die Kontinuität der eigenen inneren und äußeren Wahrnehmung, können sich nach Konfrontation mit einem extremen Ereignis mehr oder minder stark verändern. So kann es bspw. während einer Vergewaltigung dazu kommen, dass die betroffene Person das Gefühl für sich selbst verliert. Sie trennt sich gleichsam von ihrer eigenen Identität, wobei der Eindruck entsteht, sich selbst von außen beobachten zu können. Zudem kann es zu Erinnerungslücken kommen, d.h. die Person kann sich an Einzelheiten oder ganze Teile des Erlebten nicht mehr erinnern. Diese Phänomene werden als dissoziative Phänomene bezeichnet. Folgende dieser Phänomene können unterschieden werden (s.a. Fiedler, 2002):

Depersonalisation: Der Eindruck, während oder nach einer traumatischen Erfahrung sich selbst von außen zu beobachten.

Derealisation: Der Eindruck, während oder nach einer traumatischen Erfahrung, die Umgebung wie durch einen Schleier oder durch eine Nebelwand wahrzunehmen.

DissoziativeAmnesie:Unfähigkeit, sich an bestimmte Aspekte oder ganze Teile eines traumatischen Ereignisses zu erinnern.

Auch nach dem traumatischen Ereignis können solche Phänomene bestehen bleiben. Wird ein betroffener Mensch mit einem Reiz konfrontiert, der ihn an die Situation bewusst oder vorbewusst erinnert, kann es zu dissoziativen Phänomenen kommen, die nicht von den Betroffenen selbst kontrolliert werden können. Befindet sich ein Mensch in einem dissoziierten Zustand, wirkt er abwesend und nicht Herr seiner Äußerungen und Empfindungen. Mimik und Gestik können sich in Extremfällen ebenso verändern wie der Tonus und der Inhalt seiner Sprache.

Fallbeispiel:Eine Patientin mit wiederholten und lang andauernden Misshandlungserfahrungen berichtet, während eines Friseurbesuchs in einen dissoziativen Zustand gefallen zu sein, nachdem der Friseur spaßeshalber gesagt hat: „…Na, das hat doch gar nicht weh getan…“. In dem Moment fühlte sie sich in die Zeit des Missbrauchs zurückversetzt, da dieser Satz auch vom Täter gesagt wurde.

Die Ursache für diese Veränderungen ist, nach aktueller Forschungslage, in der Verarbeitung (Abspeicherung) von traumatischen Ereignissen durch das Gedächtnis zu finden. Grundsätzlich kann das Gedächtnis in ein explizites (autobiographisches, verbalisierbares) und ein implizites (prozedurales) unterteilt werden. Während im expliziten Gedächtnis Situationen abgespeichert werden, die mit wichtigen Lebensereignissen zu tun haben (bspw. der gestrige Streit, der erste Urlaub mit dem geliebten Menschen, etc.), beinhaltet das implizite Gedächtnis Wissen um Fertigkeiten und Routinen, die der Mensch irgendwann einmal in seinem Leben gelernt hat und seit dem gleichsam „automatisch“ ausführt, ohne „darüber zu wissen“ (bspw. Autofahren, ein Musikinstrument spielen, etc.).

Ein traumatisches Ereignis wird, so der aktuelle Forschungskanon, im impliziten Gedächtnis besonders gut abgespeichert, jedoch weniger gut ins explizite, verbalisierbare Gedächtnis übertragen. Zwischen diesen beiden Gedächtnissystemen wird eine Trennung (Dissoziation) angenommen, die letztlich zu den traumatypischen Symptomen (Intrusionen, Albträume, Flashbacks, etc.) führt (s.a. Grawe, 2004). Durch diese mangelhafte Einbettung (Elaboration) in das autobiographische Gedächtnis ist das traumatische Ereignis nur mangelhaft verbalisierbar, d.h. die Betroffenen können es schlecht bis gar nicht als vollständiges Ereignis mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende beschreiben. Die einzelnen Elemente schweben gleichsam im Gedächtnisraum, wodurch sie sehr leicht durch zahlreiche äußere (Gerüche, Szenen, etc.) oder innere (bspw. bestimmte körperliche Zustände) Reize reaktiviert werden können. Da diese Auslösereize dem Betroffenen nicht unbedingt bewusst sein müssen, erlebt er die Szenen als „wie aus dem Nichts“ erscheinend.

Der vernehmende Beamte steht nun genau vor diesem Problem: Er verlangt vom Opfer eine möglichst präzise und vollständige Aussage, während das Opfer nur Fragmente, die nicht adäquat in einer Zeitlinie eingeordnet sind, zu bieten hat und/oder unter starken Ängsten leidet, das Ereignis in seinem Gedächtnis zu reaktivieren.

Info-Box:
Die häufigste klinisch-psychologische Diagnose, die einem extremen Ereignis folgen kann, ist die Posttraumatische Belastungsstörung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Betroffene wiederholt an das Ereignis denken muss (!), Situationen, die direkt oder indirekt mit dem Ereignis assoziiert sind, vermeidet und unter starker Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen und übertriebener Wachsamkeit (Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz) leidet. Von besonderer Bedeutung zum Verständnis einer psychischen Traumatisierung und für die Vernehmungssituation sind dissoziative Phänomene, die dazu führen können, dass die vernehmende Person das Ereignis nicht kohärent, sondern vielmehr bruchstückhaft berichten kann. Ätiologisch hierfür scheint zu sein, dass traumatische Erinnerungen nicht genügend in das autobiographische Gedächtnis eingebettet (elaboriert) sind.


2. Die Vernehmung

2.1 Die Situation der Opfer
Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass die Vernehmung von traumatisierten Menschen – unabhängig davon, ob ihnen die Täter- oder Opfer-Rolle zugewiesen wird – mehrere, ihr immanente Schwierigkeiten aufweist:

a) Vernehmungssituation als „Trigger-Reiz“: Trigger-Reize sind Reize, die direkt oder indirekt mit dem traumatischen Ereignis gekoppelt sind und die Erinnerung daran aktivieren können. Typische Trigger-Reize von Gewalt- oder Unfall-Opfern sind bspw. Personen, die an den Täter erinnern, Gerüche (bei Vergewaltigungsopfern häufig Schweiß oder Parfüm), Räumlichkeiten (bspw. kann der Vernehmungsraum an den Raum, in dem das Ereignis passierte erinnern), bestimmte Tageszeiten, bestimmte Witterungsbedingungen, körperliche Empfindungen, bestimmte Wortfolgen, Lichtbildervorlagen etc.
Auch die Vernehmungssituation, die ja durch ein „Machtgefälle“ gekennzeichnet ist (der vernehmende Beamte fragt, das Opfer muss antworten), kann zu einem Trigger-Reiz werden, weil sich der Betroffene u.U. wieder entmachtet, im weitesten Sinne, fühlt. Geschieht dies, dann können Erinnerungen an die Traumatisierung reaktiviert werden, die mit den damit verbundenen Gefühlen und Empfindungen (bspw. massive Angst, Macht- und Hilflosigkeit, Scham, etc.) einhergehen. In diesen Situationen wird es dem Opfer i.d.R. kaum möglich sein, adäquat auf die ihm gestellten Fragen zu antworten. Alternativ können die Antworten zusammenhangslos und inkohärent wirken. Solche Reaktionen sind also primär nicht dem Opfer selbst anzulasten, sondern können auf seine psychische Verfassung zurückzuführen sein.

b) Fragmentarisches Erinnern: Traumatisierte Opfer sollen während der Vernehmung einen möglichst präzisen Bericht des Geschehens darlegen. Dies kann aufgrund der speziellen Art und Weise, wie solche Ereignisse im Gehirn abgespeichert werden (nämlich als Fragmente und nicht als in sich abgeschlossene, kohärente Geschichte), nicht oder nur schwer möglich sein. So kann es bspw. sein, dass das Opfer sich nur an lose Einzelheiten des Ereignisses erinnert, die mal mit einer, mal mit einer anderen Situation in Verbindung gebracht werden. Ebenso ist es möglich, dass mehrere Aussagen von ein und derselben traumatisierten Person widersprüchlich sind. Hier sollte also in Erwägung gezogen werden, dass es sich möglicherweise um die Folgen einer psychischen Traumatisierung handelt und nicht um die Glaubwürdigkeit des Opfers.

c) Kulturelle Bedingungen: Der kulturelle Hintergrund traumatisierter Opfer kann in einem hohen Maße die Vernehmungssituation, das Aussageverhalten und die Aussagebereitschaft beeinflussen.

Fallbeispiel:
Eine aus einem anderen Kulturkreis stammende Patientin berichtet, von ihrem Schwager (Bruder des Ehemanns) vergewaltigt worden zu sein. Sie sei schwanger geworden und habe den Ehemann im Glauben gelassen, das Kind sei das gemeinsame Kind. Die Wahrheit könne sie ihm nicht sagen, denn der Mann wäre dann – aufgrund der kulturellen Gegebenheiten – gezwungen, sie und anschließend den Täter (seinen Bruder) umzubringen, um seine Ehre zu retten.

In manchen Kulturen kann es zudem als unsittlich gelten, peinliche oder erniedrigende Details von bestimmten Situationen zu berichten oder gar über das eigene (schlechte) psychische Empfinden zu erzählen, weil der Betroffene damit sein Gesicht verlieren würde.

d) Peinlichkeit: Traumatische Erfahrungen sind häufig mit stark ausgeprägter Scham, Schuld und Peinlichkeit auf Seiten des Opfers verbunden. Durch die Vernehmungssituation kann sich das Opfer „gezwungen“ fühlen, sich mit den Erinnerungen und der damit verbundenen Peinlichkeit und Scham zu konfrontieren. Lückenhafte Erinnerungen können mit solchen Gefühlen assoziiert sein und sind nicht, gleichsam automatisch, als Zeichen der Unwahrheit zu deuten.

e) Erstkontakt mit der Polizei bzw. Polizeizugriff als potentiell traumatisierendes Ereignis: Ein Polizeizugriff kann – aufgrund seiner Vehemenz und der damit verbundenen Szenen – ebenfalls traumatisierend sein. Von der Polizei „gefasst“ zu werden (möglicherweise zum ersten Mal) kann entweder an sich ein belastendes Ereignis darstellen oder vorhergehende belastende Ereignisse reaktivieren. Möglich ist auch, dass die Polizei, im Bestreben die Ermittlungen möglichst genau und akkurat durchzuführen, die Opfer oder Zeugen psychisch belastet.

Fallbeispiel:
Eine Patientin berichtet folgende Begebenheit: Sie sei mit ihrem Hund im Wald spazieren gewesen, als dieser „etwas“ im Laub entdeckt habe. Bei näherem Hinsehen habe sich herausgestellt, dass es sich um einen Leichnam gehandelt habe. Die Patientin habe daraufhin über ihr Mobiltelefon die Polizei angerufen, die ihr gesagt habe, sie würde gleich kommen und bis dahin solle sie sich „nicht vom Fleck“ rühren. Die Patientin habe sich anschließend auf einem Baumstumpf gesetzt und ca. 30 Minuten auf die Polizei gewartet. Während dieser Zeit habe sie ständig den Leichnam vor sich gehabt (der Geruch sei „bestialisch“ gewesen), habe sich aber nicht getraut, den Ort zu verlassen, weil ihr das der Beamte am Telefon „verboten“ habe.

Aus diesem Beispiel wird deutlich, dass bestimmte polizeiliche Handlungsabläufe und -vorgaben (so sinnvoll und richtig sie aus kriminalistischer Sicht auch sein können) zu potentiell belastenden Ereignissen für das Opfer werden können. Selbstverständlich ist es sehr wichtig, aus kriminalistischer Sicht alles zu unternehmen, was dazu führt, den oder die Täter zu überführen. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig abzuwägen, in welche – psychisch belastenden – Situationen u.U. das Opfer dadurch gebracht wird.

f) Konfrontation mit dem Täter: Zu den belastendsten Situationen, die Opfer von Gewalttaten ausgesetzt sein können, gehört die Konfrontation mit dem Täter (bspw. in Form einer Gegenüberstellung oder während der Gerichtsverhandlung). Der Täter ist für das Opfer der stärkste Trigger-Reiz und die Konfrontation mit ihm kann in Extremfällen zu einer so genannten „Re-Traumatisierung“ führen, d.h. möglicherweise in der Zwischenzeit gewonnene innerpsychische Stabilität wird wieder verloren und bereits genesene Symptome kehren wieder zurück. Da es in Situationen, in denen der Täter gefasst wurde und in denen es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, nicht abzuwenden ist, dass sich Täter und Opfer wieder begegnen, ist es notwendig, das Opfer von entsprechend geschultem Personal auf diese Situation ausreichend lange vorher vorzubereiten.
Andernfalls kann es vorkommen, dass das Opfer mit massiven Ängsten reagiert und die Qualität seiner Aussage mehr oder minder stark darunter leidet. Vor allem sollte darauf geachtet werden, dass das Opfer und der Zeuge keinen direkten Vier-Augen-Kontakt miteinander haben, denn es hat sich gezeigt, dass viele Täter solche Situationen ausnützen, um bei dem Opfer massive Angst auszulösen, um die Aussage in eine für sie günstige Richtung zu beeinflussen.3

Info-Box:
Die innerpsychische Verarbeitung einer traumatisierenden Situation kann sich in der Vernehmungssituation als Erschwernis erweisen. Fragmentierte Erinnerungen (Erinnerungslücken), Schuld-, Scham- und Peinlichkeitsgefühle können ebenso die Qualität der Aussage negativ beeinflussen, wie kulturelle Bedingungen. Besonderes Augenmerk sollte auf die Vernehmungssituation an sich und auf eine mögliche Konfrontation mit dem Täter gelegt werden, da beide zu einer Re-Traumatisierung führen können.



2.2 Die Situation des Vernehmers

Nach dem bisher Gesagten kann die Situation des Opfers und die Situation des Vernehmers diametral entgegenstehen: Ziel des Vernehmers ist es, so viele Informationen wie möglich vom Opfer zu bekommen und diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, um sich ein möglichst vollständiges Bild vom Tathergang machen zu können. Das Opfer hingegen kann bestrebt sein, Erinnerungen an und Erzählungen vom traumatischen Ereignis zu vermeiden, weil es dadurch versucht, seinen Angstpegel entsprechend niedrig zu halten. Im Folgenden werden Hinweise gegeben, die für den Vernehmer wichtig sein können:

a) Der Vernehmer sollte zwar auf der einen Seite seine Neutralität aufrecht erhalten, auf der anderen Seite jedoch Sicherheit vermitteln und sich der zu vernehmenden Person gegenüber respektvoll verhalten. Hier gilt es, eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Der vernehmende Beamte muss auf keinen Fall der Aussage des Opfers Glauben schenken, jedoch sollte er sich gleichzeitig so benehmen, dass das Opfer in seiner Situation gewürdigt wird. Dies stellt er sicher, in dem er sich

• bspw. korrekt und vollständig vorstellt
• fragt, ob es jetzt möglich ist, über das Ereignis zu sprechen und das Einverständnis abwartet
• über das Prozedere aufklärt, d.h. das Prozedere transparent macht
• sich engagiert zeigt (bspw. ein Getränk anbietet)
• das, was er tut, auch kommentiert (bspw. „Ich mache mir ein paar Notizen, während Sie sprechen…“, etc.)
• wenn er nachfragen muss, dabei vorsichtig ist (bspw. „Sie haben eben gesagt, dass… Ich habe das nicht genau verstanden. Könnten Sie bitte noch einmal wiederholen, was Sie gesagt haben?“)
• dem Opfer – nach Möglichkeit – Unterstützung anbietet (bspw. Adressen bestimmter Anlaufstellen, den Polizeipsychologischen Dienst, etc.).

Sollte es sich um eine Vergewaltigungssituation mit einem männlichen Täter handeln, so sollte die Vernehmung von einer Polizeibeamtin durchgeführt werden (zumindest sollte dafür Sorge getragen werden, dass auch eine Polizeibeamtin zugegen ist). Besonderes Augenmerk sollte darauf gelegt werden, ob der vernehmende Beamte zufällig dem Täter in der äußeren Erscheinung ähnlich ist. Ist dies der Fall, dann sollte nach Möglichkeit ein anderer Beamter die Vernehmung durchführen, da damit zu rechnen ist, dass die zu vernehmende Person unter massiven Stressreaktionen leiden wird.

b) Über mögliche dissoziative Phänomene informiert, sollte der Vernehmer darauf achten, ob das Opfer mit seiner Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt bleiben kann oder ob es abschweift – möglicherweise in Mini-Dissoziationen. Dies kann sich durch einen starren Blick, durch fehlende Antworten, themenirrelevante Antworten, etc. äußern. Kommt es zu dissoziativen Phänomenen, so können folgende Strategien gewählt werden, um die Dissoziation zu stoppen:

• die Person auffordern, persönliche Daten zu berichten, d.h. Daten, welche die persönliche Identität des Opfers ausmachen (bspw. Geburtsdatum, Geburtsort, Name der Kinder, Name des Vaters/der Mutter, etc.)

• die Person auffordern die Füße auf den Boden zu setzen, diesen zu spüren, einen festen (!) Punkt im Raum (bspw. einen Nagel oder Fleck an der Wand) zu fixieren und dabei deutlich ein- und auszuatmen

• die Person auffordern (wenn möglich) im Raum umher zu gehen und zu beschreiben, was sie gerade wahrnimmt (Sehen, Hören, Schmecken, etc.)

• der Person einen so genannten „Coldpack“ auf den Nacken legen.

c) Der Vernehmer sollte sich von Zeit zu Zeit nach dem Befinden des Opfers erkundigen. Hat er den Eindruck, dissoziative Phänomene beobachtet zu haben, ist es erlaubt, das Opfer danach zu fragen.

d) Sobald der Vernehmer das Opfer anspricht, sollte er dies mit seinem Namen tun. Diese Strategie wirkt nicht nur stabilisierend (der Name ist gleichsam das „Etikett“ des Menschen), sondern gibt ihm auch Würde und Anerkennung.

e) Der Vernehmer sollte dem Opfer auch dann noch Hilfestellung anbieten, wenn die Vernehmung abgeschlossen ist. Andernfalls kann das Opfer den Eindruck gewinnen, „ausgenutzt“ worden zu sein, was eben-falls retraumatisierend wirken kann.

Info-Box:
Das Ziel des Vernehmers kann in einem diametralen Gegensatz zu dem des Opfers stehen. Während Ersterer bestrebt ist, eine möglichst vollständige und detailreiche Aussage zu bekommen, kann Letzterer damit beschäftigt sein, alles zu vermeiden, was direkt oder indirekt mit dem Ereignis verbunden ist. Das Verhalten des Vernehmers kann jedoch ein starker Sicherheit und Stabilität gebender Faktor werden, wodurch es nicht nur zu einer Beruhigung des Opfers kommen kann, sondern auch zu einer Verbesserung der Qualität der erhaltenen Aussage.



3. Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrages war es, die Situation des Opfers während seiner Vernehmung aus klinisch-psychologischer Sicht darzustellen. Einleitend wurden die Begriffe „Trauma“ und „Traumatisierung“, so wie sie in der Klinischen Psychologie und den entsprechenden Klassifikationssystemen definiert sind, dargestellt und erläutert. Es ist notwendig, den Begriff „traumatisches Ereignis“ nur für solche Situationen zu reservieren, die mit drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung der eigenen oder einer fremden Person einhergehen und wobei der Betroffene mit intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagiert.

Zu den Phänomenen, die im Rahmen einer psychischen Traumatisierung auftreten können und die sowohl für den betroffenen Menschen, als auch für den Vernehmer belastend werden können, gehört die so genannte „Dissoziation“. Diese zeichnet sich durch eine Trennung der integrativen Funktionen von Bewusstsein, Identität und Wahrnehmung aus und kann bereits während des Ereignisses auftreten, was letztlich zu Erinnerungslücken und fragmentarischen Erinnerungen führen kann. Grundlegender Mechanismus dissoziativer Prozesse ist eine Trennung zwischen dem impliziten und expliziten Gedächtnis, wobei die traumabezogenen Inhalte nicht genügend in letzterem elaboriert sind. Dadurch können Aussagen von Opfern zerfahren und inhaltlich inkonsistent erscheinen – ein Aspekt, der nicht unbedingt mit der Glaubwürdigkeit des Opfers assoziiert sein muss.

Die Vernehmungssituation kann durch eine Diskrepanz zwischen den Zielen, die das Opfer verfolgt, und denen, die vom Vernehmer verfolgt werden, gekennzeichnet sein. Während der Vernehmungsbeamte eine möglichst vollständige und detailreiche Aussage erwartet und darauf hinarbeitet, kann die zu vernehmende Person mehr oder minder stark von ihrem Impuls eingenommen sein, alles zu vermeiden, was mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung steht. Abschließend wurden Möglichkeiten und Strategien dargestellt, welche die Arbeit des vernehmenden Beamten erleichtern und gleichzeitig das Opfer stabilisieren sollen.


Literatur

American Psychiatric Association (APA) (2003). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – Textrevision (DSM-IV TR). Göttingen: Hogrefe.
Butollo, W. & Hagl, M. (2003). Trauma, Selbst und Therapie. Bern: Huber.
Fiedler, P. (2002). Dissoziative Störungen. Göttingen: Hogrefe.
Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Kessler, R. C., Sonnega, A., Bromet, E., Hughes, M. & Nelson, C. B. (1995). Posttraumatic Stress Disorder in the National Comobidity Survey. Archives of General Psychiatry, 52, 1048-1060.
Maercker, A. & Rosner, R. (2006). Psychotherapie der Posttraumatischen Belastungsstörungen. Stuttgart: Thieme.
Maercker, A. (2003). Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung. Berlin: Springer (2. Aufl.).
World Health Organization (WHO) (1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V. Bern: Huber.



Fußnoten:

1 Zur Erläuterung: Die PTBS kann erst 4 Wochen nach dem Ereignis als Diagnose vergeben werden. Innerhalb der ersten 4 Wochen nach dem Ereignis wird die so genannte „Akute Belastungsstörung“ als Diagnose vergeben, deren Kriterien der einer PTBS sehr ähnlich sind.

2 Zur Erläuterung: Das Wiedererleben ist nicht von der Person intendiert, d.h. absichtlich herbeigeführt. M.a.W., es ist nicht so, dass der traumatisierte Mensch absichtlich und von sich aus an das Ereignis denken will, sondern vielmehr daran denken muss. Die Erinnerungen drängen sich quasi auf, während der Betroffene ständig bestrebt ist, genau das zu vermeiden.

3 An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass Anwälte und Richter durch vehementes und bohrendes Fragen, bzw. durch die Aufforderung, die gesamte traumatische Situation minutiös und detailreich wieder zu erzählen, die selbe Reaktion beim Opfer auslösen können.