Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung (Teil 2)


Von Prof. Michael Knape, Berlin1

3 Schusswaffengebrauch nach Strafprozessrecht

Die StPO enthält zwar eine Vielzahl von Eingriffsbefugnissen für die Durchführung notwendiger strafprozessualer Ermittlungshandlungen, regelt jedoch nicht, wie diese Maßnahmen – z.B. die Identitätsfeststellung, vorläufige Festnahme, Durchsuchung, Sicherstellung und dergleichen – durchgesetzt werden können. Es fehlt ganz einfach ein Normkonstrukt, das die Vollstreckung bzw. Durchsetzung – ähnlich dem VwVG, das den Zeitpunkt regelt, ab wann ein Grund-Verwaltungsakt vollzogen werden darf,2 und dem UZwG, das die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges regelt – prozessualer Handlungen zum Gegenstand hat. Am fehlenden Zwangsrecht ändern auch jene Vorschriften nichts, die Maßregeln als Beugemittel vorsehen, wenn es z.B. gilt, prozesswidriges Verhalten von Zeugen oder Sachverständigen durch Ordnungsmittel i.S.d. §§ 51, 70 und 77 StPO zu ahnden. Zu den sog. Ungehorsamsfolgen zählen z.B. die Kostenauferlegung bei unentschuldigtem Ausbleiben bzw. Nichterscheinen trotz ordnungsgemäßer Ladung, die Festsetzung wiederholten Ordnungsgeldes und für den Fall, dass dieses bei Zeugen nicht beigetrieben werden kann oder zur Erzwingung des Zeugnisses, die Anordnung bzw. Festsetzung von Ordnungshaft oder dessen zwangsweise Vorführung3 gem. § 135 StPO. Wegen des Fehlens vollstreckungsrechtlicher Mittel zur Erzwingung der angeordneten prozessualen Grund-Maßnahme finden sich folglich auch keine Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch in der StPO. In der Lehre spricht man diesbezüglich von einem zweiaktigen Verfahren, das die Anordnung der strafprozessualen Maßnahme und zugleich deren Erzwingung durch unmittelbaren Zwang – im äußersten Fall durch Schusswaffengebrauch – beinhaltet.4 Diese Lücken wurden von der früher noch herrschenden Auffassung mit der sog. Ergänzungsfunktion des Polizeirechts für das Strafprozessrecht geschlossen.5 Begründet wurde diese Auffassung in den 1970-er Jahren wie folgt: „Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehört die Materie des Strafverfolgungsrechts zur konkurrierenden Gesetzgebung, und zwar einschließlich des staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlungsverfahrens.6 Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung aber nur, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1 GG). Auszugehen ist davon, dass der Bundesgesetzgeber das Strafprozessrecht bundesrechtlich (§ 6 EGStPO) geregelt hat, soweit es das gerichtliche und staatsanwaltschaftliche Verfahren angeht.7 Zweifelhaft ist dagegen, ob dies auch für den polizeilichen Bereich zutrifft. Die wohl herrschende Meinung billigt hier dem Landesgesetzgeber die Regelungsbefugnis für bestimmte verfahrenstechnische Maßnahmen von untergeordneter Bedeutung zu, hauptsächlich gilt dies für die Identitätsfeststellung,8 die Sistierung, die zwangsweise Vorführung zu Vernehmungen sowie für die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwanges.9 Begründet wird dies meist mit dem Hinweis, dass der Gesetzgeber diese Befugnisse als zur normalen polizeilichen Aufgabe gehörig angesehen und deshalb auf eine spezielle Regelung in der Strafprozessordnung verzichtet habe.10 Nach dieser herrschender Meinung ist es dem Berliner Landesgesetzgeber also durchaus möglich, das UZwG Bln in vollem Umfang in Kraft zusetzen.“11 Die dargelegte Auffassung war nach hier vertretener Meinung schon damals unter rechtssystematischen Gesichtspunkten bedenklich. Denn Schwierigkeiten ergeben sich damals wie heute aus § 6 Abs. 1 EGStPO. Nach dieser Vorschrift sind alle prozessrechtlichen Vorschriften des Landesrechts außer Kraft gesetzt, soweit die StPO nicht ausdrücklich durch Verweisung ihre Gültigkeit bestätigt. Die nach § 6 Abs. 2 EGStPO unberührt gebliebenen Vorschriften sind hier nicht einschlägig. Alle bisherigen Versuche,12 durch restriktive Auslegung/Interpretation des Begriffs prozessrechtlicher Vorschriften in § 6 EGStPO diese Sperre in der an sich zulässigen konkurrierenden Gesetzgebung zu überwinden, sind jedoch nicht überzeugend; sie scheitern am klaren und eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift.13 Eine subsidiäre Anwendung des Landespolizeirechts auf dem Gebiet der repressiven Strafverfolgung ist nach heute herrschender Meinung nicht möglich.

3.1 „Archaische Lösung“

Wie bereits festgestellt, enthält die StPO keinerlei Vorschriften über die Berechtigung zur Anwendung unmittelbaren Zwanges mit dem Ziel, einen von diesem Gesetz zugelassenen Rechtseingriff zu vollziehen.14 Zudem sind die Polizeigesetze der Länder weder direkt noch entsprechend anwendbar. Die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden (StA und Polizei) zu Eingriffen in die persönliche Freiheit des Staatsbürgers sind in der StPO geregelt. Zwangsmaßnahmen gegen Personen (Beschlagnahmen, Durchsuchungen, vorläufige Festnahmen) aus eigener Machtbefugnis dürfen sie nur unter ganz bestimmten, eng begrenzten Voraussetzungen ergreifen (§§ 98, 105, 127 StPO). Es liegt nahe, diese Regelungen als erschöpfend und ausschließlich anzusehen und die Anwendung von Landesrecht in diesem Bereich auszuschließen. Das gilt nicht nur, weil die StPO das Verfahren bei der Verfolgung von Straftaten als Sondergebiet regelt und weil eine Doppelermächtigung der Polizei zu Zwangseingriffen derselben Art überflüssig und wegen der Gefahr von Überschneidungen und Unklarheiten – abgesehen von der Regelung in den Art. 72 und 74 Abs. 1 Nr. 1 GG – untunlich, ja sogar verfassungsrechtlich unzulässig wäre.15 Nach heute herrschender Meinung ergibt sich das Recht zur Zwangsanwendung daher unmittelbar aus den Normen der StPO selbst.16 Diese Auffassung leitet sich aus Sinn und Zweck ihrer Vorschriften ab; die teleologische Auslegung hilft hier entscheidend weiter. Insoweit soll sich die Zulässigkeit aus dem Sinn und Zweck unter gleichzeitiger Bindung an den Wortsinn der zum Eingriff ermächtigenden Norm, also aus der durchzusetzenden Anordnung bzw. Maßnahme selbst, ergeben, z.B. bei der körperlichen Untersuchung/Blutentnahme aus § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO, bei der erkennungsdienstlichen Behandlung aus § 81b StPO, bei vorläufiger Festnahme aus § 127 StPO, bei der Verhaftung aus §§ 112 ff. StPO, bei der Durchsuchung aus §§ 102 f. StPO, bei der Vorführung aus der Vielzahl von Vorführungsbefehlen, die aufgrund unterschiedlicher Normen der StPO gegen Beschuldigte, Angeklagte oder Verurteilte erlassen werden können (z.B. §§ 133 Abs. 2; 134, 135, 163a Abs. 3, 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 oder 457 Abs. 2 StPO).17

Zum einen wollen Eingriffe mit repressiver Zielrichtung – z.B. hinsichtlich der Bestimmung nach § 81a StPO bei Trunkenheitsfahrten – auch die „sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung“ nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers erreichen.18 Hierbei geht es um die Blutentnahme beim Beschuldigten, die ihrerseits, verbunden mit der in § 81a StPO normierten Duldungspflicht des Betroffenen, bereits als solche Anwendung von Zwang darstellt, unabhängig, ob zusätzlich zu deren Durchsetzung unmittelbarer Zwang durch körperliche Gewalt – Festhalten des Beschuldigten – angewendet werden muss oder nicht (man denke an angetrunkene Personen, die sich womöglich gegen die Blutentnahme wehren). Entscheidend ist zudem der Blick auf das Normkonstrukt der StPO als Ganzes. Die sog. Zwangsmittelimmanenz strafprozessualer Befugnisnormen19 ergibt sich gesetzessystematisch zum anderen im logischen Rückschlussverfahren im Rahmen der Negativabgrenzung in Hinblick auf § 81c Abs. 6 Satz 2 StPO. Insoweit vermag das Rückschlussverfahren den unbefangenen Betrachter in Hinblick auf die Anwendung durch Zwang – zwangsweise Durchsetzung prozessualer Handlungen – zwar durchaus überzeugen, Bestimmtheit und Normenklarheit bleiben jedoch eindeutig auf der Strecke. Da nach Satz 2 dieser Befugnisnorm ausdrücklich unmittelbarer Zwang nur auf besondere Anordnung des Richters angewandt werden darf, vergleichbare Regelungen richterlicher Anordnung des unmittelbaren Zwanges in anderen Vorschriften der StPO nicht enthalten sind, ergibt sich im logischen Rückschlussverfahren, dass zwangsläufig bei allen anderen Maßnahmen der StPO die Anwendung unmittelbaren Zwanges einschließlich des Schusswaffengebrauchs – aufgrund fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Regelung wie im Fall des § 81c Abs. 6 Satz 2 StPO, also kraft Nichtnennung – sinnlogisch zulässig ist. Mit anderen Worten: Die Zulässigkeit der Vollstreckung strafprozessualer Maßnahmen mittels unmittelbaren Zwanges ergibt sich aus der jeweiligen Befugnisnorm der StPO unmittelbar, sie ist diesen immanent.20 Unter dem Regime des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Übermaßverbot – kommt es bei der Erforderlichkeit des unmittelbaren Zwanges auf die Schwere der Tat und auf die Stärke des Tatverdachts, aber auch auf die Intensität von Widerstandshandlungen desjenigen an, gegen den die strafprozessuale Maßnahme angeordnet wird und der sich dieser zu erwehren versucht, man denke z.B. an den Schusswaffengebrauch gegen Ausbrecher.21 Die Anwendung von Zwang – der Nachteil, der durch dessen Anwendung beim Betroffenen eintritt – darf dabei nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem erstrebten Erfolg stehen. Für die Festnahmemittel im Rahmen des § 127 StPO gilt allgemein, dass sie nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des mit der Festnahme verfolgten Zwecks stehen dürfen; die StPO schweigt sich ansonsten über die Anwendung der Zwangsmittel, insbesondere über die Art und Weise – das „Wie“ – ihrer Anwendung aus. Dieses Ergebnis offenbart einen Mangel an Bestimmtheit und Normenklarheit. Dass z.B. die Ladung unter der Androhung geschehen kann, dass im Falle des Ausbleibens des Beschuldigten zur Vernehmung die Vorführung erfolgen werde, vermag dieses Ergebnis nicht nachhaltig zu ändern. Denn die Gesetzessystematik der StPO ähnelt in diesem Fall der des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, das z.B. vorsieht, eine Platzverweisung bei Nichtbefolgung des Störers durch Ingewahrsamnahme durchzusetzen; im Übrigen gilt Gleiches für die präventive Vorladung und Vorführung.22 Auch hier handelt es sich um zwei unterschiedliche Maßnahmen, mögen diese auch aufeinander aufbauen. Wie die Ingewahrsamnahme eine Folgemaßnahme zur Platzverweisung ist, ist die Vorführung eine Folgemaßnahme zur Vorladung. Dem Beschuldigten wird lediglich mitgeteilt, dass für den Fall der Nichtbefolgung der Vorladung zur Vernehmung seine Vorführung erfolgen wird. Ob und wie womöglich bei der Vorführung unmittelbarer Zwang angewendet wird bzw. werden darf, ist der Vorschrift des § 133 StPO nicht zu entnehmen. So ist es seit jeher geltendes Recht, dass ein richterlicher Haftbefehl – z.B. wegen Fluchtgefahr nach § 112a Abs. 2 Nr. 2 StPO vom Richter erlassen – zugleich auch die Befugnis beinhaltet, den Beschuldigten an jedem Ort mittels Anwendung unmittelbaren Zwanges durch die zuständigen Polizeikräfte zu ergreifen, gegebenenfalls, soweit erforderlich, auch seine oder fremde Wohnungen zu betreten, dabei möglicherweise sogar Wohnungstüren gewaltsam zu öffnen, um den Haftbefehl zu vollstrecken. Diese möglicherweise zusätzlich notwendig werdenden Handlungen im Zuge der Vollstreckung eines Haftbefehls werden in diesem nicht explizit genannt, schon gar nicht vom Haftrichter im Haftbefehl schriftlich fixiert. Sie sind konkludenter Bestandteil desselben, um den schriftlichen Befehl des Haftrichters zu erfüllen, den Beschuldigten wo immer und wann immer – ohne Nachzeitbindung wie bei den richterlichen Durchsuchungsbeschlüssen – zu ergreifen. § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO lässt gesundheitlich unbeachtliche Maßnahmen zu, wie z.B. das Abschneiden oder Färben der Haare oder das Abrasieren des Bartes.23 Beides stellt unzweifelhaft Anwendung von Zwang dar. Die Schwere der Tat, die Stärke des Tatverdachts sowie die Verhalten des Beschuldigten regulieren also einmal mehr das Maß und den Umfang der Anwendung unmittelbaren Zwanges, beginnend mit körperlicher Gewalt über Hilfsmittel der körperlichen Gewalt bis hin zum Waffengebrauch, der – als ultima-ratio-Lösung – auch im Gebrauch der Schusswaffe zum Anhalten flüchtender Verdächtiger oder Straftäter münden kann. Diese Abstufung ist Ergebnis einer im Einzelfall exakten Abwägung der Verhältnismäßigkeit polizeilicher Zwangsmittel,24 wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bekanntermaßen Verfassungsrang genießt25 und zu den wichtigsten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips zählt. Die Argumentation bewegt sich insoweit auf den von der herrschenden Meinung vertretenen Begründungswegen, denen die polizeirechtliche Literatur keineswegs unreflektiert folgt.26 Dem Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielsetzung etwa allein schon aufgrund des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit das Wort reden zu wollen, stünde nicht in Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot und dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit, auch wenn eine derartige Ansicht wegen der Sperrwirkung des § 6 Abs. 1 EGStPO durchaus – hier und da – vertreten wird.27 Derartige Gedanken führen jedoch in eine rechtliche Sackgasse.


Pistole als Standardausrüstung der Polizei

3.2 Bestimmtheit – Normenklarheit

Der Blick auf den Vorschriftenkomplex der StPO lässt in Bezug auf die Anwendung unmittelbaren Zwanges, insbesondere hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs, nahezu alles vermissen, was das Grundgesetz einfach-gesetzlich von diesen Ausprägungen i.S.d. Rechtsstaatsprinzips verlangt. Der Vorbehalt des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG erschöpft sich nicht etwa nur in der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe. Er setzt vielmehr voraus, dass alle wesentlichen Fragen vom Parlament selbst entschieden werden.28 Das förmliche Gesetz – und ein solches wird von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG für Eingriffe in die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit verlangt – muss in diesem Sinne ausreichend bestimmt bzw. genau sein.29 Der Vorbehalt des Gesetzes betrifft nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wieweit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben.30 Mit dem Bestimmtheitsgebot von Normen werden verfassungsrechtlich entsprechend hohe Voraussetzungen verlangt: Die Klarheit der Eingriffsintensität i.V.m. der Grundrechtswesentlichkeit sowie die Bestimmung der Reichweite des Vorbehalts des (förmlichen) Gesetzes.31 Diesbezüglich ist die Rede vom Parlamentsvorbehalt,32 obwohl genau genommen der Gesetzesvorbehalt insgesamt ein Parlamentsvorbehalt ist.33 Wie genau und bestimmt das förmliche Gesetz sein muss, wie umfangreich die Wesentlichkeit der Entscheidung sein muss, hängt – wie die Reichweite des Gesetzesvorbehalts – von der sog. Wesentlichkeitstheorie ab.34 Sie verpflichtet den Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung – soweit diese staatlicher Regelung überhaupt zugänglich ist – alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.35 Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung sind, je intensiver Grundrechte betroffen sind (z.B. der Schusswaffengebrauch gegen Personen), desto genauer müssen die Vorgaben des förmlichen Gesetzgebers sein36 oder anders ausgedrückt: Je schwerer der Eingriff ist, desto präziser muss die gesetzliche Regelung sein.37 An dieser Stelle klafft mit Blick auf die rechtsstaatliche Klarheit und Bestimmtheit eine nicht zu übersehende Lücke in der StPO, weil etwas Klares unbestimmt und etwas Unklares bestimmt sein kann. Man merkt deutlich, dass die StPO in weiten Teilen vorkonstitutionelles Recht ist, das von einem tradierten Rechtsverständnis beherrscht wird, zudem der Zitierpflicht des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, einer Schranken-Schranke und damit einer wesentlichen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in seinem nachkonstitutionellen Teil zwar unterworfen ist, aber in einem von der Rechtsprechung des BVerfG geprägten Rechtsverständnis für den Schusswaffengebrauch gewünschten verfassungsrechtlichen Weise jedenfalls nicht Schritt zu halten vermag. Stärker denn je richtet sich infolgedessen der Blick auf die Polizeigesetze der Länder, verbunden mit der Frage, was diese angesichts der strafprozessualen Sperrwirkung des § 6 Abs. 1 EGStPO in welcher Weise tatsächlich wie regeln. Denn gerade der Bestimmtheitsgrundsatz ist ein für jeden Rechtsstaat unverzichtbarer Grundsatz, der im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in Ansehung von Gesetzesbefehlen und Normanordnungen mit Grundrechtswirkung eine ausreichende inhaltliche Bestimmtheit verlangt, damit der jeweilige Adressat erkennen kann, was von Gesetzes wegen von ihm verlangt wird, so dass der Grundrechtsträger eindeutig und unmissverständlich Art, Umfang und Tragweite des staatlichen Handelns einzuschätzen vermag, kurzum, sein Verhalten danach ausrichten kann.38 Demnach spielen verwaltungsinterne Ausführungsvorschriften, die den Rechtscharakter von Verwaltungsvorschriften erfüllen, insoweit mit Blick auf das Auswahlermessen durchaus bindend wirken, für die Auslegung von Normen des unmittelbaren Zwanges in den Polizeigesetzen der Länder zwar eine gewichtige Rolle. Bei der Frage des „Ob“ sind sie jedoch bedeutungslos.39

3.3 Art. 2 EMRK – Recht auf Leben

Wie bereits angesprochen, steht Art. 2 GG einer Tötung durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch grundsätzlich nichts entgegen. Übrig bleibt der Vollständigkeit wegen die Frage, ob dieses Ergebnis auch mit der EMRK vereinbar ist, obgleich die EMRK als Ganzes nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts einzustufen ist, die nach Art. 25 GG den (förmlichen) Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland vorgeht.40 Nur für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts enthält Art. 25 GG den Vollzugsbefehl bzw. die Transformation. Lediglich einzelne Bestimmungen sind allgemeine Regeln des Völkerrechts, so z.B. die Art. 2, 4, 5 und 6 EMRK. Die EMRK steht daher kraft gesetzlicher Übernahme im Rang eines einfachen Bundesgesetzes; auch aus Art. 1 Abs. 2 GG ergibt sich kein Verfassungsrang der EMRK. Das sonstige Völkerrecht – z.B. die EMRK als solche – muss dagegen durch einen eigenständigen Transformationsakt übernommen werden. Im Bereich des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ist eine bundesgesetzliche Regelung notwendig. Aufgrund dieser Verfassungsnorm i.V.m. der dem Zustimmungs-/Ratifikationsgesetz vom 7.8.1952 begründeten Inkorporation der EMRK haben Legislative, Exekutive und Judikative – also auch die Polizeibehörden des Bundes und der Länder – die EMRK wie jedes deutsche Gesetz unmittelbar zu beachten.41 Art. 2 Abs. 2 EMRK bestimmt, dass eine Tötung nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet wird, wenn sie durch eine Gewaltanwendung – also z.B. durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch oder durch Notwehr/Nothilfe gem. § 32 StGB – verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
jedermann gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.

Art. 2 Abs. 2 lit. b EMRK wird einer strafverfolgenden Situation voll und ganz gerecht. Erfolgt in diesem Fall der Schusswaffengebrauch durch einen Hoheitsträger (Schusswaffengebrauch zum Anhalten flüchtender Verdächtiger oder Straftäter), so ist ein solcher Schusswaffengebrauch nicht konventionswidrig. Der Begriff der Festnahme korrespondiert – nach dem jeweils nationalen Recht – in der Bundesrepublik Deutschland mit dem der vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 Satz 1 und § 127 Abs. 2 i.V.m. §§ 112 ff. StPO. Nicht darunter fällt die Festnahme von Störern gem. § 164 StPO. Ergebnis ist, dass ein hoheitlicher Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielrichtung, der – obwohl die StPO ausnahmslos vom lebenden Täter/Straftäter (Verdächtigen, Beschuldigten [Angeschuldigten, Angeklagten oder > rechtskräftig < Verurteilten]) ausgeht – womöglich tödlich wirkt, nicht im Widerspruch zu Art. 2 Abs. 2 EMRK steht, soweit die Schussabgabe als letztes Mittel (verfassungsrechtlicher Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter den rechtlichen Kautelen der Erforderlichkeit [Eingriffsminimum] und Angemessenheit) erfolgt.

3.4 Zitiergebot – Zweckbestimmung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG

Es stellt sich die Frage, ob das Zitiergebot für die Anwendung unmittelbaren Zwanges auch in der StPO zwingend Beachtung finden muss. Das förmliche Gesetz, das ein Grundrecht einschränkt oder dazu ermächtigt, muss gem. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich darauf hinweisen, dass das betreffende Grundrecht eingeschränkt wird. Geschieht das nicht, verletzt das Gesetz das eingeschränkte Grundrecht i.V.m. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und ist demzufolge nichtig.42 Das gilt jedoch in dieser Stringenz nicht für sog. vorkonstitutionelles Recht, also für eine Vielzahl von Normen der StPO, so z.B. für die Vorschriften betreffend die körperliche Untersuchung/Blutentnahme, erkennungsdienstliche Behandlung, vorläufige Festnahme, Verhaftung, Durchsuchung, Vorführung und dergleichen.43 Dazu zählen erst recht die diesen Normen der StPO innewohnenden Befugnisse zur Anwendung von Zwang, um z.B. die Blutentnahme gegen den Willen des Beschuldigten – nötigenfalls auch durch Anwendung unmittelbaren Zwanges – durchzusetzen.44
Zwangsrecht, das den der hier in Rede stehenden Normen der StPO nach Sinn und Zweck innewohnt, ist ebenfalls vorkonstitutioneller Natur. Der Hinweis auf das einschlägige Grundrecht muss nicht notwendig der entsprechenden Einzelvorschrift angefügt werden. Es genügt, wenn das betreffende Gesetz einen derartigen Hinweis enthält.45 Unzureichend ist ein Hinweis in der Gesetzesbegründung auch dann, wenn es sich um eine amtliche Begründung handelt.46 Bei einem Änderungsgesetz, wie z.B. den zahlreich in Kraft getretenen Änderungsgesetzen zur StPO nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, muss der Hinweis im Änderungsgesetz stehen. Dies gilt auch dann, wenn das zu ändernde Gesetz bereits einen entsprechenden Hinweis enthält, soweit das Änderungsgesetz, wie z.B. im Fall der StPO mehrmals geschehen, deutlich weitergehende Eingriffe erlaubt.47 Das Zitiergebot, eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und in seiner Funktion als Schranken-Schranke, hat den Zweck sicherzustellen, dass nur wirklich gewollte Eingriffe erfolgen und sich der Gesetzgeber über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft gibt.48 Verbunden mit dem Wissen, dass viele – tradierte – Normen der StPO, vor allem jene im o.a. Sinne, sog. vorkonstitutionelles Recht sind, kommt man verfassungsrechtlich unter zwei Gesichtspunkten zu einem in jeder Hinsicht vertretbaren Ergebnis. Erstens: Aus Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG folgt mit der höchst-richterlichen Rechtsprechung des BVerfG, dass diese Verfassungsnorm nur für die nachkonstitutionelle Gesetzgebung gilt.49 Zweitens: In den Polizeigesetzen bzw. Gefahrenabwehr-/ Verwaltungsgesetzen der Länder, in denen der unmittelbare Zwang zu präventiven und repressiven Zwecken geregelt ist, wird dem Zitiergebot konsequent Folge geleistet. Dies gilt auch für das UZwG Bln und UZwG Bund.50

4 UZwG Bln oder UZwG Bund?


Eine interessante Frage wirft sich zum Abschluss dieses Beitrags zwangsläufig auf: Müsste die StPO, die klassisches Bundesrecht ist, wenn überhaupt nicht eigentlich durch das UZwG Bund51 ergänzt werden, mit der Folge, dass dann die landesgesetzlichen Schusswaffenvorschriften in den Polizeigesetzen mit repressiver Zielrichtung obsolet sind? Hierfür spräche die Gesetzessystematik. Die StPO als Bundesgesetz würde durch Bundesrecht in Gestalt des UZwG Bund mit Regelungen des Schusswaffengebrauchs gegen Personen unter repressiver Zielrichtung ergänzt werden. Dies würde auf den ersten eher oberflächlichen Blick durchaus passgenau sein und auch nicht mit § 6 Abs. 1 EGStPO kollidieren, der seine prinzipielle Sperrwirkung nur auf prozessrechtliche Vorschriften der Landesgesetze erstreckt. An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, was die Vorschriften der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges tatsächlich regeln. Diese Frage soll anhand desjenigen Gesetzes beantwortet werden, das die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte in einem eigens dafür geschaffenen Gesetz regelt. Es handelt sich um das UZwG Bln, welches für die Vollzugbeamten des Landes Berlin gilt, wozu nicht nur die Vollzugsbeamten der Polizei zählen. § 1 UZwG Bln spricht von „rechtmäßiger Amtsausübung, soweit die Anwendung unmittelbaren Zwanges gesetzlich zugelassen ist“. Diese der Zwangsausübung vorgelagerte „Rechtmäßigkeit“, im Land Berlin, zusätzlich noch verstärkt durch die Vorbehaltsklausel „soweit“, bestimmt sich präventiv regelmäßig nach den Vorschriften des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes (VwVG), dessen Anwendung wiederum eine polizeiliche Maßnahme nach dem materiellen Polizei- und Ordnungsrecht (ASOG Bln) voraussetzt.52 Bei repressiven polizeilichen Eingriffen – also zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten – sind in solchen Fällen die Vorschriften der StPO und des OWiG anzuwenden. Die Ausführungsvorschriften zum UZwG Bln nehmen dazu explizit Stellung. Die AV Pol UZwG Bln Nr. 3 lit. c, d und e zu § 1 UZwG Bln53 stellt klar, dass sich für Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsmaßnahmen einschließlich der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten die Ermächtigung zur Anwendung unmittelbaren Zwanges – abgesehen von Spezialvorschriften – insbesondere aus den Vorschriften der StPO, bei Ordnungswidrigkeiten aus den Vorschriften der StPO via § 46 Abs. 1 OWiG und aus den Vorschriften wie §§ 97, 98 OWiG ergibt. Bei repressiven polizeilichen Eingriffen umfasst – wie oben in Nr. 3.1 ausführlich angesprochen – die jeweilige Befugnis grundsätzlich konkludent das Recht, den polizeilichen Eingriff auch zwangsweise durchzusetzen.54 Das UZwG Bln regelt demnach nicht das „Ob“ i.S.e. klassischen Ermächtigung („Ob“ überhaupt die Maßnahme getroffen werden darf), ergänzt bzw. erweitert also nicht den Befugniskanon der StPO, sondern legt nur die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges, also das „Wie“ der Zwangsanwendung fest, z.B. ob – in der gesetzlich beschrieben Art und Weise – die Fesselung einer Person zulässig ist oder die Schusswaffe gegen Personen oder Sachen eingesetzt werden darf, bei flüchtenden Verdächtigen oder Straftätern zu deren Ergreifung (vorläufigen Festnahme, Verhaftung).55 Der Schusswaffengebrauch gegen Sachen ist auch in Fällen zulässig, die nicht von den Vorschriften der §§ 11 bis 16 UZwG Bln56 erfasst sind. Dieser Schusswaffengebrauch ist nicht an vergleichbar strenge Voraussetzungen gebunden. Beispielsweise kann es erforderlich sein, beim Eindringen in Kellerräume, die mit einer Stahltür fest verschlossen sind und in denen sich der auf der Flucht befindliche Verdächtige, welcher eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist, wobei bei Vergehen Anhaltspunkte dafür vorhanden sein müssen, dass er auf der Flucht Schusswaffen oder Explosivmittel mit sich führt, versteckt hält, ein Türschloss mit Hilfe des Schusswaffengebrauchs aus einer Maschinenpistole zu zerstören, um die Kellergewölbe betreten zu können.57 Bei flüchtenden Straftätern muss ein Vorführungs- oder Haftbefehl nach § 457 Abs. 2 StPO oder aufgrund dessen ein Steckbrief gem. § 131 StPO (Ausschreibung zur Festnahme) erlassen worden sein, wobei § 13 UZwG Bln nur die erstmalige Festnahme des flüchtenden Straftäters betrifft; soll nach seiner Festnahme seine Flucht vereitelt werden, beurteilt sich der Schusswaffengebrauch gegen ihn nach § 14 UZwG Bln (Schusswaffengebrauch gegen Ausbrecher). Dass der flüchtende Straftäter auf seiner Flucht Schusswaffen oder Explosivmittel bei sich führt, verlangt das Gesetz nicht. Gleichwohl ist bei einem eventuellen Schusswaffengebrauch jedoch die (Rest-)Freiheitsstrafe zu berücksichtigen.58 Hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs auf das Türschloss gilt die Regel, dass „gegen Personen der Schusswaffengebrauch nur zulässig ist, wenn der Zweck nicht durch Waffeneinwirkung auf Sachen erreicht wird“.59 Die einzelnen Vorschriften, welche die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs gegen Personen regeln, stellen allesamt Ausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dar. Zugleich sind es Bestimmungen, die direkten Einfluss auf das Auswahlermessen nehmen. Dazu zählen auch die Reglungen der allgemeinen Vorschriften für den Schusswaffengebrauch.60 Der Wirkkreis des Auswahlermessens wird vor allem deutlich, wenn im UZwG Bln die Rede davon ist, dass „Zweck des Schusswaffengebrauchs nur sein darf, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen“.61 Gleiches in Hinblick auf die besonderen Ausprägungen der Verhältnismäßigkeit mit Erforderlichkeit und Angemessenheit gilt für die Bestimmung, dass „Schusswaffen nur gebraucht werden dürfen, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen“.62 Auch die Vorschrift, dass „der Schusswaffengebrauch unzulässig ist, wenn dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden“, zielt einzig und allein auf die Verhältnismäßigkeit des Schusswaffengebrauchs ab, wobei die grundsätzliche Regelung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in § 4 UZwG Bln verortet ist. Der Berliner Landesgesetzgeber will – wie alle anderen fünfzehn Landesgesetzgeber – seine Polizeivollzugsbeamten in Ausübung ihres Dienstes bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges, insbesondere im Falle des Schusswaffengebrauchs, besonderen rechtlichen Restriktionen unterwerfen; allein dazu sind die Vorschriften des UZwG Bln erlassen worden. Sie treten keinesfalls in Konkurrenz zu den Befugnisnormen der StPO, welche ohnehin nicht durch Bestimmungen über die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges unterlegt sind. Dies ist rechtlich zulässig, weil mit den Bestimmungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges nicht in die Rechtsmaterie prozessualer Handlungen eingegriffen wird, jene Reglungen weder modifiziert noch inhaltlich geändert oder ergänzt werden. Die Landesgesetzgeber nehmen lediglich eine Ausgestaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vor und begrenzen damit das Auswahlermessen polizeilichen Handelns ihrer Vollzugsbeamten. Dies gilt sowohl für den Schusswaffengebrauch mit präventiver als auch mit repressiver Zielrichtung. So leistet das Polizeirecht durchaus einen Beitrag auf dem Gebiet der Strafverfolgung, indem es die Anwendung des unmittelbaren Zwanges regelt.63
Derartige Regelungen vorzunehmen, fallen gem. Art. 30 und 70 GG in die grundsätzliche Landeskompetenz. Infolgedessen sind die Landesregelungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges sinnvolle und verfassungsrechtlich zulässige Eingrenzungen bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten der Länder. Nichts anderes gilt für die Vollzugsbeamten des Bundes in Hinblick auf das UZwG Bund.

5 Fazit


Es gibt eine Reihe von Denkansätzen, wie sich unmittelbarer Zwang durch Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielrichtung rechtfertigen lässt. Der vorgeschlagene Lösungsweg allein über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mag rechtsdogmatisch interessant sein. Er leidet jedoch ganz erheblich am verfassungskräftigen Bestimmtheitsgebot und somit an der verfassungsrechtlichen Normenklarheit. Das UZwG Bund als sachnähere Rechtsmaterie zur StPO, weil beide Gesetze Bundesrecht verkörpern, überzeugt nicht. Dieser Weg scheitert jedoch an Art. 30 und 70 GG, wonach Polizeiangelegenheiten Ländersache sind. Überzeugend ist daher der Weg, der durch ländergesetzliche Regelungen geschaffen worden ist, auch für den Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielrichtung. Der Anwendungsbereich des Art. 30 GG ist eröffnet, wobei sich „Befugnisse“ auf bestimmte, zu Eingriffen in Freiheitsrechte berechtigende Mittel bezieht, „Aufgaben“ hingegen auf sachliche Bereiche staatlichen Tätigwerdens abzielen.64 Ganz entscheidend wird zwar die Auffassung von der Möglichkeit einer Ergänzung des Katalogs der polizeilichen Zwangsbefugnisse durch den Landesgesetzgeber durch § 6 EGStPO widerlegt.65 Gleichwohl stellen aber die insoweit in Rede stehenden Vorschriften „nur“ spezielle Ausformungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar, die zudem ermessensbindend wirken. Dies zu regeln, ist den Landesgesetzgebern nicht untersagt; ein Verstoß bzw. eine Kollision mit § 6 Abs. 1 Satz 1 EGStPO liegt demnach nicht vor. Die Vorschriften der Länder, die den Schusswaffengebrauch in ihren „Polizeigesetzen“ regeln, erfüllen in vollem Umfang die verfassungsrechtlichen Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit, sei es, dass sie den Schusswaffengebrauch mit präventiver Zielrichtung, sei es, dass sie den Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielrichtung normieren.

Bildrechte: Redaktion.

Anmerkungen

  1. Der Autor war als Direktor beim Polizeipräsidenten Direktionsleiter und Polizeiführer Schwerstkriminalität.
  2. Vollstreckungsermächtigungen sind insoweit § 6 Abs. 1 VwVG (sog. Normalvollzug bzw. gestrecktes Verfahren) und § 6 Abs. 2 VwVG (sog. sofortiger Vollzug, der mit Blick auf den Polizeivollzugsdienst auch entsprechend für das sog. abgekürzte/verkürzte Verfahren gilt).
  3. Als Vorführung wird gemeinhin die Durchsetzung der Vorladung mit unmittelbarem Zwang angesehen; vgl. dazu Knape/Schönrock, a.a.O., Rdnr. 35, 36 und 38 zu § 20 ASOG Bln.
  4. Beim (präventivem) Verwaltungshandeln ist vom so genannten dreiaktigen Verfahren die Rede; ausgehend vom Regelfall des Normalvollzugs ist damit der Erlass des Grund-Verwaltungsakts, aus Berliner Sicht dessen Vollstreckung nach dem VwVG (§ 6 Abs. 1) als inkorporiertes Landesrecht und die Anwendung unmittelbaren Zwanges nach den Vorschriften des UZwG Bln gemeint.
  5. Vgl. Sigrist, Probleme der Identitätsfeststellung und der polizeilichen Razzia nach dem Berliner ASOG, JR 1976, 397 (399); dazu Krause/Nehring, Strafverfahrensrecht in der Polizeipraxis, 1978, S. 91, Rdnr. 173.
  6. Schenke, Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Regelung polizeilicher Befugnisse auf dem Gebiet der Strafverfolgung?, JR 1970, 48 ff.
  7. Vgl. Götz, a.a.O., S. 148.
  8. Die §§ 163b,163c StPO existierten damals noch nicht. Diese Befugnisse wurden erst mit dem Änderungsgesetz vom 14.4.1978, BGBl. I S. 497 in die StPO eingefügt.
  9. Vgl. Götz, a.a.O., S. 149; dazu ders., Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (1981 bis 1983), NVwZ 1984, 211 (212).
  10. Vgl. Emmerig, Die Doppelfunktion der Polizei, DVBl. 1958, 338 ff.; BGH, NJW 1962, 1020 ff.
  11. Vgl. Sigrist, a.a.O.; dazu auch Götz, a.a.O.
  12. Vgl. Sigrist, a.a.O. und Götz, a.a.O., S. 142/143 jeweils mit weiteren Hinweisen.
  13. Vgl. schon Krüger, Polizeilicher Schusswaffengebrauch, 1979, S. 82; dazu entspr. BVerfGE 113, 348 (369) = juris, Absatz-Nr. 98 = BeckRS 2005, 28075, Absatz-Nr. 96 zur Reichweite der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (hier: gerichtliches Verfahren unter Einschluss des Strafverfahrens).
  14. Vgl. Benfer, Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Durchsetzung strafprozessualer Rechtseingriffe?, NJW 2002, 2688.
  15. Vgl. BGH, NJW 1962, 1020 (1021).
  16. So auch OLG Dresden, NJW 2001, 3643 (3644) zur zwangsweisen Blutentnahme nach § 81a StPO; dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. (2018), Rdnr. 10 und 29 zu § 81a, ferner dies, a.a.O., Rdnr. 45 der Einleitung; so schon Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Rdnr. 18 zu § 81a.
  17. Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rdnr. 45 der Einleitung mit Hinweis auf KG, JR 1979, 347 f.; Kleinknecht, NJW 1964, 2181 ff.
  18. So OLG Dresden, a.a.O.; dazu BayObLG, NJW 1964, 459 ff.; OLG Schleswig, NJW 1964, 2215 ff.; OLG Koblenz, VRS 54, 357 ff.
  19. Zum Prüfungsschema von Gefahrenabwehr-, Zwangs- und strafprozessualen Maßnahmen vgl. Wagner, Bundespolizeirecht, VDP, 4. Aufl. (2018), S. 82.
  20. Im Ergebnis so auch Wagner, a.a.O., S. 76, der ebenfalls darauf abstellt, dass in Ermangelung eines Zwangsmittelkatalogs – so wie ihn § 9 Abs. 1 VwVG kennt – die StPO als einzig statthafte Zwangsart den unmittelbaren Zwang zulässt. Er leitet das ebenfalls aus § 81c Abs. 6 StPO ab, wonach „zur Durchsetzung einer körperlichen Untersuchung der unmittelbare Zwang das statthafte Zwangsmittel ist“.
  21. Vgl. § 14 UZwG Bln; dazu § 42 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 oder Nr. 5 MEPolG 1977.
  22. Vgl. dazu EN 30.
  23. Vgl. Krause/Nehring, a.a.O., 1978, Rdnr. 3 zu § 81a StPO; nach Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rdnr. 10 zu § 81a muss der Beschuldigte körperliche Untersuchungen dulden, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Maßnahme zwangsweise durchgesetzt werden kann, wenn der Beschuldigte die Maßnahme nicht duldet.
  24. Vgl. Knape, a.a.O., 93 (95).
  25. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – das Übermaßverbot – leitet sich unmittelbar aus den Grundrechten ab; vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rdnr. 2 zu § 12 ASOG Bln mit umfangreichen Rechtsprechungsnachweis; ferner Möllers, Wörterbuch der Polizei, 2. Aufl. (2010), S. 2104; ferner Schwabenbauer in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Aufl. (2018), G. 132 ff.
  26. So aber Benfer, a.a.O., 2688.
  27. Z.B. im Rahmen der Vorlesungen von Dozenten an der FHVR Berlin, die im Hauptberuf Richter oder Staatsanwälte waren. Zum verfassungskräftigen Bestimmtheitsgebot und zum korrespondierenden rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, E 108, 52 [67, 74 f.] = juris, Absatz-Nrn. 43, 59 ff. = BeckRS 2003, 30315317, S. 10, 13 f. mit umfangreichem Rspr.-Nachw. des BVerfG.
  28. Vgl. BVerfGE 95, 267 (307); E 83, 130 (152); BVerwGE 109, 29 (37).
  29. Vgl. BVerfGE 57, 295 (320 f.); E 80, 137 (161).
  30. Vgl. BVerfGE 101, 1 (34); E 57, 295 (327); E 83, 130 (142).
  31. Vgl. dazu Kunig, Zur „hinreichenden Bestimmtheit“ von Norm und Einzelakt, Jura 1990, 495 (496).
  32. So zu verstehen in BVerfGE 58, 257 (274).
  33. Vgl. Jarass/Pieroth a.a.O., Rdnr. 54 zu Art. 20 GG.
  34. Vgl. BVerfGE 83, 130 (152); E 86, 288 (311); E 98, 218 (251).
  35. Vgl. BVerfGE 77, 170 (230 f.); E 98, 218 (251); E 101, 1 (34); 108, 282 (312); BVerwGE 68, 69 (72); dazu OVG Bremen, Urt. v. 5.2.2018 – 2 LC 139/17, S. 10, 14 ff., 17 u. 31 = juris, Absatz-Nrn. 33, 46 – 49, 51 u. 88 = BeckRS 2018, 3048, S. 10 [Absatz-Nr. 28], S. 13 f. [Absatz-Nrn. 41 – 44], S. 15 [Absatz-Nr. 46] u. S. 26 f. [Absatz-Nr. 83]; zum verfassungskräftigen Bestimmtheitsgebot u. zum korrespondierenden rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, E 108, 52 [67, 74 f.] = juris, Absatz-Nrn. 43, 59 ff. = BeckRS 2003, 30315317, S. 10, 13 f. mit umfangreichem Rspr.-Nachw. des BVerfG; ferner Brenneisen/Blauhut, a.a.O., 189 mit Hinweis auf Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 30. Aufl. (2014), S. 79 und Stein/Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. (2010), S. 156.
  36. Vgl. BVerfGE 86, 288 (311); E 93, 213 (238); E 109, 133 (188); E 110, 33 (55); BVerwG, NVwZ-RR 90, 47; dazu Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, 9. Aufl. [2016], § 8 Rdnr. 50.
  37. Vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 54 zu § 20 GG.
  38. Vgl. Brenneisen/Blauhut, a.a.O.; dazu Möllers, a.a.O., S. 274; ferner Kunig, a.a.O.
  39. Andere Meinung offenbar Becker, a.a.O., der im Zusammenhang systematisch inakzeptabel mit der Tötung eines Menschen durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch auf die amtliche Begründung zum SOG M-V verweist.
  40. Vgl. BVerfGE 15, 25 (34); E 23, 288 (316 f.); dazu BVerfGE 74, 358 (370); E 111, 307 (317).
  41. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rdnr. 32 zu § 30 ASOG Bln; dazu auch Brenneisen/Blauhut, a.a.O., 186.
  42. Vgl. BVerfGE 5, 13 (15 f.); E 113, 348 (366).
  43. Stichtag für sog. vorkonstitutionelles Recht ist der 23.5.1949, jener Tag, an dem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat. Recht, das bereits davor existierte und auch nach diesem Datum weiterhin unverändert in Kraft blieb, zählt zum vorkonstitutionellen Recht. Die StPO vom 1.2.1877 ist im Kernbestand ihrer Normen auch heute noch geltendes Recht.
  44. Vgl. OLG Dresden, NJW 2001, 3643 ff.; dazu Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rdnrn. 10 und 29 zu § 81a, ferner dies, a.a.O., Rdnr. 45 der Einleitung; so wohl auch Brenneisen/Blauhut, a.a.O., 188.
  45. Vgl. z.B. § 66 ASOG Bln, § 7 UZwG Bln, § 7 PolG NRW und § 8 BbgPolG.
  46. Vgl. BVerfGE 113, 348 (367).
  47. Vgl. BVerfGE 113, 348 (366 f.).
  48. Vgl. BVerfGE 64, 72 (79); E 85, 386 (403 f.); E 113, 348 (366).
  49. Vgl. BVerfGE 5, 13 (16); E 28, 36 (46); dazu auch Lepa, Der Inhalt der Grundrechte, 6. Aufl. (1990), S. 316.
  50. Vgl. z.B. § 66 ASOG Bln und § 7 UZwG Bln; § 7 PolG NRW; § 8 BbgPolG; § 3 UZwG Bund.
  51. Vgl. § 10 UZwG Bund.
  52. Zum Aufbau zwangsrechtlicher Prüfungen siehe Sadler, VwVG/VwZG, 8. Aufl. (2011), A. Anhang VwVG: Muster (S. 633 ff.); dazu Borsdorf/Kastner, S. 147 ff.; 157 f.; ferner oben Fußn. 25.
  53. Vgl. § 1 Abs. 2 UZwG Bln; dazu Heesen/Hönle/Peilert/Martens, a.a.O., Rdnr. 2 zu § UZwG Bund mit Hinweis auf Abschnitt I (4) UZvVwV – BMI.
  54. Vgl. dazu auch Heesen/Hönle/Peilert/Martens, a.a.O., Rdnr. 1 zu § UZwG Bund; dazu Knape/Schönrock, a.a.O., Rdnrn. 11 ff. zu § 9 UZwG Bln (S. 1011 ff.).
  55. Vgl. dazu auch Heesen/Hönle/Peilert/Martens, a.a.O., Rdnr. 1 zu § UZwG Bund.
  56. Vgl. § 10 UZwG Bund, hier sind all jene Fallvarianten des UZwG Bln – §§ 11 bis 16 – in einer Norm zusammengefasst; zu den Vorschriften des LVwG S-H vgl. Brenneisen/Blauhut, Zulässigkeit und Grenzen des Schusswaffengebrauchs zur Durchsetzung strafprozessualer Maßnahmen – Teil II, DIE POLIZEI 2015, 221 ff.
  57. Der Schusswaffengebrauch richtet sich nach den §§ 1, 3 Nr. 1, 2 Abs. 1 und 4, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 Satz 2 und 4 UZwG Bln, soweit nicht alarmierte Spezialkräfte das Türschloss mittels eines Explosivmittels zerstören.
  58. Vgl. AV Pol UZwG Bln Nr. 57 lit. c zu § 13 UZwG Bln.
  59. Vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 UZwG Bln und § 12 Abs. 1 Satz 2 UZwG Bund.
  60. Vgl. § 9 UZwG Bln.
  61. Vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 UZwG Bln.
  62. Vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 UZwG Bln.
  63. So schon Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl. (2001), § 21 (Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten), Rdnr. 536.
  64. Vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 3 zu Art 30 GG.
  65. So schon Gerland, JW 1934, 108 Anm.