Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden


 

I Materielles Strafrecht

 

§ 185 StGB – Beleidigung; hier: Würdigung der Aussage eines beleidigten Polizeibeamten. Es konnte nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass die Angeklagte (A) tatsächlich die Worte „Blödmann“ und nicht „Blödsinn“ geäußert hat. Sie bestreitet die Beleidigung ausgesprochen zu haben. Insgesamt waren die Aussagen der Zeugen von vielen Erinnerungslücken und Unklarheiten geprägt und widersprachen sich auch in Details. Zudem ist sehr befremdlich, dass der Zeuge/Polizist die A als Geschädigter vor Ort über die Beleidigung belehrt und hierzu vernommen hat. Beide Zeugen hatten umfassende Akteneinsicht und sich auch gemeinsam die Stellungnahme und das Schreiben der Verteidigung im Vorfeld der Verhandlung durchgesehen. Dies ist ebenfalls im Hinblick auf das Gesamtbild der Zeugenaussagen, die Objektivität der Aussagen und die Glaubhaftigkeit schwierig; daher war die A freizusprechen. (AG München, Urt. v. 20.2.2019 – 845 Cs 414 Js 182541/18)


§§ 185, 186 StGB – Beleidigung, Üble Nachrede; hier: Glaubhaftigkeit polizeilicher Aussagen. Der Angeschuldigte (A) ist Rechtsanwalt/Verteidiger. Am Ende der Verhandlung führte er unter anderem aus, dass die Polizeibeamten, welche als Zeugen ausgesagt hatten, den gesondert Verfolgten „drankriegen“ wollten und daher „eine Story gestrickt“ und ihm etwas „untergeschoben“ hätten. Der A behauptete, dass die polizeilichen Zeugen bewusst falsche Angaben in der Hauptverhandlung gemacht hätten. Hierbei war dem A bewusst, dass diese Behauptungen geeignet waren, die Zeugen in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen.


Auch wenn es sich bei den Zeugen um Polizeibeamte handelt, gibt dies ihren Zeugenaussagen nicht per se eine erhöhte Glaubhaftigkeit und verleiht ihnen als solchen nicht per se eine erhöhte Glaubwürdigkeit. Ein Erfahrungssatz „Polizisten lügen nie“ existiert nicht. Wenn nun der A in dem ihm zur Last gelegten Sachverhalt bei Würdigung der keineswegs widerspruchsfreien Aussagen der Polizeizeugen unter Ausübung seines Mandates (Wahrnehmung berechtigter Verteidigerinteressen), mithin in Wahrnehmung eines berechtigten Interesses, zu der Auffassung gelangt ist, dass die seinen Mandanten übereinstimmend belastenden Polizeizeugen sich womöglich gegen seinen Mandanten verschworen haben, so liegt dies nicht außerhalb jeder Denkmöglichkeit. (AG Frankfurt a.M., Beschl. v. 10.9.2019 – 914 Ds - 5170 Js 242739/18)


§§ 249, 250 StGB – Schwerer Raub; hier: K.O.-Mittel. Die Angeklagten versuchten dem bereits stark alkoholisierten Geschädigten in einer Shisha-Bar eine K.O.-Tablette zu verabreichen, indem sie diese unbemerkt in dessen Getränk warfen. Sie beabsichtigten im anschließend hilflosen Zustand ihm Bargeld abzunehmen.


Auch bei der Herbeiführung einer vorübergehenden Bewusstlosigkeit stellt ein narkotisierendes Mittel kein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB dar. Dies könnte ggf. dann anders zu beurteilten sein, wenn das Verabreichen des K.O.-Mittels etwa aufgrund seiner Zusammensetzung zu erheblichen Gesundheitsrisiken für das Opfer führen würde. (BGH, Beschl. v. 6.3.2018 – 2 StR 65/1)


§ 253 StGB – Erpressung; hier: Standgeldzahlung im Rotlichtmilieu. Das Verlangen von „Standgeldern“ stellt eine Verfügung über öffentlichen Straßenraum dar, die Privatpersonen nicht zusteht. Wird Prostituierten und ihren Zuhältern für den Fall der Nichtzahlung solcher „Standgelder“ eine „Vertreibung“ angekündigt, so kann dies eine Drohung mit einem empfindlichen Übel i.S.v. § 253 Abs. 1 StGB darstellen. Eine solche Drohung muss dabei nicht direkt ausgesprochen werden, es genügt vielmehr, wenn sie versteckt „zwischen den Zeilen“ erfolgt. Die Herstellung und Ausnutzung einer „Drohkulisse“ kann namentlich unter den besonderen Verhältnissen des Rotlichtgewerbes genügen. Zahlen prostituierende, aus Osteuropa kommende Frauen bzw. ihre Zuhälter teils über Monate, teils über Wochen insgesamt beträchtliche Geldbeträge an Dritte, kann dies, da Schenkungen als Zahlungsgrund auszuschließen sind, bereits für sich genommen als Beweisanzeichen dafür gewertet werden, dass die Zahlungen nicht freiwillig erfolgt sind. (BGH, Urt. v. 1.8.2018 – 5 StR 30/18


§§ 269 Abs. 1, 281 Abs. 1 S. 1 StGB – Fälschung beweiserheblicher Daten, Missbrauch von Ausweispapieren; hier: Fake-Anmeldung bei Ebay. Nach § 269 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer zur Täuschung im Rechtsverkehr beweiserhebliche Daten so speichert oder verändert, dass bei ihrer Wahrnehmung eine unechte oder verfälschte Urkunde vorliegen würde, oder derartige Daten gebraucht. Nicht nur Veränderungen an einem bestehenden eBay-Konto unterfallen diesem Straftatbestand, sondern auch die Einrichtung eines eBay-Mitgliedskontos unter falschem Namen. Mit dem Einrichten des Mitgliedskontos bei eBay durch Ausfüllen und Absenden des entsprechenden online-Formulars gibt der Kunde die Gedankenerklärung ab, dass die angegebene Person mit den angegebenen Personalien einen Nutzungsvertrag mit eBay abschließen möchte, die AGB des Unternehmens anerkennt und beim Handel auf der Plattform unter dem gewählten Mitgliedsnamen auftritt.


Auch durch Vorlage der Kopie oder durch elektronische Übersendung des Bildes eines echten Ausweises zur Identitätstäuschung kann ein Ausweispapier im Sinne von § 281 Abs. 1 S. 1 StGB zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht werden. (BGH, Beschl. v. 21.7.2020 – 5 StR 146/19)

 

II Prozessuales Strafrecht

 

§§ 94, 98, 110 StPO – Beschlagnahme, Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien; hier: Beschlagnahme in einer Anwaltskanzlei. Für die Beschlagnahme von Datenträgern und Daten einer Rechtsanwaltskanzlei geltend nach Rechtsprechung des BVerfG besonders strenge Voraussetzungen, da durch diesen umfassenden Zugriff das für das jeweilige Mandantenverhältnis vorausgesetzte und rechtliche geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Mandaten und den für die tätigen Berufsträgern schwerwiegend beeinträchtigt wird. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit bedeutet dies, dass eine Erforderlichkeit der Beschlagnahme des gesamten Datenbestandes einer Rechtsanwaltskanzlei dann nicht erforderlich ist, wenn die Sicherung beweiserheblicher Daten auf eine andere, die Betroffenen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann. In Betracht kommt hier etwa das Erstellen einer Teilkopie betreffend die verfahrensrelevanten Daten und das Löschen bzw. die Herausgabe verfahrensirrelevanter Daten. Auch die Nutzung von vorgegebenen Datenstrukturen (Nutzungsbeschränkung etc.) und die Zuordnung durch die Eingabe von Suchbegriffen oder Suchprogrammen sind denkbar. Da eine sorgfältige Sichtung und Trennung der Daten am Durchsuchungsort nicht immer möglich sind, steht als mildere Maßnahme zudem die Durchsicht der Daten gem. § 110 StPO im Raum. Soweit aus den Gründen der besorgten Datenverschleierung eine Beschlagnahme des gesamten Datenbestandes für erforderlich erachtet wird, bedarf es hierfür einer dezidierten, einzelfallbezogenen Begründung, die dem Übermaßverbot Rechnung trägt. (AG Aachen, Beschl. v. 7.8.2019 – 620 Gs 766/19)


§§ 102, 105 StPO – Durchsuchung bei Beschuldigten, Verfahren bei der Durchsuchung; hier: Bewusstes Hinwegsetzen über Richtervorbehalt, keine Berücksichtigung des hypothetischen Ersatzeingriffs durch Tatrichter. Der Angeklagte (A) war an einem Morgen im betrunkenen Zustand auf einer Landstraße unterwegs und wurde von der Polizei angetroffen. Im Rahmen einer Durchsuchung zur Eigensicherung wurde bei ihm ein Joint und eine kleine Menge Marihuana aufgefunden. Eine daraufhin durchgeführte Wohnungsdurchsuchung führte zum Auffinden von insgesamt 85,28 g Marihuana, 8,19 g Haschisch, Verpackungsmaterial und Betäubungsmittelutensilien. Zugunsten des A wurde davon ausgegangen, dass die Drogen zum Eigenkonsum bestimmt waren. Durch Urteil des AG wurde der A wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 20,00 Ä belegt. Im Berufungsverfahren hat das LG ihn nur wegen des bei ihm aufgefundenen Joints sowie einer kleinen Menge Marihuana des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20,00 Ä verurteilt. Eine Verurteilung wegen des weitergehenden Tatvorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge – bezogen auf die in der Wohnung verwahrten Betäubungsmittel – erfolgte nicht, da das LG einen Tatnachweis insoweit als nicht geführt angesehen hat. Der Verwertung der aus der Wohnungsdurchsuchung bei dem A erlangten Beweismittel, die wegen Gefahr im Verzug durch einen PHK angeordnet worden ist, stand nach Auffassung des LG ein Beweisverwertungsverbot entgegen, da sich der Polizeibeamte bewusst über den Richtervorbehalt hinweggesetzt habe, obwohl die Voraussetzungen zur Annahme von Gefahr im Verzug nicht vorgelegen hätten.


Mit der rechtsfehlerhaften richterlichen Bewertung, Polizeibeamte hätten sich bewusst bei der Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung über den Richtervorbehalt hinweggesetzt, entzieht sich der Tatrichter einer Berücksichtigung der Rechtsfigur des hypothetischen Ersatzzugriffs mit der Folge, dass das Urteil regelmäßig auf diesem Rechtsfehler beruht. Es wurde versäumt, sich mit der naheliegenden Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass sich die Polizei zum Zeitpunkt der Anordnung in der konkreten Situation über die Voraussetzungen von Gefahr im Verzug geirrt haben könnte. Bei einer im Besitz oder unter Betäubungsmitteleinfluss stehenden Person ist es naheliegend, dass diese weitere verbotene Drogen im Besitz haben könnte. Gerade für die Wohnung besteht ein hohes Maß an Auffindungswahrscheinlichkeit. Da die Möglichkeit einer hypothetisch rechtmäßigen Beweiserlangung verkannt wurde, ist die Sache neu zu verhandeln. (OLG Zweibrücken, Urt. v. 18.6.2018 − 1 OLG 2 Ss 3/18)


§§ 102, 103 StPO – Durchsuchung bei Beschuldigten, bei anderen Personen; hier: Durchsuchung einer von Dritten genutzten Wohnung. In einem gegen den Beschuldigten B (Bruder der Beschwerdeführerin (Bf)) geführten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren ordnete ein AG am 4.1.2018 auf der Grundlage von § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnungen des B an. Der Durchsuchungsbeschluss bezog sich auf ein großes Gutshaus, das im Miteigentum der Bf und des B steht. Die Bf wohnt dort; der B war bis November 2017 unter dieser Anschrift gemeldet und hatte bei seiner Abmeldung keine neue amtliche Meldeadresse in Deutschland angegeben. Der Beschluss wurde am 17.1.2018 vollzogen. Dabei wurden Unterlagen des B in den Wohnräumen der Bf aufgefunden und sichergestellt. Die Beschwerde der Bf, mit der sie geltend machte, die Durchsuchung ihrer Wohnung hätte nur auf der Grundlage von § 103 StPO durchgeführt werden dürfen, blieb erfolglos.


Wohnungen und Räume im Sinne des § 102 StPO sind Räumlichkeiten, die der Verdächtige tatsächlich innehat, gleichgültig, ob er sie befugt oder unbefugt nutzt, ob er Allein- oder Mitinhaber ist und ob ihm das Hausrecht zusteht. Bei Mitbenutzung oder Mitgewahrsam mehrerer Personen, von denen nur ein Teil verdächtig ist, gilt daher § 102 StPO. Unterbleiben muss eine Durchsuchung nach § 102 StPO nur dann, wenn eine eindeutige Zuordnung zum verdächtigen Mitbewohner unmöglich ist. Für eine rechtmäßige Durchsuchung auf der alleinigen Grundlage von § 102 StPO ist es nicht erforderlich, dass der B in dem Durchsuchungsobjekt wohnt; es genügt allein ein vorübergehendes Nutzen oder Mitnutzen. (BVerfG, Beschl. v. 9.8.2019 – 2 BvR 1684/18)


§ 163b Abs. 1 StPO – Maßnahmen zur Identitätsfeststellung; hier: Zwingende Eröffnungspflicht hinsichtlich Tatvorwurf. In vorliegendem Fall war jedoch schon die Einhaltung der für Maßnahmen nach § 163b Abs. 1 StPO vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten nicht ersichtlich. Gemäß § 163b Abs. 1 S. 1, letzter Halbsatz in Verbindung mit § 163a Abs. 4 S. 1 StPO hätten die eingesetzten Beamten dem Antragsteller nämlich zu Beginn ihrer Identitätsfeststellungsmaßnahmen eröffnen müssen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird. Das ist ersichtlich nicht geschehen, jedenfalls nicht aktenkundig geworden. Solange allein dieser Punkt nicht aufgeklärt worden ist, kann bereits die Rechtswidrigkeit des Handelns der Beamten nicht verneint werden. (OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.10.2018 – 1 Ws 109/18)