Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

I Materielles Strafrecht

 

§ 113 Abs. 3, § 114 Abs. 3 StGB – Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte; hier: Ingewahrsamnahme. Eine Ingewahrsamnahme nach polizeirechtlichen Vorschriften ist eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 114 Abs. 3 StGB. Hierunter fällt jede Handlung einer dazu berufenen Person, welche die notfalls zwangsweise durchsetzbare Verwirklichung des im Einzelfall bereits konkretisierten Staatswillens bezweckt. Dies ist bei dem Vollzug eines polizeirechtlichen Gewahrsams der Fall. Infolgedessen ist nach § 114 Abs. 3 StGB die Vorschrift des § 113 Abs. 3 StGB entsprechend anwendbar, wonach die Tat nur als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar ist, wenn die Diensthandlung rechtmäßig ist. (BGH, Beschl. v. 6.10.2020 – 4 StR 168/20)


§ 177 Abs. 1 StGB – Sexueller Übergriff gegen den erkennbaren Willen („Nein-heißt-Nein“-Lösung); hier: Heimliches Abstreifen eines Kondoms (sog. Stealthing-Verfahren). A wurde zur Last gelegt, mit der N zunächst einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Verwendung eines Kondoms gehabt zu haben, nachdem die N zuvor mehrfach darauf hingewiesen hatte, zum Verkehr nur mit Kondom bereit zu sein. Obwohl A dies gewusst habe, habe er das Kondom während einer Unterbrechung von der N unbemerkt entfernt. Anschließend habe er den Geschlechtsverkehr ungeschützt fortgesetzt. Das Fehlen des Kondoms habe die N erst im Anschluss bemerkt.


Das heimliche Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs („Stealthing“)kann grundsätzlich den Straftatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB erfüllen. Erklärt ein Opfer zeitnah vor dem Geschlechtsverkehr, dass es diesem nur mit Kondom zustimmt, kann das ungeschützte Eindringen auch dann als sexueller Übergriff strafbar sein, wenn das Opfer das Fehlen des Kondoms während des Verkehrs nicht bemerkt. Die Willensbekundung, mit dem Geschlechtsverkehr nur bei Benutzung eines Kondoms einverstanden zu sein, lässt grundsätzlich jede Zuwiderhandlung als Verstoß gegen § 177 Abs. 1 StGB erscheinen („Nein-heißt-nein“). Ob es zu einer Ejakulation kommt, ist unerheblich, da sexuelle Handlung bereits das Eindringen ohne Kondom selbst ist. (OLG Schleswig, Urt. v. 19.3.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21)


§ 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB – Vergewaltigung; hier: Ausnutzung eines Überraschungsmoments durch einen Masseur. Der A arbeitete als Masseur im „Spa“-Bereich eines Hotels. Die G buchte eine „hot-chocolate“-Behandlung, bei der sie sich vor Beginn der Behandlung vollständig entkleiden musste und einen Einwegslip erhielt. Kurz vor Ende der Behandlung, die bis dahin völlig unauffällig verlaufen war, ging der A, der seitlich stand, dazu über, intensiv die Innenseite des linken Oberschenkels der G zu massieren, die zu dieser Zeit rücklings nackt und nur mit dem Einwegslip bekleidet auf der Massageliege lag. Dabei handelte es sich, wie der A wusste, um eine erogene Zone, auf die sich wegen der Nähe zum Intimbereich eine Massage nicht erstrecken sollte. Der A fragte dabei die G, ob dies angenehm sei. G, die über die Art der Massage, die sie bis daher so noch nicht erlebt hatte, verwundert und zugleich verunsichert war, antwortete mit: „Ja“. Der A, dessen Hände mit Massageöl eingecremt waren, schob dann einen kurzen Moment später seine Hand unter den Slip und strich über die Scham der G. Diese erstarrte innerlich, weil sie dies als zu weitgehend und unangenehm empfand, zögerte aber einen kurzen Moment, weil sie sich unsicher fühlte, sagte dann aber zum A entschieden: „Das reicht!“ Der A wiederholte diese Aussage als Frage und massierte zunächst weiter den Bauch. Einen kurzen Moment später schob der A dann seine Hand erneut etwas grober und schneller unter den Slip und begann die Klitoris der G zu reiben. Sie ergriff mit ihrer linken Hand das Handgelenk des A und zog sie aus dem Slip, wobei sie erneut sagte: „Das reicht!“ Wieder massierte sie der A kurz am Bauch, doch schob er, obwohl er ihre Ablehnung verstanden hatte, dann ein drittes Mal die eingeölte Hand unter ihren Slip und drang nun mit zwei Fingern in die Vagina ein. Sie ergriff sofort den A erneut am Handgelenk und versuchte, dessen Hand herauszuziehen. Dies gelang ihr jedoch erst mit einigen Sekunden Verzögerung, weil der A sich dagegen zunächst sperrte. Die G sagte zu dem A: „Ich möchte das nicht!“. Daraufhin ließ A von ihr ab, erklärte die Massage für beendet und verließ den Massageraum.


Ein Fall der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB kann auch dann vorliegen, wenn der Täter, hier ein Masseur, keine Gewalt oder Drohung anwendet, sondern das Überraschungsmoment ausnutzt. Bei der Prüfung, ob die Tathandlungen solche sind, die das Opfer besonders erniedrigen, können jedenfalls nur tatbezogene Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Täterbezogene Gesichtspunkte – wie etwa die Unbestraftheit und berufliche Folgen der Verurteilung – können für die Prüfung, ob die Merkmale des Regelbeispiels erfüllt sind, nicht herangezogen werden. (OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 6.7.2020 – 3 Ss 107/20)


§ 184b Abs. 1 Nr. 1c StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte; hier: Sexuell aufreizende Wiedergabe einer Körperregion. Der A lud rund eine Woche nach seiner Haftentlassung über Internetseiten Bilddateien auf sein Mobiltelefon herunter und speicherte sie dort. Drei der in den Urteilsgründen genauer beschriebenen Fotos zeigen jeweils das in den Vordergrund gerückte unbekleidete Gesäß eines fünf- bis neunjährigen Mädchens.


Eine sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 1c StGB liegt vor, wenn die genannten Körperteile aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters in sexuell motivierter Weise im Blickfeld stehen. (BGH, Beschl. v. 1.9.2020 – 3 StR 275/20)



§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB – Gefährliche Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung; hier: Anfahren mit dem Pkw. Der A wollte dem G einen „Denkzettel verpassen“ und beschloss daher, mit seinem Pkw von hinten den G, der auf einem dunklen, nur punktuell erleuchteten Gehweg links neben der Fahrbahn lief, anzufahren und zu Fall zu bringen. Dazu fuhr der A auf den Gehweg und näherte sich mit höherem Tempo „als die Laufgeschwindigkeit“ dem G. Als der G den Lichtkegel bemerkte, sprang er hoch und fiel auf die Motorhaube des Pkw, wo er durch die unverminderte Fahrgeschwindigkeit auf die Höhe der Windschutzscheibe abgetrieben wurde und Halt suchte. Der A – vom Sprung des G auf die Motorhaube überrascht – gab nun Gas und lenkte den Pkw abrupt nach rechts, um den G abzuschütteln. Dabei nahm der A zumindest billigend in Kauf, dass sich G bei einem Sturz auf den Gehweg nicht unerheblich verletzen würde. Der G stürzte auf den Gehweg, wo er in der unmittelbaren Nähe des Fahrzeugs, das der A zum Stillstand abgebremst hatte, zum Liegen kam. Durch den Aufprall auf den Boden erlitt der G eine Vielzahl von flächigen Schürfwunden im Gesicht, an beiden Händen und Knien sowie am Becken.


Die Tathandlung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB muss nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die jeweilige Einwirkung durch den Täter nach den Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist demnach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im Einzelfall. (BGH, Beschl. v. 24.3.2020 – 4 StR 646/19)


§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchdiebstahl; hier: In Vergessenheit geratener Schlüssel. Der Angeklagte entnahm aus dem Schlüsselkasten seiner Lebensgefährtin einen Schlüssel für die Wohnung von deren ehemaligen Schwiegereltern. Diese hatten vergessen, dass er nach der Scheidung nicht zurückgegeben worden war. Während das Paar im Urlaub war, öffnete der Mann die Tür und entwendete Wertsachen und Bargeld. Zudem legte er ein Feuer, um die von ihm hinterlassenen Spuren zu beseitigen.


Verschafft sich ein Dieb mit einem bei den Wohnungsinhabern in Vergessenheit geratenen Schlüssel Zutritt zu deren Wohnung, begeht er keinen Einbruch durch Verwendung eines „falschen Schlüssels“. Bloßes Vergessen begründet keine Entwidmung. Maßgeblich sei dabei allein der Wille des Berechtigten, ob er den Schlüssel nicht, noch nicht oder nicht mehr zur Öffnung des Wohnungsschlosses bestimmt sehen möchte. (BGH, Beschl. v. 18.11.2020 – 4 StR 35/20)


§ 263 Abs. 1, 3 Nr. 2 StGB – Banden- und gewerbsmäßiger Betrug; hier: sog. Fake-Anrufe; erhebliche Haftstrafen. Die Angeklagten begingen als Mitglieder einer Tätergruppierung im gesamten Bundesgebiet gewerbsmäßigen Betrug in großem Stil. Dazu gaben sie sich gegenüber Senioren in Telefonaten als Polizeibeamte oder sonstige Amtsträger aus und veranlassten die Geschädigten dazu, Bargeld oder andere Wertgegenstände bereitzustellen, um sie angeblichen Polizeibeamten zu überlassen. Die sog. Fake-Anrufe wurden von Istanbul aus getätigt. Insgesamt wurden mehr als 65.000 Euro Bargeld gutgläubig übergeben. Die Übergabe eines sechsstelligen Betrages in einem vierten Fall konnte durch das Eingreifen der Polizei im letzten Moment verhindert werden.


Die teils erhebliche Höhe der verhängten Haftstrafen (bis zu 5 Jahre und sechs Monate) begründete das Landgericht unter anderem mit den erheblichen Auswirkungen der Taten auf die betroffenen älteren Menschen. Zum finanziellen Verlust träten oft erhebliche psychische Folgen hinzu. Zudem werde bei Taten dieser Art das Vertrauen in staatliche Institutionen besonders perfide ausgenutzt. Dies verlange eine deutliche Bestrafung. (BGH, Entsch. v. 28.10.2020 – 3 StR 254/20)

 

II Prozessuales Strafrecht

 

§ 110 StPO – Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien; hier: Durchsicht eines sichergestellten Mobiltelefons. Unter den weit auszulegenden Begriff „Papier“ im Sinne von § 110 StPO gehören auch Dateien, die auf sämtlichen Arten von elektronischen Datenträgern und -speichern für die elektronische Datenverarbeitung, insbesondere Festplatten, gespeichert sind, sowie Geräte mit fest installiertem Speicher, etwa Mobiltelefone oder Notebooks. Da § 110 StPO nach seinem Wortlaut und seiner Stellung im Gesetz aber lediglich die Durchsicht von Papieren bei einer Durchsuchung nach §§ 102 ff. StPO regelt, in deren Rahmen mögliche Beschlagnahmegegenstände aus dem bei der Durchsuchung vorgefundenen Material ausgesondert werden, ist dieses Verfahren in diesem Stadium noch der Durchsuchung zuzuordnen. Erfolgt die Durchsuchung (hier: 7 Tage) mehr als 6 Monate nach dem ihm zugrundeliegenden Beschluss, erweist sich die Durchsuchung als rechtswidrig; ebenso die dabei erfolgte Sicherstellung eines Mobiltelefons. (LG Paderborn, Beschl. v. 23.4.2020 – 01 Qs-22 Js 904/19-55/20)


§ 252 StPO – Verbot der Protokollverlesung nach Zeugnisverweigerung; hier: Gestattung der Verwertung einer früheren polizeilichen Zeugenaussage. Die Revision rügte eine Verletzung von § 252 StPO. Dem liegt zu Grunde, dass das LG am ersten Hauptverhandlungstag die Mutter des Angeklagten als Zeugin vernommen hat. Sie wurde gem. § 52 StPO über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und verweigerte sodann unter Berufung auf dieses Recht die Aussage. „Auf Befragen“ erklärte sie sich damit einverstanden, dass ihre Angaben aus dem Ermittlungsverfahren verwertet und die Polizeibeamten hierzu befragt werden dürfen. Hierauf gestützt hat die Strafkammer die Angaben der Zeugin sodann ausweislich der Urteilsgründe durch Vernehmung eines Vernehmungsbeamten in die Hauptverhandlung eingeführt.


§ 252 StPO ist – über den Wortlaut hinaus – nicht nur als Verlesungs-, sondern als Verwertungsverbot aufzufassen, das auch jede andere Verwertung der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage, insbesondere die Vernehmung von Verhörspersonen, ausschließt. Allerdings kann ein zur Zeugnisverweigerung berechtigter Zeuge die Verwertung seiner in einer polizeilichen Vernehmung getätigten Angaben wirksam gestatten, wenn er zuvor über die Folgen des Verzichts ausdrücklich belehrt worden ist. (BGH, Beschl. v. 25.8.2020 − 2 StR 202/20)