Die Propaganda der RAF zwischen Wahn und Wirklichkeit 1970-1998

Täter als Opfer und Opfer als Täter

 


Von Dr. Harald Bergsdorf, Dümpelfeld*

 

1 Einleitung


Am 14. Mai 1970 befreiten Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und weitere RAF-Kader den inhaftierten Andreas Baader während eines Freigangs in einer Bibliothek. Hierbei verletzten sie einen Angestellten schwer. Die Tat gilt als Gründungsdatum der RAF. 50 Jahre danach und über 20 Jahre nach ihrer Selbstauflösung am 20. April 1998 beschäftigt die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) weiterhin Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Gerade Jahrestage liefern Anlässe, sich mit der RAF zu befassen, deren Mordserie bis heute partiell unaufgeklärt ist, darunter die Attentate auf Ernst Zimmermann 1985, Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler 1986, Gerold von Braunmühl 1986, Alfred Herrhausen 1989 und Detlev Karsten Rohwedder 1991.

Einige Filmemacher, Journalisten, Publizisten und Wissenschaftler zieht die mörderische RAF-Geschichte bis heute sogar in ihren Bann. Das Abtauchen einer kleinen Gruppe junger Leute in den Untergrund, ihr terroristischer „Kampf“ gegen die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft und ihre offenkundige Bereitschaft, nach dem Motto „Sieg oder Tod“ sowohl zu morden als auch selbst zu sterben, verströmen immer noch eine „morbide Faszination“ (Petra Terhoeven). Das umso mehr, weil die meisten RAF-Terroristen, insbesondere RAF-Führungspersonen, nicht als abgehängte Außenseiter geboren und aufgewachsen waren, sondern oft aus gehobenen, religiös und bildungsbürgerlich geprägten Milieus stammten. Aus den sozialen Souterrains der Gesellschaft kam lediglich eine Minderheit in der RAF, darunter Petra Schelm, Verena Becker und Peter-Jürgen Boock.

Inzwischen sind zahlreiche Gesamtdarstellungen über die RAF erschienen. Zugleich mangelt es weiterhin an Spezialstudien zum Beispiel über die Rolle der RAF-Anwälte, die sich mehrheitlich als „Genossen“ der Täter verstanden. Ebenso fehlt es an biographischen Untersuchungen über Führungsfiguren der sogenannten 2. und 3. RAF-Generation wie vor allem Brigitte Mohnhaupt und Birgit Hogefeld – beide liefern Beispiele für die fast durchgängige Dominanz von Frauen in RAF-Führungspositionen, wohingegen Männer als Täter in der allgemeinen Kriminalität deutlich überrepräsentiert sind. Ein weiteres Desiderat besteht nicht nur in Studien über prominente und vor allem nicht-prominente RAF-Opfer und ihre Hinterbliebenen, sondern auch in Analysen der RAF-Propaganda, die einen wesentlichen Beitrag zum fast dreißigjährigen Überleben der Terrorgruppierung leistete. Die RAF betrieb eben auch eine Kommunikationsstrategie, um durch Propaganda eine Diskurs- und Deutungshoheit über die eigenen Verbrechen zu erlangen. Letztlich wollte die RAF sowohl Schrecken erzeugen als auch durch Propaganda größere gesellschaftliche Gruppen für ihre revolutionären Ziele gewinnen und mobilisieren.

 

2 Selbstviktimisierung


Zu den zentralen Kennzeichen der RAF-Propaganda gehörte es, auf Basis ihrer „Antifaschismus“-Doktrin eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben, das heißt: RAF-Täter zu viktimisieren und RAF-Opfer zu entmenschlichen bzw. zu animalisieren – u.a. als „Kapitalisten-, Bullen- und Nazischweine“. Im Kern präsentierte die RAF die Opfer ihrer Mordanschläge als die angeblich wirklichen Täter. Um ihre Morde als „Gegengewalt“ und „Notwehr“ zu legitimieren, hatte sie bereits in ihrem „Konzept Stadtguerilla“ von 1971 proklamiert: „Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen“. Später befand sie in ihrer Auflösungserklärung 1998: „Wir haben gewalttätige Verhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet“.

Schon die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch den Schusswaffeneinsatz des Polizisten Karl-Heinz Kurras hatten spätere RAF-Gründer genutzt, um zum gewalttätigen Kampf gegen die Bundesrepublik zu mobilisieren. Hierbei hatten sie sich durchaus nicht nur auf Fiktionen, sondern partiell auch auf Fakten gestützt. Denn zum einen hatte Kurras den unbewaffneten Studenten, der als Pazifist galt und in einer evangelischen Studentengemeinde aktiv war, von hinten erschossen. Zum anderen hatte der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Täter vor Gericht sogar einen Freispruch wegen schuldausschließender Notwehr („putativer Notwehr“) errungen, weil er irrigerweise hatte glaubhaft machen können, sich durch den unbewaffneten Studenten mit einem Messer angegriffen gefühlt zu haben. Nicht nur spätere RAF-Gründer empörte damals sowohl die Tötung des Unbewaffneten als auch der Freispruch des Täters.

Später nutzte die RAF die Tötung Ohnesorgs und den Freispruch Kurras für ihre pauschale Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und zur Legitimation ihrer Morde – dass der später als MfS-Zuträger enttarnte Todesschütze Kurras sein Opfer Ohnesorg im Auftrag der SED ermordet hat, lässt sich bislang nicht belegen, würde aber wenig verwundern. Gudrun Ensslin hatte bereits kurz nach der Tötung Ohnesorgs durch Kurras appelliert: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Das ist die Generation von Auschwitz! Wir müssen Widerstand leisten. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden.“ Die „Bewegung 2. Juni“, später unter Übernahme einer stattlichen Mitgift teilweise in der RAF aufgegangen, instrumentalisierte das Datum der Tötung Ohnesorgs bereits in ihrer Selbstbezeichnung, um ihren Terror als „Gegengewalt“ zu legitimieren.

Im Kampf gegen den angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ hatte Ulrike Meinhof bereits im Juni 1970 den Einsatz von Schusswaffen gegen Polizeibeamte als Vertreter des „faschistischen Repressionsstaates“ propagiert, der in seiner realen Ausrichtung weit entfernt vom NS-Unrechtsstaat war (und ist). Das gilt (und galt) auch nach dem parlamentarischen Beschluss der Notstands- und der Antiterrorgesetze, die aus RAF-Sicht eine Neuauflage von NS-Gesetzen bedeuteten, womit die RAF die Hitler-Diktatur verharmloste. In ihrem „Schießbefehl“ hatte die RAF-Propagandachefin appelliert: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. D.h. wir haben nicht mit ihm zu reden...und natürlich kann geschossen werden!“ Denn Aufgabe der „Bullen“, denen sie das Menschsein abspricht, sei es, die „Verbrechen des Systems zu schützen“.


Tatsächlich war die Mehrzahl der RAF-Mitglieder bei ihrer Verhaftung mit geladenen und entsicherten Pistolen bewaffnet, um sich einen Fluchtweg frei zu schießen. Das gilt u.a. für Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz bei ihrer Festnahme 1982 am RAF-Zentraldepot nahe Heusenstamm und für Christian Klar – äußerlich stark verändert und als Jogger getarnt – bei seiner Festnahme ebenfalls 1982 durch ein Großaufgebot an Spezialkräften, die dem Topterroristen erfolgreich eine Falle gestellt hatten, am RAF-Depot „Daphne“ bei Aumühle im Sachsenwald. Bei (versuchten) Verhaftungen töteten RAF-Kader mehrfach vor allem geringer besoldete Polizeibeamte, u.a. Norbert Schmidt 1971 und Michael Newrzella 1993, oder verletzten sie schwer. Immer wieder gebrauchten RAF-Täter bei ihren Anschlägen auch Schrapnellmunition, um besonders schwere Verletzungen zu verursachen. Nach Meinhofs „Schießbefehl“ starben auch mehrere RAF-Mitglieder, darunter Petra Schelm 1971, die auf jene Polizisten geschossen hatte, die sie daraufhin in Notwehr töteten. Um sich als Opfer des angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ zu stilisieren, überschrieb die RAF ihre Tatbekennungen („Kommandoerklärungen“) nach ihren Mordanschlägen üblicherweise mit den Namen von in Haft u.a. durch Selbsttötung gestorbenen oder bei Polizeieinsätzen getöteten RAF-Mitgliedern. Damit betrieb sie eine Art von Opferkult – zuletzt in ihrer Auflösungserklärung 1998.

Einen Höhepunkt erreichte die RAF-Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und gegen die „kapitalistische Klassenjustiz“ 1972 nach der Verhaftung fast der gesamten Spitze der sog. 1. RAF-Generation. Die 2. RAF-Generation mutierte daraufhin – und nicht erst 1977 – beinahe zu einer RAF-Gefangenen-Freipressungsvereinigung. Hierzu agitierte die RAF in enger Kooperation mit ihren Anwälten zum einen mit dem Propagandabegriff der „Isolationsfolter“ („Vernichtungshaft“) und agierte zum anderen in Justizvollzugsanstalten mit „kollektiven Hungerstreiks“, um den Kampf gegen das „Schweinesystem“ aus der Haft heraus fortzusetzen. Insbesondere „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ belegten aus RAF-Sicht die schleichende Entwicklung des bundesdeutschen „Kapitalismus“ zum „Faschismus“.

Zwar lebten RAF-Gefangene – wie Ulrike Meinhof in einem abgelegenen Teil der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf – phasenweise unter harten Haftbedingungen, die u.a. dazu dienten, bewaffnete Befreiungsversuche, wie sie die RAF durchaus propagiert hatte, und Selbsttötungen von Gefangenen zu erschweren. Kritiker monierten damals, die Zelle Meinhofs sei rund um die Uhr beleuchtet. Darüber hinaus dürfe sie im „toten Trakt“ nur selten Besuch empfangen und das ausschließlich unter polizeilicher Überwachung. Letztlich leide sie unter sozialer Isolation und sowohl akustischem als auch visuellem Reizentzug („sensorische Deprivation“). Meinhof scheute sich damals freilich nicht, das eigene Schicksal in Ossendorf mit den Mordfabriken in Auschwitz beinahe gleichzusetzen. Fast zeitgleich hatte sie den palästinensischen Mordanschlag auf israelische Sportler in München, mit dem auch sie freigepresst werden sollte, noch als „antifaschistische“ und antiimperialistische Großtat der „Menschlichkeit“ heroisiert.

Doch gerade in Stuttgart-Stammheim profitierte die RAF-Spitze von besonders generösen Haftumständen. In Stammheim brach der Strafvollzug unter dem Druck der damals breiten RAF-Sympathisantenszene mit zwei traditionellen Grundsätzen: Zum einen dem Prinzip, Männer und Frauen getrennt unterzubringen und zum anderen der Regel, Beschuldigte eines Verfahrens ebenfalls getrennt unterzubringen, um Absprachen zu erschweren. Dadurch verbrachten die privilegierten Häftlinge täglich mehrere Stunden miteinander im „Umschluss“. Obendrein empfingen sie häufig Besuch, genossen eine besondere Verpflegung und erhielten Sportgeräte – nicht zuletzt, um ihre Haft- und Verhandlungsfähigkeit im RAF-Prozess zu sichern. Beachtlich war neben Fernseh- und Radiogeräten auch die Literatur in den Haftzellen der RAF-Täter, darunter nicht nur Werke von Marx – als dem geistigen Urvater des gewaltsamen „Antikapitalismus“ –, Lenin und Mao, sondern auch „Guerilla“-Literatur u.a. über moderne Sprengtechniken und polizeiliche Fachliteratur u.a. über Fahndungsmethoden.Das alles vernebelten die „politischen Gefangenen“ der RAF, die entgegen ihrer Propaganda nicht wegen ihrer politischen Überzeugungen, sondern wegen des dringenden Verdachts schwerster Straftaten inhaftiert waren. Obendrein erreichten die RAF und ihre Anwälte – nach der Selbsttötung Ulrike Meinhofs 1976 nach schweren Auseinandersetzungen in der RAF-Spitze – die Verlegung Brigitte Mohnhaupts nach Stammheim. Damit wollten die zuständigen Politiker der RAF-Propaganda über die Haftbedingungen entgegenwirken. In Stammheim nutzten Baader und Ensslin die Zeit bis zur Haftentlassung Mohnhaupts im Februar 1977 freilich, um mit ihr die Mordanschläge der Folgezeit zu planen. Unter massivem Druck der „Stammheimer“ auf ihre Genossen im Untergrund forcierte die sogenannte 2. RAF-Generation um Mohnhaupt 1977 ihre Versuche, die inhaftierte RAF-Spitze nach dem Vorbild der Lorenz-Entführung freizupressen.

Die faktenferne RAF-Agitation gegen die „Isolationsfolter“ förderten u.a. zahlreiche RAF-Anwälte und Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre und Heinrich Böll, die sich frühzeitig an RAF-Desinformationskampagnen beteiligt hatten, indem sie die damalige Bundesrepublik in die Nähe des „Dritten Reiches“ rückten. Im Kern ging es der RAF freilich weniger darum, Haftbedingungen zu verbessern. Vielmehr zielte sie darauf, RAF-Täter zu Opfern zu stilisieren, um die wirklichen Opfer herabzuwürdigen und als die wahren Täter darzustellen. Zustimmend hatte sie in ihrem programmatischen Text „dem Volke dienen“ schon 1972 die Mao-Parole zitiert, wonach Bedeutung und Lebensrecht von Opfern „fortschrittlichen“ Terrors letztlich weniger wögen als „Schwanenflaum“ und getötete bzw. verstorbene Mitglieder der „Guerilla des Volkes“, also Täter, in ihrem Wert mehr Gewicht aufbrächten als ein „Berg“.

Als weiteres Druckmittel der RAF gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ fungierten „kollektive“ Hungerstreiks. Gerade auch dadurch versuchte die RAF-Spitze, Täter als Opfer zu präsentieren. Hierbei kalkulierte die RAF-Spitze um Ensslin und Baader, die ihre Hungerstreiks immer wieder heimlich unterbrachen, frühzeitig mit Todesopfern unter ihren Gesinnungsgenossen, um den öffentlichen Druck auf die Politik zu erhöhen. Wörtlich hieß es dazu in einem Zellenzirkular von 1973: „Wir brauchen eine leiche...eine leiche und wir haben was in der Hand“. Daher forderten Ensslin und Baader von ihren Mitstreitern in den Hungerstreiks immer wieder, weiter an Körpergewicht zu verlieren.

Später, im November 1974, starb Holger Meins in der Justizvollzugsanstalt Wittlich/Mosel trotz Zwangsernährung an den Folgen des Hungerstreiks – nach seinem Tod bemängelten Kritiker medizinische Versäumnisse bei der ärztlichen Betreuung des Inhaftierten im Hungerstreik. Das wirkmächtige Bild seines Leichnams erinnerte Birgit Hogefeld an NS-Opfer in Auschwitz. Einen Tag nach dem Tod von Meins, den die RAF und ihre Anwälte zur Rekrutierung neuer Mitglieder gebrauchten, ermordete die „Bewegung 2. Juni“ den Präsidenten des Berliner Kammergerichtes, Günter von Drenkmann, der mit Terroristen-Prozessen nie befasst war, aber aus RAF-Sicht zur verhassten „Klassenjustiz“ gehörte. In ihren Bekennerschreiben versuchten die Täter, mit denen die RAF eine konfliktuelle Komplizenschaft verband, den Mord mit den Worten „wer gewalt sät, wird gewalt ernten“ zu rechtfertigen.

Nach dem Tod von Meins demonstrierten jeweils mehrere tausend Personen in mehreren Städten der Bundesrepublik gegen den demokratischen Rechtsstaat, der am Tod des Mitglieds der RAF-Kommandoebene mitschuldig sei. Gerade auch den Tod und das Foto des Leichnams von Holger Meins nutzte die RAF für ihren propagandistischen Kampf mit Worten und Bildern gegen den „faschistischen Repressionsstaat“, der das Mitglied der RAF-Kommandoebene ermordet habe. Ähnlich agitierte die RAF nach der Selbsttötung Ulrike Meinhofs im Mai 1976 und den Suiziden Andreas Baaders, Gudrun Ensslins und Jan-Karl Raspes im Oktober 1977 nach dem Scheitern mehrerer Versuche der sogenannten 2. RAF-Generation und ihrer palästinensischen Komplizen, durch Entführungen und Morde die inhaftierte Spitze der sog. 1. RAF-Generation freizupressen. Den Tod durch Selbsttötung in der „Stammheimer Todesnacht“ 1977 bestätigen später gerichtsmedizinische Gutachter aus dem In- und Ausland. Anhaltspunkte für schuldhaftes Verhalten Dritter verneinte die zuständige Staatsanwaltschaft damals. Mit ihren als „faschistische“ Morde präsentierten Selbsttötungen wollten Ensslin, Baader und Raspe dem „System“ offenbar einen letzten schweren Schlag versetzen und der RAF einen letzten Dienst erweisen – aus RAF-Sicht hatte der „kapitalistische“ Staat die Gefangenen entweder direkt ermordet oder ihren Tod durch „Repression“ zumindest indirekt verursacht. Nach der „Stammheimer Todesnacht“ rekrutierte die RAF für sich weiteren Nachwuchs.

 


Letztlich versuchte die RAF durchgängig, die eigenen Verbrechen durch Verweis auf den „gewalttätigen Kapitalismus“ zu legitimieren. So heißt es in ihrer Auflösungserklärung ausgerechnet vom 20. April 1998, die RAF-Opfer so gut wie komplett ausblendet, RAF-Täter weiter heroisiert und RAF-Verbrechen erneut rechtfertigt: „Wir stehen zu unserer Geschichte...Wir sind froh, Teil dieses Versuchs gewesen zu sein...Das Ende des Projektes zeigt, dass wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten. Aber es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Legitimation der Revolte...Denn der tatsächliche Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen Systems“. Bezeichnenderweise erinnert die RAF in ihrer Auflösungserklärung mit Schleyer nur an ein einziges RAF-Opfer, um ihn nochmals ausschließlich als Täter darzustellen, ohne – natürlich – an sein Engagement in der rechtsstaatlichen Demokratie zu erinnern, der es aus RAF-Sicht vollständig an Legitimität fehlte. Als ihren letztlich einzigen Fehler konzediert die RAF in ihrer Auflösungserklärung lediglich, sie habe es versäumt, über und neben ihr als mordender „Fraktion“ eine politische Partei aufzubauen, um den „terroristischen Kapitalismus“ wirkungsvoller mit Attentaten und Agitation zu bekämpfen.

In typischer RAF-Diktion hatte Bernhard Rössner, einer der Täter des RAF-Anschlags auf die deutsche Botschaft 1975 in Stockholm, bereits 1994 über sein Verhältnis zu RAF-Opfern und ihren Hinterbliebenen erklärt, er empfinde weder Reue noch Bedauern über RAF-Morde. Denn „Krieg ist Krieg und vorbei ist vorbei“. Als wahre Opfer sehe er ohnehin eher die Armen und Vernachlässigten des „Kapitalismus“. Damit befolgte Rössner wie fast alle anderen RAF-Mitglieder die RAF-Devise, keine Reue und kein Bedauern gegenüber RAF-Opfern zu zeigen.

 

3 Fazit


Im Ergebnis haben Terror und Propaganda der RAF die Bundesrepublik zwar erschüttert, aber in ihrer Substanz und Existenz nie gefährdet. Die Morde und anderen Gewalttaten der RAF bedeuteten primär eine ernste Herausforderung für die öffentliche Sicherheit der rechtsstaatlichen Demokratie. Nie war die freiheitlich-demokratische Grundordnung selbst durch die RAF wirklich gefährdet. Vielmehr erwies sich die rechtsstaatliche Demokratie als wehrhaft. Zu keiner Zeit gelang es der gesellschaftlich und politisch weitgehend und zunehmend isolierten RAF, durch Terror und Propaganda mehr als nur kleine und laute, später schrumpfende Minderheit an Sympathisanten hinter sich zu scharen, bei denen die RAF-Agitation zumindest phasenweise auf fruchtbare Felder fiel. Das Ziel der RAF, die Akzeptanz der rechtsstaatlichen Demokratie in der Bevölkerung zu verringern und den eigenen Rückhalt unter den Bundesbürgern zu erhöhen, scheitere fast vollständig. Letztlich wandte sich die übergroße Mehrheit der Befragten gegen die RAF, darunter die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, Arbeitslosen und Randgruppen, für deren Ideale und Interessen die RAF einst zu kämpfen vorgegeben hatte.

Die weitgehende und zunehmende Isolierung der RAF in der Bevölkerung gründete inhaltlich erstens auf der wachsenden Selbstbezogenheit der Terrorgruppierung, deren sog. 2. Generation fast ausschließlich auf die Befreiung der eigenen Genossen aus der Haft zielte. Eine andere Ursache für ihren fortschreitenden Niedergang bestand zweitens in der außerordentlichen Brutalität der RAF, die weder vor der Tötung junger Polizisten zurückschreckte noch vor der besonders perfiden Ermordung des jungen US-Soldaten Edward Pimental per Genickschuss, dessen Hinrichtung 1985 – weit nach Ende des Vietnamkrieges – durch Mitglieder der sog. 3. RAF-Generation selbst in Teilen des RAF-Sympathisantenumfeldes eher aus strategischen als moralischen Gründen auf Kritik stieß und auch RAF-Apologeten an SS-Methoden erinnerte. Erst viel später nannte Birgit Hogefeld die Ermordung des jungen Soldaten „zutiefst unmenschlich“ und erkannte zwischen NS- und RAF-Methoden gar einige Parallelen. Bereits 1977 war die RAF als Auftraggeberin (mit-)verantwortlich für die Entführung einer Lufthansa-Maschine mit vielen normalen Urlaubern, darunter Kinder, an Bord und die Ermordung des Flugkapitäns Jürgen Schumann durch palästinensische Terroristen, die damit letztlich vergeblich versuchten, die Stammheimer Häftlinge freizupressen. Gerade auch damit stieß die RAF auf besonders hohe Ablehnung in der Bevölkerung. Trotz ihrer Versuche, nach 1977 wieder stärker Anschluss an linksextremistische Milieus zu finden, wuchs die Isolierung der RAF. Im Ergebnis avancierte die RAF nie zu einer Avantgarde einer Front aller „fortschrittlichen Kräfte“ gegen den „faschistischen Kapitalismus“.

Drittens basierte die weitgehende Isolierung der RAF sowohl auf der grundsätzlich breiten Unterstützung der rechtsstaatlichen Demokratie und Sozialen Marktwirtschaft in der bundesdeutschen Bevölkerung als auch dem konkreten Handeln der verantwortlichen Politiker bei der Terrorbekämpfung. Wie stark die große Mehrheit der Wahlberechtigten damals die demokratischen und staatstragenden Parteien CDU/CSU, SPD und FDP und damit auch die rechtsstaatliche Demokratie selbst unterstützte, unterstreichen unter anderem ihre Zweitstimmenanteile bei den Bundestagswahlen 1976 und 1980 von insgesamt je über 95%. Dieses Ergebnis deutet auf eine grundsätzlich hohe Zustimmung zur Politik der wichtigsten Parteien, die damals gerade auch mit Terrorbekämpfung befasst waren.

Die maßgeblichen Parteien des Verfassungsbogens reagierten aus Sicht der großen Bevölkerungsmehrheit insgesamt gleichermaßen hart und besonnen auf die Bedrohung durch die RAF. Einerseits zeigten Regierung und Opposition gerade während der Schleyer-Entführung 1977 Härte, um den Erpressern – anders als während der Lorenz-Entführung 1975 durch die „Bewegung 2. Juni“ – nicht nachzugeben. Das zentrale Ziel bestand darin, an potentielle Nachahmer ein klares Signal der Konsequenz auszusenden. Das auch deshalb, weil zwei durch die Lorenz-Entführung freigepresste Terroristen danach ihren terroristischen Kampf in der RAF fortgesetzt hatten.

Dass der demokratische Rechtsstaat gegenüber weitgehend reuigen RAF-Mördern andererseits, wenn sie Kooperationsbereitschaft zeigen, auch zur Milde fähig ist, belegt der Fall des Werner Lotze, der trotz eines vollendeten Mordes an einem Polizeibeamten bereits nach fünfeinhalb Jahren auf Bewährung aus der Haft freikam. Lotze profitierte von der Kronzeugenregelung, weil er über seine und Tatbeiträge anderer RAF-Täter substanziell ausgesagt hatte. Auch durch die Verkürzung langjähriger Haftstrafen – die sog. „Kinkel-Initiative“ von 1992 durch den damaligen Bundesjustizminister Klaus Kinkel im Auftrag des seinerzeitigen Bundeskanzlers Helmut Kohl – bewies der demokratische Rechtsstaat eine Bereitschaft zur „Versöhnung“. Obendrein leistete er dadurch einen Beitrag, die RAF zu spalten und weiter zu schwächen, die durch das Ende der SED-Diktatur einen wichtigen Helfer verlor.

Auf andere Art besonnen hatte bereits 1977 der damalige Oberbürgermeister von Stuttgart Manfred Rommel, Sohn eines Generals der Wehrmacht, auf hasserfüllte Forderungen aus der Bevölkerung reagiert, Ensslin, Baader und Raspe nach der „Stammheimer Todesnacht“ auf einer Müllhalde zu verscharren. Rommel widersprach dem deutlich. Der christdemokratische Politiker plädierte vielmehr und letztlich erfolgreich dafür, alle drei Terroristen in Stuttgart auf einem Friedhof zu bestatten, weil mit dem Tod jede Feindschaft aufhören müsse. Nebenbei erschwerte eine solche Haltung die RAF-Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“.

 

Anmerkung


* Der Autor ist Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und Buchautor mit den Schwerpunkten Parteien, Demokratie, Extremismus, Terrorismus und deutsche Geschichte seit 1870/71.