Islamismus – Die Herausforderungen einer Weltanschauung

Von Dr. Marwan Abou-Taam

Der gemeinsame Nenner aller islamistischen1 Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des Islam. Sie bekennen sich, ohne Ausnahme, zu den Lehren des Islam und beanspruchen für sich, die einzig wahre Interpretation zu besitzen. Der Islam verbindet also diese Bewegungen und gleichzeitig grenzt er sie von anderen politischen Bewegungen innerhalb und außerhalb der islamischen Zivilisation ab. Die eben erwähnte Verbindung ist in erster Linie lediglich eine theoretisch-konzeptionelle.

In vielen Ländern der islamischen Zivilisation existiert eine Vielfalt von sich auf dem Islam begründenden Bewegungen, die ihrerseits selbst zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen.2 Dennoch soll verallgemeinernd vom Islamismus gesprochen werden, denn die ideologische Grundlage aller islamistischen Bewegung ist dieselbe. Die Islamisten formulieren ihr Anliegen stets mit religiösen Traditionen und Texten, dadurch entsteht eine Verbindungslinie, die islamistische Bewegungen in der gesamte Welt des Islam aufweisen, die es möglich macht, allgemein gültige Aussagen bezüglich der grundsätzlichen Ideologie aller islamistischen Bewegungen zu machen. Geleitet werden sie von einer Weltanschauung, die die Überzeugung impliziert, dass der Islam eine absolut gültige Wahrheit darstellt, die durch Gottes Wort im Quran offenbart und dokumentiert wurde. Eine Annahme, die alle monotheistischen Religionen bezüglich ihrer jeweiligen Glaubensinhalte gemeinsam haben, wenn da nicht wäre, dass durch die Politisierung dieser Überzeugungen, ein Herrschaftskonzept aufgestellt wird, das den Islam als al-hall al-Islami/die islamische Lösung3 für alle sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bereiche der Umma/ islamischen Gemeinde sieht.
In diesem Zusammenhang betont Tibi nicht nur den Unterschied zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als der politisierten Form des Islam und fasst zusammen:
„Kultursoziologisch ist der fundamentalistische islamische Revivalismus Ausdruck einer defensivkulturellen Reaktion auf die Herausforderungen der westlichen Moderne. Ideologisch artikuliert sich diese Defensivkultur aggressiv; dabei will sie nicht nur defensiv gegen die westliche Penetration vorgehen, sondern durch einen militärischen Sieg über die erklärten westlichen Feinde offensiv werden, auch wenn dies unter den gegenwärtigen Bedingungen nur Wunschdenken bleibt. Mit anderen Worten: Es geht nicht um die Aneignung der Moderne, mit dem Ziel, die Kluft zwischen Orient und Okzident zu schließen, sondern primär darum, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten. Es ist dabei niemals die Rede von kulturellem Relativismus, geschweige denn von gleichberechtigter Pluralität der Kulturen nach dem Prinzip der Vielfalt. Der Fundamentalismus ist deshalb nicht nur der Traum von einer „halben Moderne“, sondern auch der Traum von einer islamischen Weltherrschaft.“4
Der religiös motivierte politische Extremismus ist daher ein immanenter Reaktionsmechanismus auf die konstitutiven Krisen der betroffenen Gesellschaften. Er ist eine totalitäre Ideologie, die aus einer „Auseinandersetzung mit der der Moderne entsprungenen Sinnkrise“ hervorgegangen ist und „von der Moderne beeinflusst und zugleich gegen sie gerichtet ist.“5
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften bezüglich aller den Alltag betreffenden Gegebenheiten. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei zentrale Charakteristika islamistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der Gesellschaft inklusive der Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatliche Grenzen anerkennt und den Staatsbürgerbegriff negiert. Nach islamischer Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl zur khair Umma/ besten Gemeinschaft (Quran 3/110) alle Muslime trotz aller Differenzen. Daraus leitet der politische Islam ab, dass alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl der Gemeinschaft orientieren muss, denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott und der Umma zu verstehen. Damit steht die Gemeinschaft uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses, das Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen.
Die universelle Geltung des Islam ist kein Produkt dieser relativ jungen Erscheinung des politischen Islam. Ähnlich wie das Christentum erhebt der Islam einen Universalitätsanspruch. Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/ Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff, der Gott als den absolut Einen beschreibt, und wird von westlichen Religionswissenschaftlern als Beweis für den islamischen Radikalmonotheismus angesehen: neben Gott soll der Mensch keine weiteren Gottheiten verehren.6 Damit wird eine Absolutheit beansprucht, die im Prinzip alle drei großen monotheistischen Religionen teilen, was u.a. die Basis gegenseitiger Konkurrenz untermauert. Der Islamismus politisiert diesen Anspruch und besteht darauf, den interpretierten Befehl Gottes, die Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Weltunordnung als eine Zelebration des Unvermögens des politischen Islam ist die Folge. Seine Ideologie einer sakralen Herausforderung basiert auf drei zentrale Prinzipien, die bereits vom Mentor und Chefideologen des politischen Islam, Sayyid Qutb, in aller Deutlichkeit definiert worden sind7:

  • Rückfall der Menschheit in das Zeitalter der Djahiliya8
  • Die Einführung der Gottesherrschaft/ Hakimiyat Allah
  • Die islamische Weltrevolution/ At-thaura al ´alamiya9


Bei näherer Untersuchung islamistischer Bewegungen kann man vier zentrale Leitlinien feststellen, die die angesprochene Verbindung manifestieren: Die Universalität des Islam in seiner politischen Form, der Djahiliya-Zustand der Menschheit, der Djihad als eine verbindliche Verpflichtung aller Gläubige und schließlich die Schaffung eines Friedenszustandes im Sinne der Integration aller Menschen in das Haus des Islam, was im Prinzip die Islamisierung der Welt bedeutet.10
Während die Universalität des Islam eine Wahrheit darstellt, die mit aller Anstrengung erreicht werden soll, ist der Djahiliya-Zustand, einer, der mit aller Anstrengung bekämpft und aufgehoben werden muss. Daraus wird deutlich, dass der Djihad die logische Konsequenz beschreibt, wie man seine Ziele erreicht. Also ist der Djihad ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustandes vom islamischen Frieden. Dabei muss man bedenken, dass in der Denkstruktur von Islamisten die Universalität des Islam und die Djahiliya Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können.11

Das Gedankengebäude des Islamismus


Islamisten interpretieren die Welt im Kontext einer religiösen Weltanschauung, welche ihrerseits einen dauerhaften Kampf zwischen Gut und Böse unterstellt. Diese Vorstellung wird konsequent mit den entsprechenden Schlussfolgerungen in die politische Ideologie eingebunden. Gott als Schöpfer aller Menschen soll von allen Menschen verehrt werden. Seine Gesetze müssen befolgt werden, damit ein Zustand seelischer Befriedung erreicht werden kann. Nur dadurch kann der Mensch in der Wahrnehmung der Islamisten seinen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung wiedererlangen.12 Die Universalität des Islam und die damit verbundene Da`wa/ Ausweitung des Glauben sind damit, so Hassan al-Banna, eine Rettungsaktion für die Menschheit,13 denn der Islam sei die Religion aller, die Recht, Gerechtigkeit und Freiheit wollen.14
Daraus ergibt sich die Ablehnung nationalstaatlicher Grenzen, denn die einzige Grenze ist damit jene zwischen den Mu´minun/ Gläubigen und den Kafirun/ Ungläubigen. Dem universalistischen Anspruch und der Absolutheit der göttlichen Wahrheit wird durch die Islamisten darüber hinaus die Souveränität Gottes als einzig gültige entnommen. Die Hakimiya/ Herrschaft wird ausschließlich vom einzigen Souverän getragen, so dass das Prinzip der Hakimiyat Allah15/ Gottesherrschaft eine der wichtigsten Säulen der islamistischen Ordnung darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz verstanden, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Schari´a. Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der Moslem hat sich diesen unterzuordnen.16 Hier baut der Islamismus eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich im Bezug auf die Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird, das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jegliche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Qutb.17 Tatsächlich ist der extremistische Islamismus mit Demokratie nicht vereinbar.
Diese Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaftlicher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden.18 Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von vermeintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Die Weltanschauung des Islamismus vertritt eine dualistische Weltsicht, die die menschliche Geschichte als einen permanenten Kampf zwischen Gut und Böse interpretiert.

Der Djihad oder die Idee vom heiligen Kampf


Djihad leitet sich vom arabischen Wortstamm „Djahada“ ab, womit alle möglichen Aktivitäten gemeint sind, die infolge von Anstrengung, und Maximaleinsatz zustande kommen. Dagegen ist der Begriff Heiliger Krieg während der Synode in Clermont am 27. November l095 n. Chr., als Papst Urban II. die Christen mit den Worten „Gott will es“ zum Heiligen Krieg aufrief, geprägt worden.19 Die Verbindung von Djihad und Heiligem Krieg ist eine moderne Projektion eines christlichen Konzeptes auf den Islam, jedoch entspricht diese Projektion die tatsächlich Perzeption des Djihad-Konzeptes durch die Mehrheit der Islamisten. Beschäftigt man sich mit der Literatur über den Djihad, so wird man feststellen, dass unterschiedliche Positionen vertreten werden, die sich im Prinzip in zwei Kategorien unterteilen lassen:

  1. Djihad ist Krieg gegen Ungläubige, mit dem Ziel, sie zu bekehren oder, wenn dies nicht möglich ist, sie zu vernichten;
  2. Djihad hat mit Krieg nichts zu tun und bedeutet lediglich Anstrengung auf dem Pfad des Glaubens.

Der arabische Wortstamm Djahada wird im Quran an diversen Stellen gebraucht und drückt sehr oft unterschiedliche Sachverhalte bzw. Aufforderungen an die Muslime aus. Die Sure Al Furkan benutzt den Ausdruck Djihad als eine Form des Dialoges, dort heißt es, „gehorche nicht den Glaubensverweigerern und setze dich mit ihm (Quran) ein gegen sie mit großem Einsatz“ (Quran 25:52) Dieser Vers wird umrahmt durch die Verse: „hätten Wir es gewollt, hätten Wir wahrlich in jede Stadt (Siedlung) einen Warner geschickt“ (Quran 25:51) und „Wir haben dich nur als Bringer froher Botschaft und als Warner gesandt“ (Quran 25:56) Aus den zitierten Versen und aus ihrem Kontext wird deutlich, dass hier der Prophet Mohammad aufgefordert wird, durch Dialog und Debatte mit den Argumenten und den Wundern des Qurans, seine Widersacher zu überzeugen und er soll dies mit großem Einsatz versuchen, was tatsächlich mit dem Begriff Djihad formuliert wird.
An anderer Stelle des Qurans wird vom gläubigen Muslim erwartet, dass er mit seinem Besitz und seiner Person Djihad betreibt. So lautet der Vers (Quran 49:15) „Die Gläubigen sind nur diejenigen, die an Allah und seinen Gesandten glauben und dann nicht zweifeln, sondern mit ihrem Besitz und ihrer Person sich ganz einsetzen (Djihad betreiben) auf dem Wege Gottes. Das sind die wahrhaft Gläubigen“ Aus diesem Vers kann man den bewaffneten Kampf ableiten. Man könnte jedoch die Aussage „sich ganz einsetzen auf dem Wege Gottes“ als eine Aufforderung zur Mobilisierung aller menschlichen Kräfte, Besitz und körperlicher Anstrengung im „Kampf“ gegen Ungerechtigkeit, Armut usw. verstehen, denn „[T]he greatest Djihad is to speak the word of truth to a tyrant.“20 Trotzdem hat der Djihad-Begriff in seinem quranischen Kontext eine militärische Dimension. Obwohl die quranischen Texte im Wesentlichen eine Unterscheidung zwischen Qital also Kampf und Djihad, was wie schon beschrieben meistens in Form von Bemühung, im Sinne Gottes, die göttlich vorgeschriebenen Ziele zu erreichen, benutzt wird, machen, kann Djihad eine kriegerische Form einnehmen.21
Insgesamt ist zu bemerken, dass der Quran in allen zitierten Stellen, die zum Kampf auffordern, nicht den Begriff Djihad benutzt, sondern das arabische Wort Qital, was in der Tat Kampf bedeutet. Dass Qital auch Djihad sein kann, ist eine Interpretation der quranischen Verse im Kontext gesellschaftlicher und historischer Gegebenheiten. Turner stellt in diesem Zusammenhang fest: “jihad, as signifying the waging of war, is a post-Koranic usage.”22
Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Djihad als eine fard kifaya/ kollektive Verpflichtung, die sich von den fard ´ayn/ individuellen Verpflichtungen insofern unterscheidet, als dass die fard kifaya vom Kalifen/ Herrscher im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch wurde frühzeitig der Djihad zum Mittel der Politik.23
Die Auffassung über die Pflicht der Muslime, Mission auch mit Mitteln des bewaffneten Djihad durchzuführen, wurde durch die autoritative Universität Al Azhar in Kairo revidiert. Al Azhar betonte, dass Waffengewalt grundsätzlich nur zur Selbstverteidigung erlaubt sei, sodass die Da´wa/Missionierung nur gewaltlos erfolgen darf.24 Damit verbunden ist die Tatsache, dass der Quran nach jener Interpretation keinen Zwang im Glauben erlaubt.25 Jedoch wurde diese Revidierung durch den Islamismus nicht nur zurückgewiesen, vielmehr fand eine Verschärfung des Konzeptes statt, die den Djihad zu den Säulen des Islam erklärte.
Bereits nach der Invasion Napoleons in Ägypten setzte bei den Muslimen ein Nachdenken über die Ursachen für Ihre Unterlegenheit gegenüber dem Westen ein. Bestimmte, sich religiös definierende Kreise, gelangen zu der Erkenntnis, dass die Muslime den Islam verfälscht hätten und dies der Grund ihrer Unterlegenheit sei. Wenn die Muslime wieder erfolgreich sein wollten, wie ihre Vorfahren unter Mohammad und in der Frühzeit des Islam, mussten sie zu den Fundamenten des Islam, d.h. zum unverfälschten Islam, wie ihn Mohammad gelehrt hatte, zurückkehren. Wenn der Islam die einzig wahre Religion ist, muss auch das auf ihm basierende Ordnungssystem das einzig wahre und folglich den anderen möglichen Modellen weitaus überlegene sein. Entsprechend begann Hasan al-Banna 1928 diese Gedanken politisch umzusetzen und eine islamistische Ideologie zu propagieren, indem er die Bewegung der Muslimbrüder gründete und als politisches Ziel die Errichtung eines islamischen Staates verkündete.26 Dort sollte die Schari´a vollständig angewendet werden. In seiner Abhandlung über den Djihad zieht er den Quran und die Hadithe/ mündliche Überlieferungen des Propheten selektiv heran und gelangt zu dem Ergebnis, dass Djihad eine Pflicht für jeden Muslim darstellt.27 Dabei verwendet er Djihad und Qital synonym.
Hassan al-Banna erlebte die Einflussnahme der Briten in Ägypten sehr intensiv und empfand die Hinwendung Ägyptens zum Westen als Abweichung von den islamischen Lehren.28 Daher verstand er den Djihad als Widerstandsrecht gegen bestehende Regime bzw. Krieg gegen Ungläubige.29 Das neue Konzept des Djihads, also Djihadismus, wurde von führenden fundamentalistischen Ideologen dahingehend interpretiert, dass der Djihad ein Krieg gegen die Ungläubigen sei, der als Pflicht für jeden Muslim gilt und im Prinzip keine Beschränkungen, weder in der Wahl der Mittel noch der Ziele kennt. Dabei werden auch individuelle Morde, was die Orthodoxie verbietet, als eine legitime Form des Djihad verstanden.
Eine weitere Radikalisierung erfuhr die Muslimbruderschaft durch die Gedanken von Sayyid Qutb. Er hat das Konzept von Haus des Friedens und Haus des Krieges aus seinem historischen Kontext rausgerissen und neubelebt. Seine zentralste Idee war, dass es die Aufgabe des Menschen sei, stellvertretend für seinen Souverän zu regieren. Demnach war Djihad nicht nur ein Verteidigungskrieg zum Schutz des islamischen Machtgebiets Haus des Friedens, vielmehr ging es darum, den Zustand der Djahiliya zu bekämpfen und den Westen abzuwehren.30 Der Djihad wurde gegen die muslimischen Gesellschaften erklärt, die nach Meinung der Fundamentalisten in den Zustand der Djahilija zurückgefallen seien. Somit wurde die klassische Auffassung im 20. Jahrhunderts, insbesondere mit dem Erscheinen des Fundamentalismus neu interpretiert und wesentlich abgewandelt, so dass nun auch Formen deregulierter Kriegführung, wie etwa Terrorismus, religiös gerechtfertigt werden,31 mit dem erklärten Ziel, die alte islamische Ordnung, wie sie zu Zeiten des Propheten Mohammad Bestand hatte, wiederherzustellen und den Islam zu alter Größe zurückzuführen. Seine Vorstellung einer islamischen Ordnung, die auch unter den heutigen Islamisten verbreitet ist, fasste er unter dem Begriff al-nizam al-islami/ islamische Ordnung zusammen.32 Damit wird ein auf islamischen Grundsätzen basierendes Staatswesen verstanden, dessen wichtigstes Zeichen die Anwendung der Schari´a, also des islamischen Rechts ist, eine Forderung die nichts an Aktualität verloren hat.33
Ähnlich wie Hassan al-Banna argumentierten auch seine Nachfolger. Hier sind ideologisch gesehen zwei Personen maßgeblich für die Entstehung des heutigen Djihadismus verantwortlich. Zum einen der Pakistani Abulala al-Maududi und zum anderen der 1966 hingerichtete Ägypter Sayyid Qutb.34
Al-Maududi sowie Qutb setzten sich mit einer ähnlichen und aus ihrer Sichtweise sicherlich noch schlimmeren Lage der islamischen Welt ausein-ander. Die Implementierung des Nationalstaates als politische Organisations-form in den Ländern des Islam erbrachte keinerlei Verbesserung der Situa-tion nach dem Ende der Kolonial- bzw. Mandatsherrschaft. Im Gegenteil, es etablierten sich auf partielle Teile der Bevölkerung gestützte Regime, die nicht in der Lage waren, mit den Ansprüchen der Moderne Schritt zu halten und nicht einmal die innere Lage stabilisieren konnten, es sei denn mit repressiven Methoden. Schuld an dieser Entwicklung waren allerdings aus der islamistischen Sicht nicht nur die ungläubigen Regierungschefs, sondern auch der Westen, der durch die Errichtung von Nationalstaaten, eine fortgesetzte Einflussnahme und Schwächung der islamischen Welt erreichen wollte. Aus dieser Ansicht heraus entwickelte sich die neue und sehr radikale Auslegung des Djihad-Konzeptes. Djihad sollte zur Überwindung und Beseitigung bestehender Regime und gegen die Einflussnahme des Westens geführt werden, um den Islam zu alter Stärke zurückzuführen. Der Djihadismus ist heute die zentralste Handlungslogik des international agierenden Terrorismus islamischer Prägung. Die Islamisten erfüllen ihrer Meinung nach einen göttlichen Auftrag.

Islamische Weltrevolution – oder die Islamisierung der Welt


Die dritte Säule des Islamismus ist nichts weniger als die Einführung einer islamischen Weltordnung, die nach eigener Vorstellung den Weltfrieden sichert. Diese Vorstellung vom Weltfrieden im Rahmen einer Pax Islamica soll theoretisch eine Alternative zum heutigen System internationaler Beziehungen darstellen.35 Diese Ordnung zielt in erster Linie darauf, eine Friedensordnung zu implementieren, die den Machtanspruch der Islamisten manifestieren soll. Die Lektüre islamistischer Ideologen macht jedoch deutlich, dass „the idea of a revolutionary new Pax Islamica is too eccentric to have a chance of successful implementation.”36 Zwar schreibt Qutb davon, dass die islamische Revolution Recht und Gerechtigkeit für die gesamte Menschheit walten lassen wird und führt fort, dass die Botschaft, die der Islam bringe, eben die Führung der Menschheit in die Sphäre des Lichtes beinhaltet.37 Diese doch so großen utopischen Vorstellungen werden jedoch keineswegs mit einem Konzept untermauert.38 Diese Gerechtigkeit drücke sich schließlich in der Beziehung des Einzelnen zu Gott aus, die letztlich hohe moralische Qualitäten produziere, die das gerechte Verhalten der Menschen bestimmen würden.39 Der Friedenszustand, den der einzelne in der Begegnung mit Gott erreiche, führe schließlich zu Konstituierung eines Friedenszustandes auf der persönlichen Ebene, der sich natürlich positiv auf den Weltfrieden auswirken würde.40 Diese Gedanken sind zunächst ungefährlich, wären sie nicht mit einer aggressiven Vorstellung von Mission verbunden. Die Voraussetzung ist eben, dass alle Menschen Muslime sind, die alle von den Islamisten definierten moralischen Vorstellung erfüllen. Diese totalitaristische Vorstellung hat Maududi ebenfalls betont, in dem er schreibt:
„Der islamische Staat ist ein totalitärer Staat, der das gesamte menschliche Leben bestimmt […] Kein Bereich des Lebens wird ausgenommen […] So dass er Ähnlichkeiten mit dem Faschismus und den Kommunismus aufweist […]“41
Die Islamisten definieren entsprechend Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit der Friedenszustand erreicht werden kann42:

  • Freiheit der islamischen Mission
  • Durchsetzung von Gottes Gesetz
  • Akzeptanz des Islams in seinem universalistischen Anspruch
  • Schaffung von Gerechtigkeit auf der Grundlage der Schari´a


Das Selbstverständnis der Islamisten bezüglich Staat, Staatlichkeit und internationalen Beziehungen baut auf vormodernen Gedankenstrukturen.43 Ihre Argumentation erinnert daran, dass sie die Welt dualistisch wahrnehmen, so dass sie gemäß ihrer Ideologie eine Einheitslösung vorstellen, die alle Probleme der Menschheit mühelos lösen soll. Ihre Vorstellung basiert darauf, dass sie, sobald sie an der Macht sind, in einem Zustand der „permanenten Revolution44 geraten, der durch die göttliche Führung, die Lösung aller Probleme produziert. Trotzki baute seine Theorie auf der Annahme, dass:
„Der Abschluss einer sozialistischen Revolution … im nationalen Rahmen undenkbar [ist]. [...] Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“45
Ähnliche Gedankenzüge vertritt der Islamismus, allerdings nicht mit sozialistischen Zielsetzungen, sonder mit der Idee, dass die weltweite Implementierung des revolutionären Islams, einen neuen göttlichen Friedenszustand herbeiführt, denn:
„Das Ziel des Djihad ist, eine Weltrevolution (thaura ´alamiya) zu verwirklichen … und durch diese Revolution verwirklicht der Islam … am Ende den Frieden der Menschheit … Das bedeutet, dass der Islam ein permanenter Djihad ist, der nie unterbrochen wird, bis Allahs Wort auf dem gesamten Globus Geltung findet und damit die Rechtgeleitete Ordnung Wirklichkeit wird.“46
Hier wird übersehen, dass es nur selten Beispiele dafür gibt, dass Islamisten in der politischen Verantwortung selbst auf der Mikroebene gesellschaftliche Probleme positiv gelöst haben. Die Zelebration ihres Unvermögens im Iran, im Sudan, in Afghanistan usw. verdeutlicht den utopischen Charakter ihrer politischen Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart.
Abschließend muss man feststellen, dass die islamistische Ideologie im Friedensbegriff nicht den Zustand des Nicht-Krieges sieht, sondern einen Zustand in dem ihre Vision vom Islam die Welt dominiert. Die Geltung göttlicher Gesetze für die gesamte Menschheit ist das Ziel. Dieses ist jedoch eine totalitaristische Vorstellung, die dem westlichen Verständnis von Freiheit und Demokratie diametral entgegensteht.47
Der Idealzustand der Islamisten ist die islamische Vergangenheit und spezifisch der Ur-Islam des Propheten, damit ist ihre Utopie rückwärts gerichtet und basiert auf eine Rekonstruktion der Geschichte. Die Ursache für ihr Elend verorten sie im Westen. Dabei entsteht Hass und ein damit korrespondierendes „Feindbild Westen“. In seiner anti-westlichen Orientierung dient der Islamismus als eine Artikulationsform einer Protestbewegung, die sowohl hilft, die Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, als auch das erlittene Elend zu kompensieren.

Muslime in Europa – Europa und seine Muslime


Die Islam-Diaspora durchläuft in den meisten westlichen Gesellschaften einen Konsolidierungsprozess. Die Menschen sind dabei, sich in der sie umgebenden Gesellschaft zu positionieren. Diese Prozesse beeinflussen sich gegenseitig und werden von den lokalen, regionalen und globalen Ereignissen massiv gelenkt. Geprägt sind Muslime von einer islamischen Weltanschauung oder zumindest einer den Werten des Islams entsprungenen Erziehung. Heute können wir beobachten, dass sowohl die Mehrheitsgesellschaft, als auch die muslimischen Migranten in Krisenzeiten überfordert sind. Es werden jeweils Solidargemeinschaften definiert, die ihre Eigeninteressen vertreten und um begrenzte Ressourcen wie Sozialleistungen, Wohnungen oder Arbeitsplätze konkurrieren. Das stört natürlich den inneren Frieden, denn Feindbilder und Verschwörungstheorien gewinnen an Bedeutung, während die innergesellschaftliche Solidarität schwindet. Aus der Perspektive der Sicherheitspolitik stellt sich hier die Frage, wie sich Muslime im „Kampf der Weltanschauungen“ verhalten und wie sich die Mehrheitsgesellschaft positioniert. Der Islamismus als Exklusivideologie instrumentalisiert in diesem Zusammenhang die fehlende soziale und wirtschaftliche Integration der Islam-Diaspora und nistet sich in ihren ghettoähnlichen Wohnvierteln ein, so in Paris oder Brüssel. Selbstethnisierung sowie Diskriminierung von außen werfen Fragen nach der Identität der Muslime in Europa sowie nach der Lebensqualität für Muslime und Europäer auf. Hierbei ist die Verteufelung der Muslime genauso gefährlich für die Integration wie die Ausbreitung eines militanten Islamismus.
Der Islam ist eine soziale Realität in Europa. Diese Feststellung verlangt von der Gesellschaft im Kontext des neuen sicherheitspolitischen Umfeldes eine neuartige Strategie, die einerseits den Djihadismus vehement bekämpft, anderseits die Muslime im Westen für die zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung gewinnt. Dabei hilft nur eine Integrationspolitik, die eine verbindliche Werteorientierung bietet.
Die Säkularisierung war ein europäisches Phänomen. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung wurde die Trennung von Staat und Religion nicht vollzogen. Nun leben Menschen in Europa, für die die Religion Teil der Inszenierung ihrer Identität ist. Religion fördert ihre Gemeinschaftsbildung, wobei normative Gewissheiten neu vergegenwärtigt werden. Die weltweite Konfrontation des Islamismus mit dem Westen wirkt sich auf diesen Gemeinschaftsbildungsprozess aus. Aus den Mitgliedern einer verunsicherten Islam-Community können von den gut aufgestellten Islamisten leicht Djihadisten rekrutiert werden. Problematisch ist, dass den meisten sicherheitspolitischen Akteuren die Religiosität der Muslime völlig fremd ist. Der Zusammenhang zwischen der Funktion des Religiösen und der Artikulation des Politischen wird nicht in die soziopolitische Analyse einbezogen. Umso mehr ist man überrascht, dass Konflikteskalation und Gewaltausbrüche nicht rechtzeitig erkannt bzw. verstanden werden. Daher muss man in der Strategie Toleranz gegenüber dem offenen europäischen Islam; wehrhafte Demokratie gegenüber dem Islamismus die Kenntnisse, des Islam und seiner Geschichte erweitern. Die Differenzierung sollte Teil der Strategie sein.
Es redet sich leicht von „dem Islam“, doch ist dieser umso schwieriger zu bestimmen, da der Islam nicht Subjekt seiner selbst ist. Wer also soll sich welche Werte zu eigen machen? Besser ist es, vom „Islam in Deutschland“ zu sprechen. Den besten Beitrag zu dem gesellschaftlichen Frieden und der inneren Sicherheit in Deutschland kann daher ein Islamverständnis leisten, das die säkularen Werte unterstützt. Ein solches Islamverständnis ist schon vorhanden. Es bedarf lediglich der Stärkung seiner Rolle in der deutschen Gesellschaft.
Langfristig ist es unerlässlich, dass sich unter den Muslimen ein Säkularisierungskonzept durchsetzt. Die Loslösung von tradierten Weltbildern, die heute die Grundlage der islamistischen Weltanschauung darstellen, ist die Grundlage eines europäischen Islam, der sich mit den Werten Europas vereinbaren lässt. Diese Transformation muss innerhalb des Islam stattfinden und europäische Werte enthalten, die islamisch begründet sind. Eine reformerische Interpretation des Islam, die ihn mit Europa verbindet, basiert auf den Werten:

  • Säkularisierung
  • Demokratie
  • Menschenrechte religiöser und kultureller Pluralismus
  • Zivilgesellschaft.

Die Beheimatung des Islam und die deutsche Gesellschaft


Dieser deutsche Islam kann durchaus von außen gefördert werden, indem die europäische Zivilisation zu ihren demokratischen, liberalen Werten als Orientierung steht und diese verteidigt sowie die Wertebeliebigkeit jenseits des demokratischen Bewusstseins zurückweist. Eine sich an diesem Konzept orientierende Integrationspolitik ist weit erfolgversprechender und verhält sich im Kampf gegen den Terrorismus komplementär zum militärischen und polizeilichen Vorgehen. Die Gesellschaft muss sich prinzipiell auf zwei Szenarien vorbereiten, an denen sich die Frage der Integration entscheidet:

  • Islam im Sinne von Djihadismus
  • säkulare Islamkultur

Die Politik, der Staat und die Gesellschaft müssen durch Dialog auf die zweite Form hinarbeiten, denn ein djihadistischer Islam in Europa gefährdet die Identität Europas und führt in eine europäische Katastrophe. Zwischen der westlichen und der islamischen Weltanschauung gibt es große Unterschiede, die handfeste Wertekonflikte produzieren. Setzt sich der Islamismus durch, so führt dies zur kompletten Entkoppelung der Muslime von der europäischen Mehrheitsgesellschaft.
Für den Identitätsbildungsprozess vieler in Deutschland lebender Muslime heißt das, dass im Rahmen der Bekämpfung des Islamismus die persönliche Identität der Muslime als wirkender Bestandteil der Gesellschaft gewährleistet wird. In diesem Sinne muss die Integration neben der Anerkennung der Werte der Verfassung seitens der Muslime identitätsbildende Elemente beinhalten, die es den Muslimen ermöglichen, faktisch als Muslim und deutscher Bürger existieren zu können. Eine etwaige gefühlte offensive Bekämpfung der muslimischen Identität wird naturgemäß bei jedem noch nicht integrierten Muslim eine für den Integrationsprozess kontraproduktive Abwehrhaltung bewirken. Solange die neuen Werte der Aufnahmegesellschaft noch nicht verinnerlicht worden sind, wird der Bruch mit alten Werten nicht vollzogen werden können. Wenn dies krampfhaft geschieht, so vergrößert sich die Gefahr, in Extremideologien abzurutschen.
Kann der Islam zum gesellschaftlichen Frieden in Deutschland und Europa beitragen? Grundsätzlich ja. Aber dazu bedarf es einer stärkeren Einbindung von Muslimen in die Diskussion um einen religiösen und lebensanschaulichen Pluralismus, sowie um die Rolle der Religionen in einem säkularen, demokratischen Rechtsstaat. Die Vorzüge einer freiheitlichen Verfassung sollten allen Bürgern deutlich gemacht werden. Muslime und Nicht-Muslime müssen erkennen können, dass die freiheitlich liberale Grundordnung der Bundesrepublik durchaus Entfaltungsoptionen bietet, die durch die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte wirken. Erst durch die Pluralität des Politischen kann Stabilität erzeugt werden und Stärke von Gewalt radikal getrennt werden. Damit wird die Dominanz der Mehrheit relativiert und Raum geschaffen anzuerkennen, dass die Vielfalt der Gesellschaft die Rechte von Minderheiten schützt und nicht gefährdet. Dabei impliziert die Freiheit das potenzielle „Sich irren“. Freiheit kann nur sein, wenn man zwischen grundlegend verschiedenen Optionen wählen kann. Damit ist Pluralismus eine Grundvoraussetzung des Freiheitlichen.
Zum Frieden kommt es erst, wenn sich der Islam in eine säkulare Wertordnung fügt. Das so überaus häufig angeführte Zitat des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ behält daher seine Gültigkeit.
Bestimmte Islamverständnisse sind mit der Werteordnung einer säkularisierten Gesellschaft schlicht nicht vereinbar. Diese manifestiert sich in konkreten Errungenschaften wie beispielsweise der Achtung von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit. Der Säkularismus ist zudem nicht grundlos entstanden, die Religionskriege im Mittelalter haben wesentlich zur Lernkurve des europäischen Kontinents beigetragen. Der Aufklärungsglaube, dass die Religionen Überflüssig würden, hat sich jedoch als falsch herausgestellt.
Die kulturelle Substanz säkularisierter Gesellschaften bildet der Humanismus. Eine Synthese von Religion und Humanismus ist möglich und sogar wünschenswert, sie darf jedoch nie auf Kosten des Pluralismus gehen. Wenn religiöse Überzeugungen humanistische Werte dann für sich hervorbringen, so ist das ein Gewinn für die Gesellschaft.
Die „Menschenwürde“, vor allem die Anerkennung des anderen in seiner Andersheit, muss in den Mittelpunkt der Religiosität rücken. Muslime in Deutschland und in Europa sollten die Freiheiten eines demokratischen Rechtsstaats und die Offenheit der Zivilgesellschaft nutzen, um das humane Potential des Islam zur Geltung zu bringen und auf beispielhafte Weise zu einer spirituellen Erneuerung einer noch toleranteren Gesellschaft beizutragen. Es müssen gemeinsame Narrative entstehen. Daran muss sich der Beitrag der Muslime, aber auch des Islam insgesamt, zu einer gerechten Friedensordnung in der Welt messen lassen. Ohne die Beteiligung des Islam an einer gemeinsamen Wertebasis, bleiben die Muslime auf Dauer von einer offenen, pluralistischen Zivilgesellschaft ausgeschlossen.
Dass der Islamismus „bekämpft“ werden muss, mag manchen zu schroff erscheinen. Es gilt jedoch, eine klare Position gegenüber dem Islamismus als einer Spielart eines religiösen Radikalismus einzunehmen. Jugendliche interessiert nicht, was Islamismus eigentlich bedeutet; sie fühlen sich von bestimmten Positionen, Themen und Symbolen angezogen. Für manche muslimische Jugendliche ist Islamismus weniger eine Denkschule als vielmehr eine Erlebniswelt. Als solche bildet sie einen Gegenentwurf zur deutschen säkularen Mehrheitsgesellschaft. Hier muss aber auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft Klarheit darüber bestehen, dass der Islamismus auch in seiner gewaltlosen Variante extremistisch ist, insofern als er langfristig auf eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft nach vermeintlichen islamischen Normen abzielt.
Gegenüber der Intoleranz darf keine Toleranz praktiziert werden. Toleranz gegenüber gewalttätigen Fanatikern, die sich gegen das Grundgesetz und die Religionsfreiheit stellen, ist inakzeptabel. Das gilt auch für jene Extremisten, die glauben, dass sie im Namen des Islam Unschuldige töten dürfen. Jene, die von sich behaupten, dem einzig wahren Glauben und der einzig wahren Religion zu folgen, begehen einen Denkfehler. Denn die Annahme, dass sie den Koran wortwörtlich befolgen, ist falsch. Auch sie interpretieren die Heilige Schrift und zwar oftmals einseitig in einem gewalttätigen, menschenverachtenden und äußerst beschränkten Sinne.
Eine Bekämpfung islamistischer Radikalisierung darf die Versöhnung nicht außer Acht lassen. Eine zivile Konfliktbearbeitung und ein Eintreten für einen weltoffenen Islam sind die Methoden der Wahl.
Eine Auseinandersetzung mit den Sorgen und Ängsten muslimischer Jugendlicher tut not. Diese müssen in der Schule gezielt angesprochen werden. In diesem Zusammenhang müssen säkulare Werte kommuniziert und heikle Themen in den Schulen auf eine differenzierte Art diskutiert werden. Jugendliche müssen durch Gegenfragen zum Nachdenken gebracht werden. Präventive Strukturen in der Schule müssen gestärkt werden, sodass nicht immer erst dann reagiert wird, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Die Prävention muss bei den Eltern bzw. bei der Familie beginnen und darf nicht allein den Lehrern aufgetragen bleiben.


Anmerkungen


  1. Islamisten leitet sich vom arabischen “islamiyyun” ab, der Selbstbezeichnung der Vertreter dieser ideologischen Richtung. Vgl. Hierzu Hanafi, Hassan (1989): Al usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Kairo.
  2. Al-Harmassi, Abd-Al-Ma?g id stellt fest, dass die Zersplitterung islamistischer Organisationen ein verheerendes Ausmaß erreicht hat und beschreibt die Situation im arabischen Maghreb, wo er alleine in Marokko dreiundzwanzig offizielle und mehr als hundertundfünfzig Abspaltungen zählt, die sich nur in kleinen Nuancen voneinander unterscheiden. Vgl. hierzu al-Harmassi, Abd-Al-Ma?g id (2001): Al-Harakat al-islamiyya fi al- Maghreb al-arabi (die islamischen Bewegungen im arabischen Maghreb), in Hamad, Ma?g di (2001): Al-harakat al-islamiya wa-al-dimuqratiya, dirasat fi al-fikr wa-l-mumarasa (die islamischen Bewegungen und die Demokratie, Studien über Ideen und Praxis), 2. Auflage, Beirut, S. 297.
  3. Al-Qaradawi, Yusuf (1980): Al-Hall al-Islami (die islamische Lösung), 2. Auflage, Kairo.
  4. Tibi, Bassam (1992): Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. S. 79.
  5. Tibi, Bassam (1995): Der religiöse Fundamentalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert, Mannheim/Leipzig u.a., S.17 u. 21
  6. Zur Vertiefung vgl. Mooren, Thomas (1991): Macht und Einsamkeit Gottes. Dialog mit dem islamischen Radikal-Monotheismus. Altenberge.
  7. Hierzu vergleiche die beiden zentralen Werke: Sayyid Qutb (1983): Ma´alim fi-al-tariq (Wegzeichen), 4. Auflage, Beirut. Ma´alim fi-al-tariq gehört zu den meist verkauften Bücher in der arabischen Welt. Es liegt in einer unüberschaubaren Zahl von Neuauflagen vor und wurde in vielen Sprachen übersetzt. Die zweite Schrift: Sayyid Qutb (1980): as-salam al- ´alami wal-islam (Weltfrieden und Islam), Kairo.
  8. Hierbei handelt es sich um einen in der islamischen Tradition verwendeten Begriff, der den Zustand der Araber auf der arabischen Halbinsel vor der Offenbarung an Mohammed, also vor der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert, beschreibt. Djahiliya bedeutet auf Arabisch Unwissenheit und bezeichnet allgemein den Zustand der Menschen in der vorislamischen Zeit.
  9. Sayyid Qutb (1992): al-salam al-´alami wa al-Islam (Weltfrieden und Islam), 10. Auflage, Kairo, S. 172f.
  10. Vgl. Tibi, Bassam (2004): Fundamentalism, in: Hawkesworth, M./ Kogan, M. (Hrsg.): Routledge Encyclopaedia of Government and Politics, new edition, London, S. 184-204.
  11. Vgl. Qutb, Mohammad (1980): jahiliyat al-qarn al ´ischrin (Die Djahiliya im 20. Jahrhundert), Kairo, S. 8ff.
  12. Vgl. Qutb, Sayyid (1983): Nahwa mujtama´ islami (In Richtung einer islamischen Gesellschaft), 6. Auflage, Beirut, S. 69. Zur Rolle des Menschen innerhalb der Schöpfung vgl. auch Abd-al Gawad, Yassin (1986): Muqadima fi-fiqh al-jahiliya al mua`ssira (Einführung in die gegenwärtige Djahiliya-Jurisprudenz), Kairo, S. 141.
  13. Al-Banna, Hassan (1984): Majmu´at rasail al Šahid (Die Sammlung der Schriften des Märtyrers), Beirut, S. 63 und 72ff.
  14. Khomeini, R. Mussawi (1978): al-huquma al-islamiya (die islamische Regierung), 2. Auflage Kuwait, S. 41-44.
  15. Das Konzept der Hakimiyat Allah wurde von Qutb, Sayyid (1988): ma´alim fi-al-tariq (Wegzeichen), 4. Auflage, Beirut, S. 94 f. niedergeschrieben. Auch Maududi, S. Abuala (N.N): toward understanding Islam, S. 4-113.
  16. Vgl. auch ders.: Nahwa mujtama´ islami, a.a.O., S. 150-152.
  17. Vgl. Qutb, Sayyid (1965): al-mustaqbal li-hadha al-din (Die Zukunft ist für diese Religion), 2. Auflage, Kairo, S. 12-14.
  18. Maududi: A short History of revivalist Movement in Islam, S. 5-22.
  19. France, J. (1996): Les origines de la Première Croisade. Un nouvel examen, in: Balard, M. (Hrsg.): Autour de la Première Croisade. Actes du Colloque de la Society for the Study of the Crusades and the Latin East (Clermont-Ferrand, 22-25 juin 1995), Paris, S. 43-56.
  20. Mishkat: Book of Rulership and Judgment, ch. 1, sec. 2.
  21. Bassam Tibi (1996): War and Peace in Islam, in: Terry Nardin, (Hrsg.): The Ethics of War and Peace: Religious and Secular Perspectives, Princeton, S. 128-45, sowie Kelsay, John/ Johnson, James Turner (Hrsg.) (1991): Just War and Jihad: Historical and Theoretical. Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, Westport.
  22. Vgl. ebd., S. 36.
  23. Robinson, Francis (Hrsg.) (1996): Cambridge Illustrated History: Islamic World, Cambridge, S. 173.
  24. Jadulhaq, Ali Jadulhaq (1984): al-azhar, bayan lil-nas (Erklärung an die Menschheit), Band 1, Kairo, S. 368ff.
  25. Vgl. Hashmi, Sohail (2002): Interpreting the Islamic Ethics of War and Peace, in Hashmi, Sohail (Hrsg.): Islamic Political Ethics: Civil Society, Pluralism, and Conflict, Princeton.
  26. Vgl. Mitchell, Richard (1969): The Society of the Muslim Brothers, London: Oxford University Press, S. 7.
  27. Al-Banna, Hassan (1978): Five Tracts of Hasan Al-Banna. Hrsg. und übersetzt aus dem Arabischen von Charles Wendell, London.
  28. Vgl. Mitchell, Richard (1969): The Society of the Muslim Brothers, London, S. 4ff.
  29. Vgl. Al-Banna, Hassan (1990): majmu´at rasa`il, a.a.O, S. 271-91.
  30. Vgl. Tibi, Bassam (1990): Islam and the Cultural Accommodation of Social Change, Boulder, S. 122-34.
  31. Vgl. David Rapoport (1990): Sacred Terror: A Contemporary Example from Islam, in: Walter Reich (Hrsg.): Origins of Terrorism, New York, S. 103-30; sowie Edgar O’Ballance (1997): Islamic Fundamentalist Terrorism, 1979-1997 New York.
  32. Vgl. Tibi: Djihad und Djihadismus, a.a.O., S. 232ff.
  33. Mitchell, Richard (1969): The Society of the Muslim Brothers, London: Oxford University Press, S. 207; die Ansicht und Interpretation des militanten Djihad entwickelte al-Banna besonders in seinem Essay ‘Risalat al-Djihad’.
  34. Vgl. Gabriel: Islam and Terrorism, S. 81ff. und 113 ff.; vgl. hierzu auch Partner: God of Battles, S. 234ff.
  35. Vgl.Walter Reich (Hrsg.) (1990): Origins of Terrorism. Psychologies, Ideologies, Theologies, States of Mind, Cambridge, sowie Pillar, Paul R. (2001): Terrorism and US Foreign Policy,Washington/DC.
  36. George, D. (1996): Pax Islamica: an alternative new world order?’, in Sidahmed A. S./ Ehteshami, A (Hrsg.): Islamic Fundamentalism, Boulder, S. 71ff.
  37. Qutb, Sayyid (1982): as-salam al ´alami wal-islam, a.a.O., S. 172f
  38. Haddad, Yvonne (1983): The Qur’anic Justification of an Islamic Revolution: The View of Sayyid Qutb, in Middle East Journal 37:1:14-29.
  39. Vgl. ebd, S. 25, sowie Maududi: The Islamic way of live, a.a.O., S. 23.
  40. Qutb: as-salam al ´alami, a.a.O. S. 36-39.
  41. Maududi (1981): nazariyat al-islam, a.a.O., S. 44.
  42. Yassin: muqaddima fi fiqh, a.a.O., S. 76 und 186 ff.
  43. Vgl. Tibi, Bassam (1983): The Renewed Role of Islam in the Political and Social Development of the Middle East, in: Middle East Journal, Winter/1983, S. 3-13.
  44. Trotzki, Leo (1993): Die Permanente Revolution, 6. Auflage, Essen, S. 267f.
  45. Ebd., S. 18.
  46. Qutb: al-salam al ´alami wa al Islam, a.a.O., S. 172, zitiert in Tibi, Bassam (2004): Der neue Totalitarismus, Heiliger Krieg und westliche Sicherheit, Darmstadt, S. 165.
  47. Vgl. ebd.