Sexueller Kindesmissbrauch: Aussagepsychologie vs. Wissenschaft

Von Malte Meißner, M.Sc. Klinische Psychologie, Kinderschutz Ambulanz Hagen


Der Bundesgerichtshof hat am 30.07.1999 1 festgehalten, dass Sachverständige in Verfahren zu sexuellem Missbrauch ausschließlich methodische Mittelanwenden sollen, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Im gleichen Urteil hat der Bundesgerichtshof Methoden der Aussagepsychologie als Stand der Wissenschaft beschrieben, die zwar in Deutschland anerkannt sind, in wissenschaftlichen Studien aber damals wie heute als untauglich für die forensische Anwendung bewertet werden2. Es ist sogar zu befürchten, dass sich die aussagepsychologische Methodik vor Gericht verfälschend auswirken kann und ihre Anwendung ein Vorgehen nach dem Stand der Wissenschaft verhindert.
 

Die wissenschaftliche Sicht auf die Aussagepsychologie


Die aussagepsychologische Methodik, wie sie ursprünglich von Steller und Köhnken zusammengetragen wurde, beruht nicht auf empirischen Studien und kontrollierten Fakten. Stattdessen stellt sie einen Versuch dar, Erfahrungen aus der forensischen Praxis und Annahmen aus der Gedächtnispsychologie zu systematisieren und psychologischen Gutachtern ein Instrument zur Verfügung zu stellen, das im Vergleich zu deren individuellen Vorgehensweisen objektiver ist. Auf diese Weise konnten unerlässliche Aspekte wie die Prüfung der Aussagegenese oder die Bildung von Hypothesen hervorgehoben und unerwünschte Ansätze wie die Deutung von Zeichnungen zurückgewiesen werden. Keinesfalls ist die Aussagepsychologie aber als ein im wissenschaftlichen Sinne objektives Verfahren zu verstehen, wie die krassen Unterschiede in Vorgehensweise und Qualität konkreter Gutachten3 ebenso belegen, wie die grundsätzliche Deutungshoheit des Anwenders 4.


Foto: A. Lemberger

Die aussagepsychologische Methodik ist in dem Sinne reliabel, dass ähnlich geschulte Anwender in Studien und in der Praxis zu reproduzierbaren Ergebnissen gelangen. Dies sagt allerdings noch nichts über die Validität solcher Ergebnisse aus, da es sich bei der Aussagepsychologie eben nur um eine Interpretation von Fakten handelt und die empirische Überprüfung eines Großteils der Methodik auf Grund ihrer mangelnden Standardisierung nicht möglich ist5. Wissenschaftliche Studien zur Aussagepsychologie konzentrieren sich deshalb auf das Unterverfahren der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse (Realkennzeichenanalyse), die zumindest teilstandardisiert ist. Allerdings werden Aussagen in den meisten Feldstudien6 zur merkmalsorientierten Inhaltsanalyse nicht objektiv verifiziert, so dass ihr Erlebnisbezug letztlich offen bleibt. Vielfach werden Verurteilungen oder Geständnisse als Belege für eine erlebnisbasierte Aussage und Verfahrenseinstellungen oder Freisprüche als Kriterien für eine Falschaussage gewertet. Wenn man aber berücksichtigt, dass Aussagen eine gewisse Qualität aufweisen müssen, um sowohl aussagepsychologisch als auch juristisch gewürdigt werden zu können, ergibt sich allein hieraus eine hohe Übereinstimmung zwischen negativen Befunden in Begutachtungen und Verfahrenseinstellungen. Aldert Vrij, der alle englischsprachigen Studien zur Aussagepsychologie in einer sorgfältigen Metaanalyse untersucht hat5, bestätigt zwar die grundsätzliche Korrelation der aussagepsychologischen Realkennzeichen mit als wahrhaft angenommenen Aussagen, hebt aber hervor, dass dieser Effekt in der einzigen Studie7, in der Verdachtsfälle sorgfältig genug verifiziert worden sind, nur marginal ausfällt. Weiterhin ist über alle Studien hinweg eine Fehlerrate von mindestens 30% für die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse festzustellen, während die Fehlerrate der insgesamten aussagepsychologischen Methodik auf Grund mangelnder Standardisierung und uneinheitlicher Vorgehensweisen noch nicht einmal zu erfassen ist. Entsprechend kommen die Autoren5,7 ebenso wie weitere systematische Übersichtsarbeiten zur Aussagepsychologie8,9 zum einheitlichen Schluss, dass die Aussagepsychologie auf keinen Fall in Gerichtsverfahren zum Einsatz kommen darf, schon gar nicht zur Bewertung individueller Aussagen.

Die Annahmen der Aussagepsychologie


Die aussagepsychologische Methodik basiert auf der Idee, dass sich Schilderungen tatsächlicher Erlebnisse von erfundenen Darstellungen unterscheiden lassen, sofern es nicht zu suggestiven Verfremdungen gekommen ist oder eine Aussage durch wiederholtes Erzählen verfälscht wurde. So sei bei aufrichtigen Kommunikatoren z.B. mit sensorischen Eindrücken oder ungewöhnlichen Details zu rechnen, während lügende Zeugen ihre Aussagen aus abstraktem Wissen konstruieren, weshalb hier eher mit generellen, typischen Informationen zu rechnen sei. Lügende Zeugen würden eine hohe Menge kognitiver Energie benötigen, weshalb ihre Ausführungen weniger elaboriert seien. Die Aussagen suggestiv beeinflusster Zeugen würden sich hingegen nicht von erlebnisbasierten Darstellungen unterscheiden, da der beeinflusste Zeuge sich keiner Täuschung bewusst sei und eine als real empfundene Erinnerung zu beschreiben versuche. 
Jede einzelne dieser aussagepsychologischen Grundannahmen ist zunächst einmal nur eine Hypothese, deren Gültigkeit am Stand der Wissenschaft zu überprüfen ist. Auch ist die Annahme tendenzieller Eigenschaften erlebnisbasierter, erfundener oder suggestiv geprägter Darstellungen gewagt. Schließlich ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl tatsächlicher Opfer sexueller Gewalt zugleich massiven Beeinflussungen von Seiten der Täter ausgesetzt sind. Ebenso steht jedem lügenden Zeugen ein unbekanntes Volumen sensorischer Eindrücke und kreativer Ideen zur Verfügung, die in Darstellungen einfließen können. Hierzu sagen Studien, dass routinierte Lügner keinesfalls große geistige Kräfte in ihre Darstellungen investieren müssen und beispielsweise sowohl Täter als auch Opfer langfristigen Missbrauchs routinierte Lügner sind10. Aldert Vrij kommt in seiner umfassenden Untersuchung diverser Strategien zur Wahrheitsfindung zu dem Schluss, dass Lügen weder anhand der Aussagepsychologie noch durch irgendein alternatives Verfahren zu erkennen sind5. Andere Studien zeigen, dass sich statt dessen die Vertrautheit eines Aussagenden mit dem Aussagegegenstand erheblich auf das Ergebnis der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse auswirkt11 – stärker als der Umstand, ob die Aussage erlebnisbasiert oder erlogen war12. Auch widerspricht es dem wissenschaftlichen Kenntnisstand, dass das Fehlen sensorischer Eindrücke zwar als Kennzeichen erlogener Darstellungen genannt, nicht aber bei suggerierten Erinnerungen erwartet wird2.
Des weiteren besagt der Stand der Wissenschaft13,14,15, dass wiederholte Belastungserfahrungen zu schematischen und detailarmen Erinnerungen führen und Betroffene auch spätere Lebensereignisse eher übergeneralisiert wiedergeben. Ebenso ist die kognitive Kapazität Betroffener beeinträchtigt und Affektregulationsprozesse führen zur Vermeidung negativer Emotionen und damit verbundener Erinnerungen.
Insgesamt ist festzuhalten, dass schon die Grundannahmen der Aussagepsychologie dem Stand der Wissenschaft nicht gerecht werden. Vielmehr erscheint die Aussagepsychologie als einseitige Ausdeutung von Merkmalen, die aus unterschiedlichen Gründen im Verhalten von Zeugen vorkommen können oder nicht.

Die Negation als Fehlerquelle


Darüber hinaus wird die sogenannte Negation – dass ein zu überprüfender Sachverhalt so lange negiert wird, bis dies mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist – als zentrales Prinzip der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung angesehen. Es gebe hierzu keine Alternative, weil es keine Merkmale gebe, die eindeutig mit wahren und unwahren Aussagen verknüpft seien16. Diese Vorgehensweise entspreche der Methodik der empirischen Wissenschaften und korrespondiere zugleich gut mit dem gerichtlichen Prinzip der Unschuldsvermutung.
Doch aus wissenschaftlicher Sicht kann diese Darstellung nur als gefährliche Verzerrung bezeichnet werden, die zu Fehlschlüssen führen muss. Zur Negation einer Annahme sind eben genau klare Merkmale, die vorab definiert werden und messbar sind, unerlässlich. Ohne solche Merkmale von einem fundierten Ergebnis auszugehen ist eine fehlerhafte Folgerung. Gleich mehrere Annahmen anhand unklarer Messkriterien negieren zu wollen vervielfältigt die Fehlerquellen. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als eine konfirmatorische Vorgehensweise mit umgedrehtem Vorzeichen: Nicht die Bestätigung, sondern die Widerlegung eines Sachverhalts wird zu Lasten anderer Möglichkeiten bevorzugt.
Auch aus juristischer Sicht sollte dies bedenklich erscheinen, da die Haltung eines Sachverständigen keinesfalls mit der gerichtlichen Unschuldsvermutung zu korrespondieren hat17. Vielmehr sollte ein Sachverständiger Aussagen ergebnisoffen explorieren und dabei die Möglichkeit einer erlebnisbasierten Darstellung als eine von mehreren, miteinander konkurrierenden Hypothesen annehmen.
Entsprechend ist die in der Aussagepsychologie praktizierte Negation nicht als Musterbeispiel wissenschaftlichen Arbeitens zu sehen, sondern im Gegenteil als Fehlerquelle. Berücksichtigt man darüber hinaus noch Studien18,19 die zeigen, wie sehr das Ergebnis der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse allein vom Befragungsstil und der Befragungssituation abhängt, dann sind die Auswirkungen solcher Mängel der aussagepsychologischen Methodik kaum einzugrenzen. Denn fehlerhafte Befragungen von Zeugen zählen zu den gefährlichsten verfälschenden Einflüssen auf deren Aussagen2.

Zurückweisung „irrelevanter“ Sachkenntnisse


Forensische Psychologen weisen immer wieder darauf hin, dass sie sich zur aussagepsychologischen Überprüfung eines möglichen Missbrauchsdelikts z.B. nicht mit dessen Prävalenzrate, mit Traumafolgestörungen oder kindlicher Entwicklung auskennen müssten, da ihre Methodik allein auf gedächtnispsychologischen Grundlagen beruhe20. Und tatsächlich lassen fehlerhafte und einseitige Publikationen führender forensischer Psychologen zu so grundlegenden Themen wie Suggestionen, kindlichem Aussageverhalten oder Traumata2 ebenso wie die Verkennung der spezifischen Voraussetzungen kognitiv eingeschränkter Opferzeugen in konkreten Gutachten3 befürchten, dass in der aussagepsychologischen Praxis empirisch bestätigte Fakten zugunsten einer untauglichen Methodik vernachlässigt werden. Hier ist in aller Deutlichkeit zu fragen, wie dieses anscheinend systematische und bewusste Verkennen von Faktoren, die direkten und dominanten Einfluss auf das Aussageverhalten von Menschen nehmen können, nicht nur salonfähig, sondern sogar zum Mittel der Wahl zur Beurteilung fragiler und zentraler Beweismittel in strafrechtlichen Verfahren werden konnte? Weiterhin erklären forensische Psychologen, dass die Anwendung der Aussagepsychologie nicht auf Sexualdelikte oder Kinder beschränkt sei, sondern prinzipiell für jede Fragestellung und alle Personengruppen möglich sei, sofern es um den Erlebnisbezug ihrer Aussagen gehe20. Doch diese Tauglichkeit ist der aussagepsychologischen Methodik nicht nur generell abzusprechen: Insbesondere ihre Anwendbarkeit auf Äußerungen von Kindern ist von der Forschung deutlich zurückgewiesen worden5. Darüber hinaus warnen Psychotraumatologen davor, dass die Realkennzeichen nicht dazu geeignet sind, die Aussagen traumatisierter Opferzeugen zu bewerten. Dies haben Renate Volbert und Max Steller als „irrige Kritik“ zurückgewiesen, die auf einem Missverständnis der aussagepsychologischen Begutachtungsmethodik beruhe21. Eine vorgeschlagene Modifikation der Realkennzeichen für traumatisierte Opferzeugen lehnen Volbert und Steller unter anderem deshalb ab, weil so „zirkuläre Argumentationsmuster“ in die Glaubhaftigkeitsbegutachtung eingeführt werden könnten.
Der eigentliche Zirkelschluss liegt aber darin, dass Volbert und Steller Kritikpunkte auf Missverständnisse bezüglich der Anwendung der Realkennzeichen zurückführen, während tatsächlich aber die Realkennzeichen selbst als Operationalisierung der grundlegenden Thesen der Aussagepsychologie zu hinterfragen sind. Denn das hier relevante Maß ist der Stand der Wissenschaft und nicht die aussagepsychologische Theorie, wie sie in den Realkennzeichen ausgedrückt worden ist. Wenn sich die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse auf Aussagen von Kindern nicht anwenden lässt, dann ist dies nicht ein Merkmal der „Personengruppe Kind“, sondern widerlegt die aussagepsychologischen Annahmen, insbesondere deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wenn wiederholte Gewalterfahrungen und andere belastende Ereignisse laut Studienlage13,14,15 mit schematischen, detailarmen und übergenerellen Erinnerungsmustern verknüpft sind und auch die kognitive Kapazität beeinträchtigen, dann haben sich die in den Realkennzeichen ausgedrückten Annahmen der Aussagepsychologie als ungeeignet erwiesen, in gerichtlichen Verfahren Wahrhaftigkeit herauszustellen. Und nicht nur zu Kindern und Traumatisierten, auch in Bezug auf Depressionen, emotionale Störungen oder kognitive Einschränkungen lässt der Stand der Wissenschaft keinen Raum für die aussagepsychologische Herangehensweise. Denn selbst wenn die Realkennzeichen mit geringer Trennschärfe Gültigkeit hätten, wären sie auf Grund der anderen Einflussfaktoren auf das Aussageverhalten nicht zu deuten.

Ausblick


Die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann weder anhand der aussagepsychologischen Methodik bestimmt werden, noch existiert ein alternatives Verfahren, das die Rolle der Aussagepsychologie übernehmen könnte5. Ihre Anwendung in Gerichtsverfahren muss zu Fehlern führen, die sich u.A. auf Grund des Negationsprinzips oder der einseitigen Bewertung von Suggestionen und Zeugenmerkmalen vorrangig zu Lasten der Opferzeugen auswirken werden. Das ist im Sinne der Vermeidung ungerechtfertigter Verurteilungen zwar zu begrüßen, doch leider hat das Vertrauen in die aussagepsychologische Methodik auch dazu geführt, dass sehr späte Zeugenaussagen verfahrenstechnisch hervorgehoben werden, da die meisten minderjährigen Opferzeugen erst nach vorangegangenen Gesprächen über ihre Erfahrungen und zeitlichen Verzögerungen bei der Polizei aussagen22. Die Folge sind unzuverlässigere und unvollständigere Beweismittel, die sich auch zu Lasten der Beschuldigten auswirken können. Denn auch wenn Aussagen von Opferzeugen in Verfahren zu sexuellem Missbrauch häufig notwendige Beweismittel sind und unmittelbar erbracht werden müssen, ist es weder sinnvoll noch notwendig die Aussageentstehung oder eventuelle verfälschende Einflüsse erst zu diesem Zeitpunkt überprüfen zu wollen, sofern es sich nicht um Erstaussagen handelt. Niemand käme auf die Idee, mit der medizinischen Versorgung von Verletzten oder der Sicherung von Tatortspuren bis zur Hauptverhandlung zu warten, wie Kirsten Stang und Ulrich Sachsse so treffend formuliert haben23. Gemäß des wissenschaftlichen Kenntnisstands sollten auch die Aussagen Minderjähriger so früh wie möglich erfasst und in ihrer Entstehung überprüft werden2. Bezogen auf sexuellen Missbrauch stellt sich die Frage, wer das sachgerecht tun könnte. Können Fachkräfte der Polizei in der notwendigen Ausführlichkeit und Behutsamkeit mit dem sozialen Netzwerk eines potenziellen Gewaltopfers interagieren, um Hörensagen über kindliche Äußerungen bis zu deren Ursprung zurückzuverfolgen und die aktuelle Haltung des Zeugen vor dem Hintergrund eventueller Beeinflussungen zu bewerten? Sollten Therapeuten alle Gespräche mit einem potenziellen Gewaltopfer aufzeichnen und dem Klienten bei einer Entscheidung für eine Strafanzeige zur Verfügung stellen? Können Jugendamt und Familiengericht bei der Entscheidung über eventuelle Schutzmaßnahmen für einen Minderjährigen strafrechtliche Prozesse abwarten?
Hier ist natürlich zu sagen, dass jede Stelle erst einmal das tut, was sie als ihre Aufgabe ansieht. Dabei kann es ebenso gut zu authentischen Äußerungen von Zeugen kommen, die unzureichend oder überhaupt nicht dokumentiert werden, wie zu verfälschenden Einflussnahmen, deren Folgen kaum einzugrenzen sind2. Im Vertrauen auf die aussagepsychologische Methodik zielen viele Handlungsempfehlungen für Fachkräfte daher bislang darauf ab, sachbezogene Gespräche mit möglichen Opferzeugen im Vorfeld von Strafverfahren zu vermeiden. Eine am Stand der Wissenschaft orientierte Handlungsanweisung müsste dagegen lauten, dass die erste geeignete Stelle die Aufgabe hat, für die sachgerechte Exploration und Dokumentation von Aussagen zu sorgen. Jede Fachkraft, die mit Äußerungen potenzieller Opferzeugen konfrontiert ist, kann durch eine richtige Reaktion mehr erreichen, als nachträglich eingeschaltete Gutachter – und dass ohne ihre eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen oder „Beweismittel“ sichern zu wollen. Denn die umfassende Dokumentation auffälliger Kindesäußerungen sollte etwa in pädagogischen oder medizinischen Kontexten zum selbstverständlichen Standard gehören, kann darüber hinaus aber später ebenso zur Absicherung der Aussageentstehung beitragen, wie sich verfälschende Auswirkungen einer Therapie anhand der genauen Dokumentation erster sachbezogener Äußerungen eines Klienten untersuchen lassen. Werden potenzielle Opferzeugen bereits im Rahmen der Jugendhilfe einer sachgerechten Diagnostik zur Abklärung von Gewalterfahrungen zugeführt, kann dies gleichermaßen familienrechtliche wie auch strafrechtliche Verfahren unterstützen. Denn in einer frühzeitigen Diagnostik mit einer angemessenen Gestaltung und Zahl an Kontakten können nicht nur Aussageentstehung und -entwicklung weit genauer und altersgerechter erfasst werden, als in einer nachträglichen Begutachtung, sondern auch verfälschende Faktoren deutlicher zu Tage treten. So zeichnen sich Loyalitätskonflikte, Beauftragungen oder Verhaltensänderungen eher im Vergleich verschiedener Zeitpunkte und im Kontrast mit Äußerungen von Bezugspersonen ab, als in isolierten Begegnungen2.
Ein Schwerpunkt der internationalen Forschung zur Befragung Minderjähriger liegt darin, erarbeitete Gesprächsrichtlinien flächendeckend in die Praxis zu übertragen. Bewehrt haben sich hierzu standardisierte Interviews, wie das verbreitete NICHD investigative interview24, das die Minimierung von Befragungsfehlern und nicht die Inspiration von möglichst umfassenden Aussagen zum Ziel hat. Seine Anwendung konnte die Qualität der von potenziellen Opferzeugen erhobenen Informationen in mehreren Feldstudien in unterschiedlichen Ländern und Sprachen erheblich verbessern24. Die Hälfte forensisch relevanter Informationen und über 80% initialer Missbrauchsoffenbarungen von Vorschülern seien in allen Studien in Reaktion auf offene Aufforderungen ausgesprochen worden. Auch forensisch wichtige Informationen, wie etwa Zeit, Ort und Beteiligte eines Missbrauchs, seien von jüngsten Kindern weitgehend in freier Rede erbracht worden, wodurch kontaminierende Selektivfragen vermieden werden konnten. In einem Bericht an das US-Justizministerium wurde für den Rahmen einer großen Studie festgestellt, dass die Verwendung des Protokolls in Verdachtsfällen von Kindesmissbrauch sowohl die Zahl der Anklageerhebungen, als auch die Zahl der Verurteilungen (von 54% auf 94%) erhöht hat25.

Anmerkungen

  1. BGH, 30.07.1999 - 1 StR 618/98
  2. Meißner, M. (2013). Der Konflikt der Aussagepsychologie mit dem Stand der Wissenschaft. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, 16, 146-167.
  3. König, C. & Fegert, J.M. (2009). Zur Praxis der Glaubhaftigkeitsbegutachtung unter Einfluss des BGH-Urteils (1 StR 618/98). Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, 12 (2), 16-41.
  4. Fiedler, K. & Schmid, J. (1999). Gutachten über Methodik und Bewertungskriterien für Psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten. Praxis der Rechtspsychologie, 9 (2), 5-45.
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