Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§§ 176 Abs. 1, 184h Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern, § 186 StGB – Üble Nachrede; hier: Nachlässigkeit eines Polizisten, § 222 StGB – Fahrlässige Tötung; hier: Betreiben einer Handelsplattform, § 242 StGB – Diebstahl; hier: Selbstbedienungsladen, vollendete Wegnahme (...)


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden


Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist

 

I Materielles Strafrecht

 

§§ 176 Abs. 1, 184h Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Keine Erheblichkeit bei einmaligem, kurzzeitigem intensivem Griff an bedeckte kindliche Brust eines neunjährigen Mädchens. Der A griff an einem Tag im Zeitraum zwischen Sommer und Dezember 2015 der damals neunjährigen Geschädigten „zielgerichtet mit der Hand an deren bedeckte Brust“. Das LG begründete das Überschreiten der gesetzlich geforderten Erheblichkeitsschwelle (§ 184h Nr. 1 StGB) mit dem Handlungsrahmen und der Beziehung des zur Tatzeit über dreißigjährigen A zu seiner Lebenspartnerin, der Mutter des neunjährigen Kindes.

Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen anzusehen, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts darstellen. Die Feststellung der Erheblichkeit erfordert eine Gesamtbetrachtung sämtlicher Umstände hinsichtlich der Gefährlichkeit der Handlung für das betroffene Rechtsgut. Nach diesem Maßstab ist der einmalige, kurzzeitige und wenig intensive Griff an die bedeckte kindliche Brust des neunjährigen Mädchens keine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit. (BGH, Beschl. v. 29.1.2019 – 2 StR 490/18)


§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Einführen eines Daumens in den Mund, kein Eindringen in den Körper. Der A, ein Nachbar der Mutter eines zehnjährigen Opfers, versuchte an dem Kind mehrfach sexuelle Handlungen vorzunehmen. Letztendlich kam es zu einem „Probier-Spiel“. Der A stellte Gläser mit Honig, Marmelade, Zucker und Salz zusammen. Das Opfer sollte mit verbundenen Augen raten, welches Lebensmittel er ihr mit einem Löffel in den Mund steckte. Er strich sich Marmelade auf ein Körperteil und steckte es ihr in den Mund. Es konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden, um welches Körperteil es sich handelte. Das LG nahm im Zweifel zugunsten des A an, dass er dem Kind einen Finger, eventuell den Daumen, in den Mund eingeführt habe. Die Zehnjährige empfand Ekel, biss zu und riss sich das Tuch von den Augen. Der A hatte danach „den Hosenknopf geöffnet“ und sein Penis war ein Stück weit zu sehen.

Das Einführen eines Daumens oder Fingers in den Mund eines Kindes stellt keine beischlafähnliche Handlung i.S.d. § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB dar. Eine solche Handlung besitzt kein dem Beischlaf vergleichbares Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut. Insbesondere ist kein primäres Geschlechtsorgan bei Täter oder Opfer beteiligt. (BGH, Beschl. v. 14.11.2018 – 2 StR 419/18)


§ 186 StGB – Üble Nachrede; hier: Nachlässigkeit eines Polizisten. Der öffentliche Vorwurf an einen ermittelnden Polizeibeamten, absichtlich Zeugen vorenthalten zu haben, ist jedenfalls dann keine üble Nachrede, wenn nachgewiesen wurde, dass die von ihm geführte Akte insofern unvollständig war. (AG Sulingen, Urt. v. 18.2.2019 – 4 Cs 159 Js 22358/17 (135/18)


§ 222 StGB – Fahrlässige Tötung; hier: Betreiben einer Handelsplattform. Der A betrieb im Internet die Plattform „Deutschland im Deep Web“ unter dem Pseudonym „luckyspax“, die im sog. Darknet mit dem Torbrowser zugänglich war. Die Plattform enthielt verschiedene Unterkategorien, die in erster Linie dem reinen Informationsaustausch dienten. Daneben waren aber auch die Kategorie „Spackentreff“ mit u.a. der Unterkategorie „Waffen (Herstellung, Vertrieb…)“ und die Kategorie „Drogen“ vorhanden. Über diese Plattform wurde vom späteren Amokläufer eine Pistole vom Typ Glock 17 mit über 500 Schuss Munition erworben. Im Rahmen eines Amoklaufs beim Olympia-Einkaufszentrum München wurden dann neun Menschen getötet und weitere fünf Menschen durch Schüsse verletzte. Der Amokschütze tötete sich schließlich selbst mit dieser Waffe.

Es liegt nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung, dass Schusswaffen, die unter Umgehung der gesetzlichen Voraussetzungen anonym erworben werden, in illegaler Weise zur Tötung oder Verletzung von Menschen eingesetzt werden. Gerade in einem solchen Fall besteht vielmehr ein nicht kalkulierbares und erheblich erhöhtes Risiko des Einsatzes der Waffen gegen Menschen. Mithin sind Fahrlässigkeitsdelikte durch betreiben einer Handelsplattform gerade im „Darknet“ naheliegend. (LG Karlsruhe, Urt. v. 19.12.2018 – 4 KLs 608 Js 19580/17)


§ 242 StGB – Diebstahl; hier: Selbstbedienungsladen, vollendete Wegnahme. Der A nahm mehrere Flaschen Jägermeister und Bacardi aus den Warenträgern und steckte diese in von ihm mitgeführte Sporttasche bzw. einen Rucksack, um sie ohne Bezahlung für sich zu behalten.

Steckt der Täter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt er allein durch diesen tatsächlichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenen aus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahrsam; auch dann, wenn er sich noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigten befindet. Für ohne Weiteres transportable, handliche und leicht bewegliche Sachen gilt das gleiche, wenn der Täter sie in einem Geschäft in Zueignungsabsicht in eine von ihm mitgeführte Hand-, Einkaufs-, Akten- oder ähnliche Tasche steckt. (BGH, Urt. v. 6.3.2019 − 5 StR 593/18)


§ 249 StGB – Raub; hier: Zueignungsabsicht durch zeitnahe Inbetriebnahme. Die Angeklagten (M und R) lernten die später Geschädigte (G) und deren Begleitung, die Zeugin K, auf der Fahrt mit einem Linienbus zufällig kennen. Aus einem spontanen Entschluss heraus suchten sie alle eine Bar auf und verbrachten dort gemeinsam den Abend. Nach Verlassen der Bar gegen 02.30 Uhr begleiteten M und R die G auf dem Nachhauseweg und fassten spontan den Tatentschluss, mit der G auch gegen deren Willen sexuell zu verkehren. Als die G während dieses Geschehens von der K angerufen wurde, riss M der G das Mobiltelefon aus der Hand und nahm es im Einverständnis mit dem R an sich, um zu verhindern, dass die G um Hilfe rief. Gleichzeitig hatten beide Angeklagten die Absicht, das Mobiltelefon für sich zu behalten. Es wurde in der Folge von dem R mit einer eigenen SIM-Karte genutzt.

Die zeitnahe Inbetriebnahme eines fremden Mobiltelefons – nach seiner Erlangung durch Wegnahme – mit einer eigenen SIM-Karte stellt regelmäßig ein Indiz dafür dar, dass der Täter bereits zum Zeitpunkt der Wegnahme mit der erforderlichen Zueignungsabsicht handelte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Täter die Zueignungsabsicht erst nach der Wegnahme gefasst haben könnte. Bestehen hingegen Anhaltspunkte, dass der Täter die Zueignungsabsicht erst nach der Wegnahme gefasst haben könnte (hier: die Wegnahme des Mobiltelefons erfolgte nach den Feststellungen zu dem Zweck, zu verhindern, dass die Geschädigte telefonisch Hilfe holt), kommt der nachträglichen Nutzung des Telefons durch den Täter allein keine ausreichend indizielle Wirkung auf eine bereits zum Wegnahmezeitpunkt bestehende Zueignungsabsicht zu. Somit hier kein Raub. (BGH, Beschl. v. 16.1.2018 – 2 StR 527/17)

 

II Prozessuales Strafrecht

 

§ 81b Alt. 2 StPO; §§ 184b, 184c StGB aF; § 184b StGB – Erkennungsdienstliche Maßnahmen; hier: Verdacht auf Besitz kinderpornografischer Dateien. Mit Strafbefehl des AG Zerbst wurde der K wegen Besitzes kinder- und jugendpornografischer Schriften zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Bei K wurde die ED-Behandlung, Anfertigung von Lichtbildern (Portrait, Profil, Halbprofil, Ganzaufnahme), Abnahme von Fingerabdrücken (einschließlich Handflächen und -kanten), Messung von Gewicht, Körpergröße und Schuhgröße sowie die Anfertigung einer Personenbeschreibung angeordnet.

Sexualdelikte sind regelmäßig von einer besonderen Veranlagung oder Neigung des Täters geprägt, weswegen bereits bei der einmaligen Begehung die Gefahr der Wiederholung gegeben sein kann. Für die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten nach §§ 184b Abs. 4 S. 2, 184c Abs. 4 S. 1 StGB aF, spricht, wenn der Betroffene über einen unbekannten Zeitraum eine Vielzahl von Bild- und Videodateien mit kinder- oder jugendpornografischem Inhalt angesammelt hat. Dagegen lässt sich die Notwendigkeit einer ED-Behandlung nicht (zusätzlich) damit begründen, dass bei Personen, die kinder- und jugendpornografische Darstellungen konsumieren, nicht auszuschließen sei, dass sie sich auch des sexuellen Missbrauchs von Kindern oder Jugendlichen (§§ 176 f., 182 StGB) schuldig machen werden (a.A. VGH München, Beschl. v. 5.11.2012 – 10 CS 12.1855). Zur Frage, ob Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass der Verurteilte künftig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potenzieller Beteiligter einer noch aufzuklärenden Straftat einbezogen werden könnte, lässt sich einem nach Ablauf der Bewährungszeit ausgesprochenen Straferlass keine Aussage entnehmen. Bei Anordnung einer ED-Behandlung sind die konkret angeordneten Maßnahmen nicht als „Gesamtpaket“, sondern im Einzelnen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen; prinzipiell muss sich jede verfügte Einzelmaßnahme als gesonderter Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung am Übermaßverbot rechtfertigen lassen können. Besteht die Anlasstat im Besitz kinder- und jugendpornografischer Dateien, sind insbesondere Finger- und Handflächenabdrücke geeignet, auch für Ermittlungen im Zusammenhang mit so genannten Onlinedelikten eine Hilfestellung zu bieten. Auch der Fertigung von Lichtbildern, einer Personenbeschreibung sowie der Messung der Körpergröße kommt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung zu. Die Messung von Gewicht und Schuhgröße wird bei solchen Anlasstaten von Bedeutung sein, bei denen etwa anhand von Fußabdruckspuren Rückschlüsse auf die Schuhgröße und anhand ihrer Tiefe Rückschluss auf das Gewicht des Spurenlegers gezogen werden, so dass mithilfe dieser Merkmale im Einzelfall Tatverdächtige als Täter ermittelt oder ausgeschlossen werden können. (OVG Magdeburg, Beschl. v. 8.3.2019 – 3 L 238/17)


§ 102 StPO – Durchsuchung beim Beschuldigten; hier: Unverhältnismäßig und mangelhaft begründet, Verdacht, möglicher Besitz kinder- oder jugendpornografischer Dateien. Bei der Auswertung sichergestellter Speichermedien in einem gegen zwei andere Personen wegen des Verdachts der Verbreitung, des Erwerbs und des Besitzes kinderpornografischer Schriften (§ 184b StGB) geführten Ermittlungsverfahren wurden auf einer der sichergestellten Festplatten 43 E-Mail-Nachrichten mit Bild- und Videodateien aufgefunden, die die Ermittlungsbehörden als kinder- und jugendpornografisch einstuften. Eine dieser E-Mails konnte aufgrund einer Providerauskunft dem Beschwerdeführer (Bf) zugeordnet werden. Auf Antrag der StA ordnete das AG Frankfurt a. M. gem. § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung des Bf. zum Zwecke der Auffindung von Computern, Speichermedien, internetfähigen Mobiltelefonen, Multimediaplayern sowie von Unterlagen mit Hinweisen auf Passwörter, externe Datenspeicher oder E-Mail-Postfächer an.

Soll der Anfangsverdacht für die Begehung von Straftaten nach §§ 184b, 184c StGB auf den möglichen Besitz kinder- oder jugendpornografischer Dateien gestützt werden, der lange Zeit zurückliegt (hier: achteinhalb Jahre), so verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesichts der besonderen Umstände des Falls eine nähere Begründung in einem Durchsuchungs- oder Bestätigungsbeschluss für die Annahme einer dauerhaften Störung der Sexualpräferenz des Betroffenen. Notwendig ist, dass sachlich zureichende, plausible Gründe dafür existieren, weshalb sich der Bf. in nicht verjährter Zeit im Besitz von jugend- oder sogar kinderpornografischen Schriften befunden haben und sich solche Schriften auch heute noch bei ihm auffinden lassen sollen. (BVerfG, Beschl. v. 20.11.2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19)


§ 267 StPO – Urteilsgründe; hier: (Über)lange Verfahrensdauer. Zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung lag die Tat rund 5 Jahre zurücklag.

Eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer ist ungeachtet eines geringeren Strafbedürfnisses aufgrund des zeitlichen Abstands zwischen Tatbegehung und Urteil und eines gewährten Vollstreckungsabschlags bei der Strafzumessung zu berücksichtigen und stellt einen bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO dar. (BGH, Beschl. v. 5.10.2017 – 2 StR 573/16)