Zur Entwicklung des Versammlungsrechts im Lichte der Föderalismusreform I

Von Prof./LRD a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms

 

1 Grundlegung

 

Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Versammlungsfreiheit ist hoch, stellt sie doch oft die einzige Artikulationsmöglichkeit für Unzufriedene und damit eine wichtige Ventilfunktion sowie ein Element demokratischer Offenheit dar. Insbesondere in parlamentarischen Repräsentativsystemen hat sie die Bedeutung eines grundlegenden Funktionselements.2 Die Versammlungsfreiheit wird in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich durch Art. 8 GG gewährleistet. Danach haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Grundrechtsnorm schützt Veranstalter, Leiter und Teilnehmer von Versammlungen, soweit sie sich mit ihren Aktivitäten innerhalb der Schranken der Versammlungsfreiheit bewegen. Nach h.M.3 umfasst der verfassungsrechtliche Schutz nicht allein die eigentliche Veranstaltung, sondern auch die Vor- und Nachphase. Müsste ein Grundrechtsträger darauf gefasst sein, nicht ungehindert einen Veranstaltungsort erreichen oder verlassen zu können, so läge ein Eingriff in seine Willensfreiheit und damit in Art. 8 GG vor. Der hohe Rang der Verfassungsnorm gebietet es, auch die Entschlussfreiheit zu berücksichtigen.

 

 

2 Das Versammlungsgesetz des Bundes (BVersG)


Als eine der wesentlichen Problemstellungen im Demonstrationsgeschehen haben sich die Unvollständigkeit und fehlende Bestimmtheit des versammlungsrechtlichen Normengefüges herauskristallisiert.4 Die Adressaten hoheitlicher Eingriffsakte, aber auch Verwaltung und Gerichtsbarkeit, sind bei der Auslegung und Anwendung der fragmentarischen Bestimmungen häufig bereits gesetzessystematisch überfordert. Über grundlegende Aspekte herrscht tiefgreifende Uneinigkeit. Dabei hat das BVerfG bereits in seinem „Brokdorf-Beschluss“5 die Lückenhaftigkeit des BVersG aus dem Jahr 1953 bemängelt und klarstellende Regelungen angemahnt. Allerdings ohne durchgreifenden Erfolg, denn alle Novellierungsversuche bis hin zum Gesetz zur Zusammenführung der Regelungen über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes vom 8.12.20086 stellen Kompromissentscheidungen und defizitäre Insellösungen dar. Das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip fordert indes zwingend, dass die wesentlichen Fragen exekutiver Befugnisse vom Gesetzgeber eindeutig zu lösen sind. Durch konkrete Vorgaben sollen Gleichmäßigkeit und Neutralität im Widerstreit der Interessen gesichert werden. Es muss aus einer Befugnisnorm unmissverständlich hervorgehen, wie umfassend die Gestaltungsfreiheit der Exekutive ist. Bereits seit den 1970er-Jahren wurde über eine Novellierung des Versammlungsrechts diskutiert. Vor dem Hintergrund zunehmender Demonstrationen rechtsextremer Gruppen an symbolträchtigen Orten empfahl die IMK schließlich am 24.11.2000 eine umfassende Novellierung des BVersG.7 Zur Klärung zentraler Fragen holte das Bundesinnenministerium daraufhin zunächst ein Rechtsgutachten8 ein, legte darauf aufbauend am 12.5.2003 ein Eckpunktepapier (sog. „Schily-Papier“) vor und regte zugleich die Einrichtung einer länderoffenen Arbeitsgruppe zur fachlichen Vorbereitung einer Novellierung an. Dem folgte sodann ein erster Diskussionsentwurf der Arbeitsgruppe vom 17.11.2003, den die IMK zustimmend zur Kenntnis nahm und mit Beschluss vom 18./19.11.2004 das Fachministerium bat, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des VersG einzuleiten. Unter dem Eindruck einer für den 8.5.2005 geplanten NPD-Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin hat der Bundesgesetzgeber dann jedoch partiell verbesserte Eingriffsermächtigungen gegenüber rechtsextremistischen Versammlungen vorgezogen. Neben der Modifizierung des § 130 StGB („Volksverhetzung“) ist durch das Änderungsgesetz vom 24.3.20059 die zentrale Bestimmung des § 15 VersG ergänzt worden. Danach ist das Vorhaben einer Generalrevision seitens des Bundes mit Rücksicht auf die Verhandlungen über die Verlagerung der Gesetzgebungszuständigkeit auf die Länder nicht weiterverfolgt worden. Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 („Föderalismusreform I“10) wurde das Versammlungsrecht sodann aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes entlassen und den Ländern übertragen.

 

3 Föderalismusreform I


Durch die Föderalismusreform I wurden die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern neu geregelt. So erhielten die Länder bspw. die Zuständigkeit für den Bereich des Strafvollzugs, das Laufbahn-, Besoldungs- und Versorgungsrecht der Landes- und Kommunalbeamten sowie das Versammlungsrecht.11 Welche Folgen dies für Rechtsvorschriften hat, die auf fortgefallene Kompetenzen gestützt wurden, wird in Art. 125a GG geregelt. Die Norm betrifft Bundesrecht, das aufgrund einer Änderung der bestehenden Regelungen nicht mehr als solches erlassen werden könnte. Sie entfaltet sowohl für die Verfassungsänderungen von 1994 und 2006 als auch für künftige Änderungen Wirkung und damit auch für den Wegfall der Bundeszuständigkeit für das Versammlungsrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG (a.F.). Gem. Art. 125a Abs. 1 GG gelten versammlungsspezifische Rechtsnormen als Bundesrecht fort. Sie können durch Landesrecht ersetzt werden, sie müssen es aber nicht. Über den unmittelbaren Wortlaut der Vorschrift hinaus ist der Bund zur Fortschreibung des Bundesrechts und seiner Anpassung an geänderte Verhältnisse ermächtigt, sofern die wesentlichen Elemente erhalten bleiben. Diese Kompetenz ist indes eng auszulegen. Sie endet für den Bereich eines Landes, sobald dieses von seiner Ersetzungsbefugnis Gebrauch gemacht hat.12 Die Landesgesetzgeber haben in ihrer Entscheidung zu beachten, dass der Verfassungsgeber von „Ersetzung“ und nicht von „Änderung“ spricht. Allerdings dürfte auch eine partielle „Teilersetzung“ zulässig sein. So hat der VerfGH Berlin13 festgestellt, dass diese weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur grundsätzlich in Zweifel gezogen werde.14 In der Entscheidung ging es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen Berlin vom 23.4.2013.15

 


 

4 Umsetzung in den Ländern


Nachdem die Länder das Recht zur Gesetzgebung für den Bereich des Versammlungswesens erhalten haben, stellt sich die Frage nach der Umsetzung dieser neuen Kompetenz. Hier ist ein ausgesprochen uneinheitliches Bild festzustellen, das keinesfalls durch wünschenswerte Harmonisierungsbestrebungen geprägt ist. Insbesondere die dem MEVersG16 nachgebildeten und sehr liberalen VersFG in Schleswig-Holstein, Berlin und Hessen heben sich als ausgewiesenes „Grundrechtsgewährleistungsrecht“ z.T. deutlich von den übrigen Rechtsnormen ab.17

4.1 Bayern (BayVersG)

Am zügigsten ist die vollständige Umsetzung des Gesetzesvorbehalts in Bayern erfolgt, wo eine erste Fassung des BayVersG bereits am 1.10.2008 in Kraft getreten ist.18 Allerdings wurde dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben und durch die Regierungsbeteiligung der FDP in der 16. LP schien die Zukunft des Gesetzes vollkommen offen. Die Koalitionsvereinbarung stellte zumindest konkrete Änderungen in Aussicht. Durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde durch das BVerfG am 17.2.2009 sodann die Anwendung mehrerer Bestimmungen des BayVersG eingeschränkt.19 Folgerichtig hat daraufhin der Landesgesetzgeber ein Änderungsgesetz verabschiedet, das am 1.6.2010 in Kraft trat und eine deutliche Liberalisierung der legislatorischen Vorgaben darstellt.20 Am 23.11.201521 ist schließlich eine weitere Anpassung des bereichsspezifischen Normengefüges erfolgt. Damit war nunmehr u.a. eine Verschärfung des Schutzwaffen- und Vermummungsverbotes verbunden. Schließlich kam es durch Gesetze vom 26.3.2019 und 23.7.2021 zu redaktionellen Anpassungen.22

4.2 Berlin (VersFG BE)

In Berlin wurde mit der Verabschiedung des Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23.4.201323 zunächst ein Sonderweg beschritten und lediglich § 19a BVersG ersetzt. Die Notwendigkeit dazu ergab sich nicht zuletzt aus der Rechtsprechung,24 durch die eine Bildübertragung nach dem Kamera-Monitor-Prinzipmangels Ermächtigungsgrundlage als rechtswidrig bewertet wurde. Trotz bestehender Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser systematischen Verschränkung25 hat der VerfGH Berlin die grundsätzliche Zulässigkeit bestätigt.26 Dennoch ist ihre Sinnhaftigkeit fraglich. Mit dem Koalitionsvertrag für die 18. LP wurde daher folgerichtig die Schaffung eines Vollgesetzes vereinbart. Das VersFG BE wurde schließlich am 11.2.2021 verabschiedet.27 Diese Entscheidung stellt einen schlüssigen und zukunftsweisenden Schritt für Berlin dar. Die alleinige Normierung informationeller Eingriffsakte in einem fragmentarischen Teilgesetz hatte zuvor zu einer rechtlichen Gemengelage geführt und wurde berechtigt kritisiert. Dies gilt gerade für die Bundeshauptstadt Berlin, die zugleich treffend als „Demo-Hauptstadt“ Deutschlands bezeichnet wird.28 Das vorliegende Gesetz ist klarer gefasst als das überkommene BVersG sowie die meisten vorliegenden LVersG. Dennoch kann von dem angestrebten Modellcharakter keine Rede sein, weil inhaltliche und redaktionelle Mängel nicht zu übersehen sind. Hinzu kommt, dass mit einigen Regelungen wie z.B. der Veröffentlichungspflicht nach § 12 Abs. 8 VersFG BE ein problematischer Weg beschritten und der vorliegende sowie der föderalen Staatsordnung geschuldete Flickenteppich ohne Not ausgeweitet wird.29 Im Koalitionsvertrag für die 19. LP30 ist nunmehr u.a. eine Evaluation des VersFG BE bis Mitte 2024 sowie eine Aufnahme des Schutzgutes der „öffentlichen Ordnung“ angekündigt worden.31

4.3 Brandenburg (BbgGräbVersammlG)

Brandenburg hatte als erstes Land auf die neue versammlungsrechtliche Option reagiert, mit dem GräbVersammlG allerdings lediglich einen unbedeutenden Teilbereich geregelt und ausschließlich § 16 BVersG durch Landesrecht ersetzt.32 Durch § 1 Abs. 1 BbgGräbVersammlG wurden das Verbot für öffentliche Versammlungen und Aufzüge auf Gräberstätten und in deren unmittelbarer Nähe ausgesprochen und durch § 1 Abs. 2 BbgGräbVersammlG der zuständigen Behörde Ausnahmeregelungen von diesem Verbot ermöglicht. Die Regelung steht insofern in unmittelbarer Nähe zu Aspekten der Erlaubnisfreiheit und Zulässigkeit von Versammlungen auf öffentlichen Verkehrsflächen im Privateigentum. Zu weiteren Änderungen liegen bisher keine öffentlich zugänglichen Aussagen vor.

4.4 Hessen (HVersFG)

Am 4.11.2022 ist durch die Hessische Landesregierung der Entwurf zu einem HVersFG vorgelegt worden.33 Nach Erster Lesung im Landtag wurde der Gesetzentwurf dem Innenausschuss überwiesen, der nach Durchführung eines Anhörungsverfahrens und unter Berücksichtigung mehrerer Änderungsanträge34 am 9.3.2023 eine Beschlussempfehlung ausgesprochen hat.35 Am 21.3.2023 kam es zur Zweiten Lesung mit nachfolgender Verabschiedung. Das am 4.4.2023 in Kraft getretene und bis zum 31.12.2030 befristete Gesetz36 versteht Versammlungen in Anlehnung an den MEVersG sowie die liberalen Normen in Schleswig-Holstein und Berlin als besonderen Ausdruck der Freiheitsausübung und das Regelungsgefüge nicht allein als Gefahrenabwehr- sondern auch als Grundrechtsgewährleistungsrecht.37 Dies ergibt sich bereits aus den abgestuften Eingriffsvoraussetzungen sowie der deutlichen Hinwendung zu einer Entkriminalisierung des Versammlungsgeschehens. Dennoch können auch im letzten bisher verabschiedeten bereichsspezifischen Landesgesetz nicht alle Regelungen vollständig überzeugen.38 Zudem wurde bereits während der Zweiten Lesung Klage vor dem Staatsgerichtshof angekündigt.39

4.5 Niedersachsen (NVersG)

Am 5.10.2010 hat der Niedersächsische Landtag von seiner Ersetzungsbefugnis aus Art. 125a GG Gebrauch gemacht und ein als Vollgesetz ausgestaltetes NVersG verabschiedet.40 Eine Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.41 Von besonderer Relevanz ist, dass ergänzend Art. 8 GG in § 10 NPOG zitiert wird und damit eine subsidiäre Anwendung des allgemeinen Polizeirechts im Versammlungsgeschehen in Betracht kommt.42 Durch Gesetz vom 6.4.2017 wurde das NVersG fortgeschrieben43 und damit ausweislich der Koalitionsvereinbarung für die 17. LP das Ziel verfolgt, „das Versammlungsrecht noch bürgerfreundlicher zu gestalten.“44 U.a. stellte die Missachtung einer vollziehbaren Anordnung zum Vermummungsverbot nur noch Verwaltungsunrecht gem. § 21 Abs. 1 Nr. 15 NVersG dar. Allerdings wurde von den regierungstragenden Fraktionen der 18. LP das NVersG am 20.5.2019 erneut modifiziert45 und im Hinblick auf das Vermummungsverbot die ursprüngliche Fassung aus dem Jahr 2010 wiederhergestellt.

4.6 Nordrhein-Westfalen (VersG NRW)

Dem Koalitionsvertrag für die 17. LP folgend hat die Landesregierung am 21.1.2021 den Entwurf zur Einführung eines VersG NRW eingebracht.46 Zuvor war bereits die Fraktion der SPD mit dem Entwurf eines VersFG NRW initiativ geworden.47 Beide Vorlagen enthalten überzeugende Ansätze und stellen Verbesserungen dar.Dabei ist die Vorlage der Landesregierung eher restriktiv gefasst und betrachtet die Sanktionierung von Rechtsverstößen als bedeutsames Instrument im Versammlungsgeschehen. Ahndungsnormen werden als wichtiges Mittel bezeichnet, um „jedenfalls nachträglich die Verbindlichkeit der Verwaltungsakte und sonstigen behördlichen Ge- und Verbote zu verdeutlichen“.48 Inhaltlich weicht der Entwurf im Gegensatz zur SPD-Vorlage indes von den freiheitsbetonenden Landesgesetzen in Schleswig-Holstein, Berlin und Hessen ab. Nach Anhörungsverfahren und Ausschussberatungen erfolgte am 15.12.2021 in der Zweiten Lesung die Ablehnung der SPD-Vorlage, während der Entwurf der Landesregierung in der Fassung der Beschlüsse des Innenausschusses49 angenommen wurde. Das Gesetz ist seit dem 18.12.2021 geltendes Recht. Es stellt ein Normengefüge mit Licht und Schatten dar. Überzeugend sind z.B. der konkret definierte Regelungsbereich einschließlich der Wirksamkeit bei nichtöffentlichen Versammlungen (§ 2 VersG NRW), eine eingefügte Transferklausel in das allgemeine Polizeirecht (§ 9 VersG NRW), die Berücksichtigung von öffentlichen Verkehrsflächen in Privateigentum (§ 21 NRW) sowie eine Berichts- und Evaluierungsklausel (§ 34 VersG NRW).50 Erkennbare Schwächen liegen hingegen insbesondere in der widersprüchlichen und nicht verfassungsrechtlichen Standards entsprechenden Begrenzung des zeitlichen Anwendungsbereichs (§ 9 Abs. 4 VersG NRW), einer fehlenden Regelung über die Anwesenheit und Legitimation von Polizeikräften bei Versammlungen unter freiem Himmel51 sowie der pauschalen Suspendierung von Versammlungen auf Bundesautobahnen (§ 13 Abs. 1 VersG NRW). Sehr kritisch sind zudem die restriktiv ausgerichteten und teilweise unabgestimmten Strafrechtsnormen (§ 27 VersG NRW) zu bewerten, die obrigkeitsstaatlicher Tradition entsprechen, mit denen entgegen der Gesetzesbegründung52 durchaus Einschüchterungspotenzial verbunden ist und die der Polizei nur wenig Handlungsspielraum eröffnen. Damit wird aber zugleich die hohe Bedeutung der Versammlungsfreiheit verkannt und der repressive Teil des Gesetzes zu stark betont. An dieser Bewertung ändert auch der Hinweis auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Festlegung von Ahndungsvorschriften nichts,53 denn der Charakter eines „Grundrechtsgewährleistungsgesetzes“ geht weitgehend verloren.54

4.7 Sachsen (SächsVersG)

Mit dem SächsVersG vom 20.1.2010 ist zunächst das BVersG weitgehend übernommen und lediglich § 15 SächsVersG eigenständig formuliert worden.55 An der Auslegung dieser Bestimmung entzündete sich indes die Kritik und der im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle angerufene SächsVerfGH hat in seiner Entscheidung vom 19.4.2011 die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes bestätigt, sich dabei allerdings allein mit der formellen Rechtmäßigkeit beschäftigt.56 Die harsche Kritik von Scheidler57 ist in diesem Zusammenhang berechtigt, denn durch den Spruchkörper ist festgestellt worden, dass die Abgeordneten quasi über eine Vorlage befunden haben, die ihnen nicht oder zumindest nicht vollständig vorlag. Am 25.1.2012 wurde dann ein leicht modifiziertes Gesetz verabschiedet, das nunmehr den formalen Anforderungen entsprach.58 Durch Änderungsgesetz vom 17.12.2013 wurden schließlich insbesondere die Datenverarbeitungsnormen (§§ 12, 20 SächsVersG) neu gefasst und durch eine Befugnis für offene Übersichtsbildübertragungen ergänzt.59 Basierend auf dem Entwurf60 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der eine deutliche Liberalisierung des bereichsspezifischen Rechts beinhaltet, sollte das SächsVersG erneut novelliert werden. Diese Vorlage scheiterte jedoch nach Zweiter Lesung.61 Dafür wurden durch das Gesetz zur Neustrukturierung des Polizeirechtes vom 11.5.201962 kleinere Änderung vorgenommen und mit § 34 SächsVersG insbesondere klarstellende Befugnisse zur Datenverarbeitung geschaffen, so dass zurzeit die vierte Version vorliegt. In der aktuellen 7. LP soll ein erneuter Anlauf stattfinden. So ist im Koalitionsvertrag63 festgelegt, dass das Versammlungsrecht insbesondere „praxisgerechter und verständlicher“ gestaltet werden soll.

4.8 Sachsen-Anhalt (VersammlG LSA)

Am 8.10.2009 ist in der 64. Sitzung des Landtages das VersammlG LSA verabschiedet und am 3.12.2009 ausgefertigt worden.64 Entgegen des ursprünglichen Regierungsentwurfs verfügt damit auch das Land Sachsen-Anhalt grundsätzlich über ein Vollgesetz. Dieser Weg ist beschritten worden, „um verfassungsrechtliche Risiken zu vermeiden, denen der Landesgesetzgeber ausgesetzt wäre, wenn er die Vorschriften des Bundes ohne Weiteres übernommen hätte.“65 Allerdings ist das VersammlG LSA in vielen Punkten dem überkommenen Bundesrecht nachgebildet und enthält zudem inhaltliche und redaktionelle Unstimmigkeiten.66

4.9 Schleswig-Holstein (VersFG SH)

Am 5.10.2010 ist durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein erster Entwurf zu einer bereichsspezifischen Norm in Schleswig-Holstein vorgelegt, kurze Zeit später konkretisiert und am 2.11.2011 in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden.67 Bis zum März 2012 wurden eine Erste Lesung im Landtag, die Beratung im Innen- und Rechtsausschuss sowie ein schriftliches Anhörungsverfahren durchgeführt.68 Mit der Landtagswahl am 6.5.2012 kam es dann nicht nur zu veränderten politischen Mehrheiten, sondern es war auch das Diskontinuitätsprinzip zu beachten und die Vorlage galt damit gem. § 77 LTGO als erledigt. Zu Beginn der nachfolgenden 18. LP wurde jedoch ein Gesetzentwurf der nunmehr in der Opposition befindlichen FDP-Fraktion eingebracht, der parteiübergreifenden Zuspruch erfuhr.69 In der Folge wurden verschiedene Änderungsanträge verfasst70 und erneut ein Anhörungsverfahren eingeleitet. Der recht differenzierte Antrag der Regierungskoalition unterstützte dabei die Struktur des FDP-Entwurfs sowie die darin enthaltenen Grundentscheidungen wie die Einfügung einer Transferklausel in das allgemeine Gefahrenabwehrrecht und die Hinwendung zu einer weitgehenden Entkriminalisierung des Versammlungsgeschehens. Nach weiteren Änderungsanträgen71 fanden am 21.5.2014 und 11.6.2014 mündliche Anhörungen im Innen- und Rechtsausschuss statt.72 Nach Aufbereitung der Stellungnahmen kam es am 21.5.2015 zur Zweiten Lesung mit nachfolgender Verabschiedung des VersFG SH.73 Das am 1.7.2015 in Kraft getretene Gesetz74 stellt eine deutliche Liberalisierung der legislatorischen Vorgaben im Versammlungsgeschehen dar. Zugleich ist es klarer gefasst als das bestehende BVersG und auch als die bis dahin in Kraft getretenen Vollgesetze in Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.75 Dennoch ist bei einzelnen Regelungen noch „Luft nach oben“ vorhanden.76

4.10 Diskussionsstand in den übrigen Ländern

Zuletzt hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bremischen Bürgerschaft mehrere Entwürfe zu einem BremVersFG erstellt,77 diese jedoch nicht bis zum Ende der 20. LP in das formale Gesetzgebungsverfahren eingebracht.78 Mit einer erneuten Initiative ist zu Beginn der 21. LP zu rechnen. Bereits länger zurückliegende Gesetzgebungsaktivitäten sind schließlich aus Baden-Württemberg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen bekannt, die allerdings bisher nicht zur Verabschiedung eines eigenen Landesgesetzes geführt haben.79 In den übrigen Ländern gibt es – soweit öffentlich bekannt – zurzeit keine konkreten Überlegungen zur Schaffung eigener Gesetze.

 

5 Befund


Die Entwicklung und Verabschiedung bereichsspezifischer Vollgesetze für das Versammlungswesen ist eine schlüssige Folge der Föderalismusreform I und ein zukunftsweisender Schritt der Länder. Kritisch sind jedoch die erheblichen Unterschiede zwischen den Normen zu bewerten, die bereits heute festzustellen sind. So ist gerade das VersG NRW deutlich restriktiver gefasst als die liberalen „Grundrechtsgewährleistungsgesetze“ in Schleswig-Holstein, Berlin, Hessen und wohl künftig auch in Bremen. Gerade bei länderübergreifenden Einsatzlagen sind damit aber Probleme vorprogrammiert. Ein wesentliches Ziel im freiheitlichen Rechtsstaat muss es stets sein, umfassende Rechtssicherheit zu gewährleisten. Neben der gebotenen Normenklarheit sind daher abgestimmte und unmittelbar an vorliegenden Musterschriften orientierte Regelungen zu fordern, die bundesweit einheitliche Sicherheitsstandards gewährleisten und eine „Zersplitterung des Rechts“ verhindern.80 Es geht um viel, denn es geht um die Rechtssicherheit der Grundrechtsträger, der Versammlungsbehörden und der Polizei.

Anmerkungen

 

  1. Hartmut Brenneisen ist Professor, Ltd. Regierungsdirektor u. Polizeidirektor a.D.; er ist heute als Verantwortlicher Redakteur dieser Fachzeitschrift, Gutachter, Lehrbeauftragte sowie Herausgeber und Autor von Fachpublikationen tätig. Gesetzesinitiativen, Rechtsprechung und Literatur sind in diesem Beitrag bis Anfang Mai 2023 berücksichtigt worden.
  2. Jarass, in: Jarass/Kment, 2022, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland; Kommentar, 17. Aufl., Art. 8, Rn. 1; Höfling, in: Sachs, 2021, Grundgesetz; Kommentar, 9. Aufl., Art. 8, Rn. 8; Ernst, in: Kämmerer/Kotzur, 2021, Grundgesetz; Kommentar (Bd. 1), 7. Aufl., Art. 8, Rn. 10.
  3. Vgl. nur Jarass, in: Jarass/Kment, 2022, a.a.O., Art. 8, Rn. 5; Höfling, in: Sachs, 2021, a.a.O., Art. 8, Rn. 26; Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, 2022, Versammlungsrecht; Kommentar, 2. Aufl., Einl., Rn. 63; Deiseroth/Kutscha, in: Breitbach/Deiseroth, 2020, Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, 2. Aufl., Art. 8 GG, Rn. 133; Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, Versammlungsrecht, 5. Aufl., S. 97; Kniesel, in: Kniesel/Braun/Keller, 2019, Versammlungsgesetze, 19. Aufl., Teil I, Rn. 194.
  4. Schönenbroicher, DPolBl 6/2022, S. 9; Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2022, a.a.O., S. 53.
  5. BVerfG v. 14.5.1985, 1 BvR 233, 341/81-juris (= BVerfGE 69, 315).
  6. BGBl 2008 I, S. 2366; vgl. dazu BT-Drs. 16/9741 (24.6.2008).
  7. Vgl. dazu Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein, Vorb., Rn. 5.
  8. Unveröffentl. Gutachten des ehemaligen Richters am BVerfG Dieter Grimm.
  9. BGBl 2005 I, S. 969.
  10. BGBl 2006 I, S. 2034.
  11. Kniesel/Poscher, in: Bäcker/Denninger/Graulich, 2021, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl., Teil J, Rn. 19; Tölle, in: Peters/Janz, 2021, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl., Teil E, Rn. 1; von Coelln, in: Ullrich/von Coelln/Heusch, 2021, Handbuch Versammlungsrecht, Rn. 40.
  12. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, a.a.O., Vorb., Rn. 11.
  13. VerfGH Berlin v. 11.4.2014, 129/13-juris.
  14. Vgl. dazu Knape/Brenneisen, 2021, Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin, S. 5 (Vorw.); Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, a.a.O., 2016, Vorb., Rn. 19.
  15. GVOBl BE 2013, S. 103.
  16. Enders/Hoffmann-Riem/Kniesel/Poscher/Schulze-Fielitz (AK Versammlungsrecht), 2011, Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes (MEVersG).
  17. Zur kritischen Betrachtung dieser höchst unbefriedigenden „Kleinstaaterei“ vgl. Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, 2022, a.a.O., Einl., Rn. 16; siehe dazu auch Brenneisen/Knape, DPolBl 6/2022, S. 6; Brenneisen, Die Kriminalpolizei 2/2022, S. 23; Koll, 2015, Liberales Versammlungsrecht, S. 401.
  18. BayGVOBl 2008, S. 421.
  19. BVerfGE 122, 342.
  20. BayGVOBl 2010, S. 190.
  21. BayGVBl 2015, S. 410.
  22. BayGVBl 2019, S. 98 u. BayGVBl 2021, S. 418.
  23. GVBl BE 2013, S. 103.
  24. VG Berlin v. 5.7.2010, 1 K 905.09-juris; vgl. auch OVG Münster v. 23.11.2010, 5 A 2288/09-juris u. OVG Koblenz v. 5.2.2015, 7 A 10683/14-juris.
  25. Vgl. nur Knape/Brenneisen, 2021, a.a.O., § 18, Rn. 6.
  26. VerfGH Berlin v. 11.4.2014, 129/13-juris.
  27. GVBl BE 2021, S. 180.
  28. PlPr BE18/61, S. 7296 (Geisel).
  29. Kniesel, DPolBl 6/2022, S. 1; Brenneisen/Knape, DPolBl 6/2022, S. 6; dies., DP 6/2021, S. 30.
  30. „Für Berlin das Beste“, Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD (LP 2023-2026), S. 28.
  31. Zum ursprünglichen Verzicht auf die „öffentliche Ordnung“ im VersFG BE vgl. Knape/Brenneisen, Die Kriminalpolizei 4/2022, S. 18.
  32. GräbVersammlG v. 26.10.2006, BbgGVOBl 2006 I, S. 114.
  33. HDrs. 20/9471.
  34. Vgl. HPlPr 20/118; HINA-AV 20/64 (Teil 1-3); HDrs. 20/10695 (Fraktion der FDP); HDrs.20/10697 (Fraktionen der CDU und Bündnis 90/Die Grünen).
  35. HDrs. 20/10724.
  36. HPlPr 20/130 (21.3.2023); HGVBl. 2023, S. 150.
  37. Vgl. HDrs. 20/9471, S. 17.
  38. Vgl. nur das Verbot nichttechnischer Waffen (§§ 8, 25 HVersFG), die unvollständigen Regelungen über Teilnahmeuntersagung und Ausschluss (§ 15 HVersFG), öffentliche Flächen im Privateigentum (§ 19 HVersFG) und informationelle Maßnahmen (§§ 17, 24 HVersFG) sowie die wenig überzeugende Aufnahme der öffentlichen Ordnung in mehreren Befugnisnormen (§§ 14, 16, 17 HVersFG); kritisch auch Kühne, Bürgerrechte & Polizei 2023, S. 88.
  39. HPlPr 20/130 (21.2.2023).
  40. NVersG v. 7.10.2010, GVOBl Nds 2010, S. 465, mit Berichtig. v. 22.11.2010, GVOBl Nds 2010, S. 532.
  41. BVerfG v. 3.7.2013, 1 BvR 238/12-juris.
  42. Vgl. dazu Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, a.a.O., S. 60; Wefelmeier, in: Wefelmeier/Miller, 2020, § 8, Rn. 3, 4; Ullrich, 2018, Niedersächsisches Versammlungsgesetz, 2. Aufl., § 10, Rn. 18.
  43. GVBl Nds 2017, S. 106.
  44. LT-Drs. Nds 17/6233, S. 4.
  45. GVBl Nds 2019, S. 88.
  46. Drs. NRW 17/12423.
  47. Drs. NRW 17/11673.
  48. Drs. NRW 17/12423, S. 84, 86, 87; dazu Brenneisen, DP 4/2022, S. 30.
  49. Drs. NRW 17/15915-neu.
  50. Brenneisen, DP 4/2022, S. 30.
  51. Vgl. dazu Tölle, Die Polizei 2022, S. 119; Brenneisen, DP 4/2022, S. 30.
  52. Drs. NRW 17/12423, S. 84.
  53. Drs. NRW 17/12423, S. 84.
  54. Brenneisen/Knape, DPolBl 6/2022, S. 6; Brenneisen, Die Kriminalpolizei 2/2022, S. 23; wohl a.M.: Schönenbroicher, DPolBl 6/2022, S. 9.
  55. SächsGVOBl 2010, S. 2.
  56. SächsVerfGH v. 19.4.2011, Vf. 74-II-10-juris; dazu Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, a.a.O., S. 61; Elzermann/Schwier, 2019, Sächsisches Versammlungsgesetz; Kommentar, 2. Aufl., Einf., Rn. 2; Schwier, 2017, Zum aktuellen Stand des Versammlungsrechts, S. 196.
  57. Scheidler, NVwZ 2011, S. 924.
  58. SächsGVOBl 2012, S. 54.
  59. SächsGVOBl 2013, S. 890.
  60. SächsLT-Drs. 6/11602.
  61. SächsPlPr 6/92(1), S. 9240 ff. (22.5.2019).
  62. SächsGVBl 2019, S. 358.
  63. Koalitionsvertrag zwischen CDU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD (LP 2019-2024), S. 112.
  64. GVOBl LSA 2009, S. 558; vgl. dazu Pahl/Tölle, in: Peters/Janz, 2021, a.a.O., Teil E, Rn. 60.
  65. PlPr LSA 5/64, S. 4176.
  66. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, a.a.O., S. 62; Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, a.a.O., 2016, Vorb., Rn. 16.
  67. LT-Drs. SH 17/1955.
  68. LT-Udr. SH 17/3475, 17/3651, 17/3682, 17/3690, 17/3694, 17/3697, 17/3705, 17/3731, 17/3755, 17/3795.
  69. LT-Drs. SH 18/119.
  70. LT-Udr. SH 18/1269, 18/1314, 18/1318.
  71. LT-Udr. SH 18/2514, 18/4201.
  72. IRP SH, 18/66, S. 5 ff. u. 18/68, S. 5 ff.
  73. PlPr SH 18/88.
  74. GVOBl SH 2015, S. 135.
  75. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, a.a.O., Vorb., Rn. 40.
  76. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, a.a.O., S. 64; dies., 2016, a.a.O., Vorb., Rn. 41.
  77. Unveröffentl. Entwürfe v. 29.3.2022 sowie v. 3.1.2023; vgl. dazu Fasche, DP (Bremen) 5/2022, S. 1.
  78. Zum Diskontinuitätsprinzip vgl. § 33 GO der Bremischen Bürgerschaft.
  79. Vgl. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, a.a.O., S. 65 (m.w.N.).
  80. Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, 2022, a.a.O., Einl., Rn. 16; Brenneisen, Die Kriminalpolizei 2/2022, S. 23 (m.w.N.).