Zur Interaktionsdynamik der sozialen Polarisierung und Gewaltradikalisierung in Sachsen

Von Dr. Michail Logvinov, Berlin1

Die weit verbreiteten Annahmen der Rechtsextremismusforschung über Ursachen sowie Hintergründe der Radikalisierungsprozesse blenden in der Regel die sozialen Interaktionen aus und rücken vor allem die Einstellungsebene in den Vordergrund. Aus dem Blick geraten bei dieser deterministischen und ideologiezentrierten Betrachtung die wirksamen relationalen Faktoren als eigentliche Radikalisierungsmechanismen. Der vorliegende Beitrag setzt einen Kontrapunkt und widmet sich einer interaktionistischen Analyse der sozialen Polarisierung und der Gewaltradikalisierung in Sachsen vor dem Hintergrund der „Flüchtlingskrise“.

1 Rechte Mobilisierung und Gewaltradikalisierung in der Forschung2


Verglichen mit dem internationalen Forschungsstand3 mangelt es in der deutschen Rechtsextremismusforschung an komplexen Erklärungen der rechtsextremen Mobilisierung und Gewaltradikalisierung. Multikausale Modelle, die die Prozessdynamiken und Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren erfassen,4 sind nach wie vor eine Seltenheit. Es dominieren essentialisierende und/oder deterministische Erklärungsansätze, die den Rassismus und/oder die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in der Gesellschaft als zentrale Ursache der rechten Mobilisierung und Gewalt ausmachen.

Es erscheint allerdings die skeptische Frage berechtigt, ob eine überzeugende Gewaltanalyse gelingen könne, wenn „wir von den Konflikten abstrahieren, in deren Zusammenhang die Radikalisierung jeweils stattfindet“.5 In der Tat stellen politische Rahmenbedingungen beziehungsweise Konfliktpotentiale wichtige Kontextfaktoren gesellschaftlicher Polarisierung und Gewaltradikalisierung dar. In vielen Fällen sind es überdies „weniger bestehende Vorurteile, die Gewaltereignisse erzeugen, als Gewaltereignisse, die – wie immer sie zustande gekommen sind – Vorurteile erzeugen und bestätigen“.6 Die medial vermittelten Gewalttaten von Ausländern und Flüchtlingen, aber auch die durch die Mobilisierungsakteure im Internet gestreuten tatsächlichen oder vermeintlichen Vorkommnisse dienen in dieser Perspektive als Evidenzen der abzulehnenden Entwicklungen vor Ort. Die konflikt- und/oder gewaltgeladenen Interaktionsdynamiken zwischen den verfeindeten politischen Lagern lösen ebenfalls eskalative Radikalisierungsprozesse aus, welche die Grenzziehung zwischen „Wir“ und „Ihr“ zementieren, wobei ein Akteur – die Polizei – infolge der Pro- und Contra-Asyl-Mobilisierung in die missliche Lage der „doppelten Nichtzugehörigkeit“ gerät und von beiden Seiten massiv attackiert wird. So spielen über eine asylkritische Stimmung hinaus weitere radikalisierende bzw. eskalative Faktoren eine Rolle.

2 Radikalisierung und Gewalteskalation als relationaler Prozess


Im Zusammenhang mit den PEGIDA-Protesten gehörte es zeitweilig zum Konsens, eine kausale „Dynamik der Gewalt“ bis hin zum Rechtsterrorismus anzunehmen. Ein oberflächlicher Blick auf die empirischen Befunde scheint diese Annahme zu bestätigen. In der Tat formierten sich im Kontext der PEGIDA-Proteste, ihrer Ableger und Nachahmer sowie andersartiger asylkritischer Mobilisierung asylfeindliche Gruppen, die auf Gewalt als Konfliktlösungsmittel setzten. Zugleich handelte es sich häufig um – einschlägig vorbestrafte bzw. in Erscheinung getretene – rechte oder allgemeinkriminelle Täter. Sieht man von den LEGIDA-Demonstrationen ab, an denen sich überproportional viele rechtsextreme Akteure beteiligten, verliefen die PEGIDA-Kundgebungen weitgehend gewaltfrei.7 Was den Unterschied ausmachte, war jedoch nicht nur die Qualität der radikalen/extremistischen Einstellungen der Teilnehmer, sondern auch die Quantität und Qualität der eskalativen Dynamiken, die sich in Leipzig durch eine politisch unterstützte intensive Gegenmobilisierung auszeichneten. Im Dezember 2015 mündete eine „Demonstration gegen Rechts“ in Krawalle und massive Gewalttaten gegen die Polizei, die den Leipziger Oberbürgermeister dazu bewogen, von „offenem Straßenterror“ zu sprechen.8 Im Januar 2016 folgte eine vermutlich reaktive Aktion von Rechtsextremisten und Hooligans, die randalierend und marodierend in die „linke Hochburg“ Connewitz einfielen. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass Radikalisierung und Eskalation relationale Prozesse sind, deren Studium spezifischer Ansätze bedarf.

Radikalisierungen sind komplexe Mechanismen, die auf unterschiedlichen Ebenen – Mikro-, Meso- und Makro-Ebene – greifen.9 Zugleich sind die Entstehungsbedingungen von Radikalismus „nicht die Charakteristika, die sich in den Bewegungen dann […] behaupten“.10 Das bedeutet: Spezifische Eigenschaften radikalisierter Gruppen entstehen in einem dynamischen Konfliktgeschehen zwischen den beteiligten Akteuren in einem relationalen Umfeld (Bewegung-Gegenbewegung-Staat).11 Die Ursachenforschung benennt in der Regel lediglich die Ausgangsbedingungen jener Aktions-Reaktions-Sequenzen, die im Sinne des relationalen Ansatzes als (Sub-)Mechanismen der Radikalisierung erfasst werden.12

Im Gegensatz zu statischen und zuweilen monokausalen Interpretationen sind die dynamischen Erklärungsansätze relational (Radikalisierung als Folge von Interaktionen), konstruktivistisch (Diskursradikalisierung der Deutegemeinschaften und Sinnkonstruktionen der Akteure) und emergent (Gewalt als Folge von symbolisch vermittelten Aktionen). Die Radikalisierungsprozesse umfassen demnach relationale, kognitive und umweltbezogene Mechanismen, wobei die relationale Ebene die Wirksamkeit der Kognitionen und Emotionen sowie der Umweltfaktoren prägt.13

Zunächst einmal lässt sich mit dem Radikalisierungsbegriff eine Verschärfung der Gegensätze zwischen verschiedenen Bevölkerungssegmenten erfassen, die mit feindseligen Gefühlen aufgeladen wird und Gewalt erzeugen kann.14 Im zweiten Schritt kann von einer Gewalteskalation die Rede sein. In der ersten Phase entstehen die Gewaltsituationen in der Regel aus Interaktionen im dynamischen Protestgeschehen oder aus dem eher zufälligen Aufeinandertreffen von Täter und Opfer. In der zweiten Phase der Gewalteskalation bzw.  -radikalisierung wird sie selektiv und gezielt angewendet – nach der Zugehörigkeit zu den deklarierten primären Feindgruppen (Hassgewalt) bzw. zu den Gruppen, deren politisches Handeln als schädlich aufgefasst wird (Konfrontationsgewalt), oder gegen (zivile) Zufallsopfer (Terrorismus).15 Der private organisierte vigilantistische Terrorismus kann dabei seinem Wesen nach fremdenfeindlich (primärer Vigilantismus) oder politisch-konfrontativ (sekundärer Vigilantismus) sein. Die sächsische Hassgewaltstudie hat zwar ergeben, dass die Hassgewalt im Vergleich zur Konfrontationsgewalt von weniger ideologisierten Gruppen ausging, wobei die Konfrontationsgewalt im Schnitt eine höhere Lebensbedrohlichkeit als die Hassgewalt aufwies. Doch über die fremdenfeindlich motivierten „Gelegenheitstaten“ hinaus formierten sich infolge der Eskalationsdynamiken Personenzusammenschlüsse, die schwerste Gewaltdelikte mit hohem Organisationsgrad bis hin zum vigilantistischen Terrorismus begingen. Ohnehin zeichnete sich die Konfrontationsgewalt eher durch planhaftes Vorgehen sowie einen höheren Organisations- und Ideologisierungsgrad der Täter aus.

3 Mechanismen der sozialen Polarisierung


Der interaktionistische Ansatz der Radikalisierungsforschung ermöglicht es, die analytischen Grenzen zwischen der Makro-, Meso- und Mikroebene zu überwinden, indem intervenierende kausale Faktoren identifiziert werden. Gesamtgesellschaftlich gesehen lässt sich ein nicht unwesentlicher relationaler Mechanismus feststellen, der der sozialen Polarisierung vor der und im Zuge der Flüchtlingskrise Vorschub leistete. Es handelt sich um die Spiegelung bzw. „Internalisierung“ der internationalen Konfliktlagen16 im glokalisierten Deutschland, welche eine Wirkung auf die hiesige Bevölkerung ausüben und Ablehnungskonstruktionen im Hinblick auf bestimmte, als unvereinbar geltende Werte bestätigen bzw. erzeugen. Auch wenn die Furcht vor „Islamisierung“ keine wesentliche Ursache der späteren asylkritischen Proteste war, so waren sich die Anhänger von PEGIDA in der ersten Phase in ihrer Ablehnung der gewalttätigen Konflikte einig, welche etwa zwischen den IS-Anhängern und -Gegnern in Deutschland ausgetragen wurden. Eine zweite Form der auf Deutschland ausstrahlenden internationalen Konfliktlagen stellten die kaum administrierten Einwanderungsbewegungen aus Kriegsgebieten und/oder Ländern dar, über die oft im Kontext abweichender Wertvorstellungen (beispielsweise radikaler Islam, die Rolle der Frau) medial berichtet wird. Ein interviewtes Mitglied einer radikalisierten Gewaltgruppe teilte gar seine unmittelbaren negativen Erlebnisse aus einem militärischen Auslandseinsatz mit, die er auf die in den Jahren 2015/16 nach Deutschland kommenden Muslime übertrug.17

Im Sinne des Ursachenparadigmas entsteht unter solchen makrosozialen Bedingungen eine Situationswahrnehmung, die in der internationalen Konfliktforschung als relative Deprivation bezeichnet wird. Der Begriff kennzeichnet einen Zustand, in dem betroffene Menschen eine Diskrepanz wahrnehmen zwischen legitim erwartbaren Werten und den Möglichkeiten, diese Werte zu erreichen bzw. zu behalten. Die Wertedimension weist dabei drei Ebenen auf: Wohlfahrtserwartungen (beispielsweise ökonomische Faktoren und Selbstrealisierung), Machterwartungen (beispielsweise politische Partizipation und Sicherheit) und interpersonale Erwartungen (beispielsweise Gemeinschaftssinn und ideelle Kohärenz).18 Im Kontext der Flüchtlingskrise und asylkritischen Mobilisierung hat sich gezeigt, dass alle drei Ebenen zwar eine Rolle spielten, doch die Interviewten betonten die wahrgenommene Macht- und interpersonale Diskrepanz.

So bestimmte eine interviewte Person folgende politische Ziele der Beteiligungen an PEGIDA-Demonstrationen und sogar der Kameradschaftsgründung: mehr Aufklärung durch den Staat über neue Asylunterkünfte und über Straftaten der Asylsuchenden zu bekommen. Als Katalysator für seine radikalen Protestaktivitäten nannte er die brutale Vergewaltigung einer Frau durch einen marokkanischen Asylsuchenden im September 2015 an der Nossener-Brücke in Dresden. Nach Einschätzung eines weiteren Befragten waren die Anti-Asyl-Demonstranten/PEGIDA-Anhänger empört, da man täglich beziehungsweise ständig von Übergriffen durch Asylsuchende gehört habe, aber dies von den Medien immer nur als Einzelfall abgetan worden sei. Die Täter seien sogar immer noch in Schutz genommen worden, da sie ja durch die Flucht traumatisiert seien. Zugleich gab er zu, dass der Konsum der einschlägigen Medien nicht kritisch reflektiert wurde.19

Eine weitere Person brachte neben der ökonomischen Problematik (seiner Freundin soll wegen der Umfunktionierung eines Hotels zur Flüchtlingsunterkunft gekündigt worden sein) die Kritik an der (lokalen) Politik zur Sprache, die sich aus der Lösung der sozialen Konflikte seiner Einschätzung nach zurückzog:

„Naja und dann hat, dann hat sich es dann immer so weiter hochgesteigert. Dann auch im Umfeld. Dann auch in der Siedlung, kann man sagen. Es sind fünf Häuser hintereinander. Da hat sich es dann so hochgeputscht. Jeder hat seinen Senf dazu gegeben. Und dass der Stadtrat oder die Leute, die was in der Stadt zu sagen haben, nicht mit den Bürgern gesprochen hat, dass da das Hotel hinkommt. Die Ängste und Nöte, also was die Bürger so haben und die Anwohner, wurde nie drüber gesprochen. Das. Man hat es beschlossen und hat gesagt, pass auf, das wird gemacht und das ist so. Ihr könnt da machen, was ihr wollt, uns interessiert eure Meinung nicht oder eure Ängste nicht und so ‘n scheiß alles. […] Und wie gesagt, man hat sich allein gelassen gefühlt. Beschissen gefühlt auf Deutsch gesagt von den Politikern und Stadträten. Gut. Den Stadträten kann man eigentlich im Endeffekt auch keinen Vorwurf machen. Die kriegen es auch nur von oben diktiert. Sagen das mal so. Und die müssen es machen. Aber die Stadträte hätten wenigstens sagen können, pass auf, lasst uns mal zusammensetzen und reden drüber, wie sieht es aus, habt ihr Befürchtungen oder habt ihr keine Befürchtungen. Und mal wenigstens drüber reden, aber nichts machen, das ist für mich, das find ich nicht in Ordnung“.20

An dieser Situationswahrnehmung, die unter der betroffenen Bevölkerung anscheinend weite Verbreitung fand, zeigt sich, dass die Asylpolitik auch als Folie für die Funktionsweise der (lokalen) Demokratie unter Kritik stand.

Die sächsische politische Kultur ist geprägt durch die Betonung sozialer Gleichheit, wohlfahrtsstaatliche Forderungen und Misstrauen gegenüber den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates, wobei ein Großteil der Bevölkerung politische Entscheidungen in erster Linie nach dem Modus ihres Zustandekommens legitimiert.21 Das obige Zitat lässt sich daher dahingehend interpretieren, dass die asylkritische Mobilisierung der lokalen Bevölkerung in bestimmtem Maße mit der verweigerten Partizipation zusammenhing. Die Mitsprache erweist sich im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit als eine besonders einflussreiche Variable, was die Entschärfung sozialer Konfliktlagen angeht. Allerdings wurde die Möglichkeit, politische Mediations- und Erörterungsformate vor Ort zu etablieren (der Mechanismus der Out-Group-Vermittlung und Legitimierung des Protestanliegens), kaum bzw. erst sehr spät ergriffen – in manch einer Gemeinde erst dann, nachdem es Akteuren aus dem rechtsextremen Spektrum gelungen war, sich an die Spitze des Protestgeschehens zu stellen.

Ein weiterer relationaler Radikalisierungsmechanismus bewirkte auf der kognitiven und emotiven Ebene eine rasche Aktivierung des Wir/Ihr-Gegensatzes und eine entsprechende Grenzziehung auf Seiten der Protestakteure Protestakteure, die mit einer spezifischen Form der moralischen Abkopplung einherging. Denn dem „Wutbürger“ wurde die Legitimität abgesprochen, ein (lokales) politisches Anliegen zu vertreten. Dies lief auf eine Delegitimierung des Anliegens an sich hinaus und traf nicht nur die von den bekannten Rechtsextremisten organisierten bzw. beeinflussten asylfeindlichen Proteste. Es liegt nahe, dass infolgedessen in bestimmten Bevölkerungssegmenten ein negativer emotionaler Zustand die Bereitschaft zur effektiven Situationsbewältigung mit konformen Mitteln einschränkte, wobei die soziale Kontrolle und Sanktionierung vor Ort geschwächt wurde. Gewaltkompetente Akteure nahmen dies zum Anlass, die Gewaltanwendung als Problemlösung normativ und utilitaristisch zu rechtfertigen, und sahen sich anscheinend in ihrer Problemdiagnose bestätigt.

Die situative „Stellvertreter-Repression“ durch linke Gegenmobilisierungsakteure trug wesentlich zur Zementierung der entstandenen Grenzen und zur Kontrastverschärfung bei. Eines der etablierten Dresdner Bündnisse („Nazifrei! – Dresden stellt sich quer“) behandelte die PEGIDA-Proteste entsprechend dem eigenen Problemverständnis seit Anbeginn als rassistisch und folgte der Maxime „Kein Fußbreit den Nazis“ in Übereinstimmung mit dem Aktionskonsens, mittels Blockaden „Nazis zu stoppen“.22 Die allzu großzügige Anwendung des Rassismus- und „Nazi“-Etiketts auf alle einwanderungskritischen Personen geriet dabei selbst „in Gefahr, diese auf eine feststehende Wesensart festzulegen. Sie würde damit die möglichen aktuellen Beweggründe verschwinden lassen. Es könnte aber sein, dass gerade diese bearbeitet werden müssen“.23 Zu dieser Problematik hieß es in einem Interview:

„Aber die Provokation zwischen den beiden Lagern jetzt. Man hat Leute auch von außerhalb angekarrt, die eigentlich nichts mit Dresden und Freital zu tun haben, und haben da Stimmung gemacht. Also gegen uns und gegen die ganze Stadt. Und weiß nicht. Und das hat sich dann auch im Endeffekt dann richtig hochgeschaukelt. Zum Beispiel der Herr X. […] Der ist ja aus Leipzig. Der hat dann auch teilweise die Demo da angemeldet und so weiter und so fort und hat ja Freital ist ein braunes Nest und das sind alles Nazis und und und. Der kennt die Leute nicht. Und macht die einfach runter und beschimpft sie. Und das, weiß nicht, find ich nicht in Ordnung“.24

Bei den aggressiven Anti-Asyl-Demonstrationen wie beispielsweise im Juni und Juli 2015 in Freital agierten die Gegendemonstranten entsprechend den Umständen eskalativ und griffen politischen Gegner teils tätlich an. Wie die oben zitierte Aussage zu Mitspracherechten in der Flüchtlingskrise ließe sich die kritische Einschätzung der Generalisierung des Rassismus als Rationalisierung bzw. Rechtfertigung interpretieren. Zugleich gibt sie Aufschluss über die Wahrnehmung der Hintergründe polarisierender (Re-)Aktionen und eskalativer Dynamiken.

In der Berichterstattung über die islam- und asylkritische bis -feindliche Stimmung in Sachsen fand sich ein ähnlicher Eskalationsmechanismus. Auch wenn die bundesdeutschen Medien die Fehler der 1990er Jahre nicht wiederholen wollten, trugen die meinungs- bzw. haltungsstarken Journalisten wesentlich zur sozialen Polarisierung bei. Eine einschlägige Studie der Otto Brenner Stiftung enthält zahlreiche lesenswerte Befunde, die erklären, wie die „medialen Dysfunktionen“ den polarisierenden und desintegrierenden Prozess „massiv gefördert“ haben.25 Da wäre beispielsweise der belehrende und verächtliche Ton, in dem die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der lokalen Bevölkerung zeitweilig kommentiert wurden. Zugleich dienten die Kommentare „nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen“.26 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in der Hochphase der „Flüchtlingskrise“ kaum zwischen den Rechtsextrem(ist)en und „politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern“ unterschieden wurde.27 Differenzierung tut allerdings not, wenn man vermeiden möchte, dass das großzügige Aufhängen eines Nazi-Etiketts nicht nur spaltet, sondern auch teils eine Normalisierung bewirkt: „Dann bin ich eben rechts!“ war 2016/17 immer öfter zu hören.

4 Rechtsextreme Mobilisierung und Gewaltradikalisierung


Migrations- und asylkritische Mobilisierung ist ein wesentliches „Politikfeld“ rechtsextremer Akteure. Die NPD suchte sich vergleichsweise früh mit ihrer Anti-Asyl-Agitation zu profilieren. Auch andere Akteure aus den rechtsextremen und/oder rechtspopulistischen Netzwerken schürten soziale Konflikte, um im zweiten Schritt Lösungen anzubieten und Sympathisanten zu gewinnen. Dabei setzten sie auf mobilisierende Demonstrationen sowie expressive Aktionen und versuchten nach Kräften, von der Proteststimmung zu profitieren. Es zeigte sich eine Korrelation zwischen der Stärke des rechtsextremistischen bzw. rechtspopulistischen Spektrums vor Ort und der asylfeindlichen Mobilisierungsintensität. Die Vereinnahmungsformen variierten dabei zwischen einer mehr oder minder wahrnehmbaren Beeinflussung bzw. Radikalisierung des Protestgeschehens (Freital) und einer „Subversion“ wie in Heidenau, wo ein NPD-Mitglied anfangs als Privatperson asylfeindliche Mobilisierung betrieb.

Die internationale Rechtsextremismusforschung betont das kausale Verhältnis zwischen Hassgewalt und migrations- sowie elitenkritischer Mobilisierung.28 Dieser Zusammenhang lässt sich mit den im Projekt generierten Daten jedoch im strengen Sinne nicht belegen. Im Blick auf die rechtsextreme Mobilisierung und Eskalation ließ sich allerdings eine Art Überbietungswettbewerb mit Nachahmungseffekten beobachten. Denn die Akteure, die Gewalt als Handlungsmodell normativ und utilitaristisch rechtfertigten, tauschten sich über Soziale Medien über die (über-)regionalen „Erfolge“ der Aktionen aus, was eskalative Episoden und eine Gewaltradikalisierung nach sich zog.

Ein Mechanismus trug wesentlich zur Gewaltradikalisierung bei: der (lokale) Vigilantismus.29 Als primärer Vigilantismus lassen sich jene Gewalttaten erfassen, die von den örtlichen „Bürgerwehren“, „Widerstandsgruppen“ und anderen mehr oder minder organisierten Personenzusammenschlüssen begangen wurden. „Wachsame Bürger“ fühlten sich der sozialen Kontrolle am als untätig wahrgenommenen Staat vorbei verpflichtet. Zugleich firmierten die Gewalttaten aus Tätersicht vielfach als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Asylpolitik, die sich mit der Unterbringung Geflüchteter in der Nachbarschaft auf ihr unmittelbares Umfeld auswirkte. Der als Hassgewalt in Erscheinung getretene Vigilantismus war größtenteils spontan und emotional gesteuert, sieht man vom vigilantistischen Terrorismus der „Gruppe Freital“ und der „Kameradschaft Dresden“ ab.


Proteste gegen die rechtsextremistische NPD.

Die selbst ernannten Wächter über „Recht und Ordnung“ verschrieben sich überdies der lokalen Kriminalitätskontrolle. Hier spielten Personen mit einschlägigen Orientierungen und/oder Gewaltkompetenzen eine Rolle. Ein Beispiel dafür wäre die Eskalation in Bautzen oder Chemnitz. Ein weiteres, „niedrigschwelliges“ Beispiel: Am 15. Oktober 2015 verabredeten sich einige Mitglieder der „Freien Kameradschaft Dresden“ zu einem Besuch des Herbstfestes in Dresden, um unter anderem „auf Flüchtlinge aufzupassen“. „Denn ihnen waren zuvor Meldungen bekannt geworden, denen zufolge es auf dem Rummel zu Problemen, u.  a. in der Form von Taschendiebstählen durch Flüchtlinge, speziell aus dem in der Bremer Straße befindlichen Notaufnahmelager gekommen sein sollte. Sie wollten deshalb anlässlich des Rummelbesuchs zugleich ihrer selbstgestellten Aufgabe nachkommen, dass ‚Ordnung und Ruhe‘ nicht durch Flüchtlinge oder andere ‚Ausländer‘ beeinträchtigt würden, was gegebenenfalls auch ein gewaltsames Einschreiten umfassen sollte“.30 Als zwei Ausländer zur späten Stunde tatsächlich in einen Konflikt mit dem Sicherheitsdienst gerieten und dessen Mitarbeiter zu einer körperlichen Auseinandersetzung herausforderten, setzten die selbsternannten Sheriffs ihren Tatentschluss um. Grundsätzlich hatte der Gedanke der Kriminalitätskontrolle eine unübersehbare Relevanz für die asylfeindlichen Aktionen der lokalen „Widerstandsgruppen“. Tatsächliche oder vermeintliche Vorfälle wurden vorher in Sozialen Medien ventiliert und diskutiert, wobei man sich gegenseitig emotional bestärkte und/oder in der Richtigkeit der ausgewählten Handlungsmuster bestätigte.

Überdies spielte der sekundäre Vigilantismus – die Konfrontationsgewalt gegen die Polizei und linke (Pro-Asyl-)Akteure als Mittel der Sozialkontrolle – eine wichtige Rolle. Denn die Polizei, ähnlich wie die Pro-Asyl-Aktivisten aus dem linken Spektrum, galt nun den rechten Tätern als Instanz zur Durchsetzung der unerwünschten „sozialen Innovation“. Dieser Radikalisierungsmechanismus lässt sich als Verschiebung der Zielobjekte bezeichnen. In einigen Fällen gingen den Gewalthandlungen gegen „linke Gruppen“ deren tatsächliche oder vermeintliche/wahrgenommene Aggressionen, auch gegen Bürgerproteste, voraus. Konfrontationsdelikten ging weitaus häufiger eine Provokation voraus als Hassgewalttaten. Mit dem Anstieg der Hassgewalt nahm zugleich die Zahl der linksmotivierten Konfrontationsdelikte gegen Polizei (eine Verdopplung) und „gegen rechts“ (eine Verdreifachung) zu.

5 Gewaltradikalisierung und Terrorismus


Die im Projekt ausgewerteten Daten erlauben es, einige in Deutschland populär gewordene Hypothesen der Radikalisierungsforschung zu prüfen. Die erste Hypothese betrifft die Radikalisierungsformen: Wie in der internationalen empirischen Forschung postuliert, erfolgt die Radikalisierung zur schweren (Hass-)Gewalt in Bekannten- und Freundeskreisen, also unter Gleichgesinnten in der realen Welt. Die Online-Aktivitäten, die mangels empirischer Zugänge eine Radikalisierung suggerieren mögen, dienen „lediglich“ der (Selbst-) Vergewisserung der Richtigkeit ausgewählter Pfade und dem Sympathiegewinn. Zugleich ermöglicht die moderne Kommunikationstechnik eine Intensivierung der Radikalisierungsdynamiken infolge der praktisch ständigen Präsenz der Bezugsgruppe. Eine ähnliche Vergewisserungs- bzw. Legitimierungsfunktion erfüllt die von rechtsextremen Akteuren angestrebte Kopplung an die lokalen Proteste bzw. Anti-Asyl-Demonstrationen. Gewalttäter sahen sich durch die Zusammenkünfte mit Menschen ohne rechtsextreme Orientierungen in ihrem Glauben bestärkt, „auf der richtigen Seite zu stehen“ und über die Protestaktivitäten hinaus handeln zu müssen. Zugleich gab es weitere relevante Faktoren wie das Gefühl, mit den (mehr oder minder aggressiven) Protestmitteln nicht weiter zu kommen, und/oder Eskalationen im dynamischen Protestgeschehen.

So haben sich einige Hassgewalt-Täter an GIDA-Demonstrationen beteiligt. Bei PEGIDA haben sich die Mitglieder der „Freien Kameradschaft Dresden“ teilweise kennengelernt. Der Kern der „Gruppe Freital“ hatte bei einer Kundgebung gegen die Unterbringung von Flüchtlingen vor dem Hotel „Leonardo“ in Freital zueinandergefunden. Angemerkt sei allerdings, dass die erfassten Täter teils Veranstaltungen unterschiedlicher Mobilisierungsakteure, auch der NPD und der neonationalsozialistischen Kleinpartei „Die Rechte“, besuchten. Zugleich strebten sie anscheinend eine Einflussnahme auf die Dynamik der Proteste an. So bekundete ein Mitglied der „Gruppe Freital“ seinen Wunsch, mit 150 „tschechischen Nazis“ einen „schwarzen Mob“ bei PEGIDA zusammenzustellen und dann „auszurasten“.31Über die „Freie Kameradschaft Dresden“ heißt es im Gerichtsurteil: „Durch die Teilnahme an solchen Demonstrationen als eigenständig organisierter Verband sollten diese einen zusätzlichen Schub erhalten“.32 Daher scheint die Annahme berechtigt, dass die Personen mit radikaleren Einstellungen auf dem „Markt der Loyalitäten“ mehr oder minder aktiv auf der Suche nach Gleichgesinnten waren. Somit lässt sich der postulierte kausale Zusammenhang zwischen der Protestmobilisierung und der Gewaltradikalisierung hin zu schwer(st)en Delikten nicht hinreichend belegen.

Eher spielten Eskalationen, Konfrontations- und gemeinsame Gewalterfahrungen als Initialzündung eine wichtigere Rolle. Sie führten dazu, dass die Protestgemeinschaft bzw. deren Aktionsformen als nicht radikal genug erschienen. Der Entschluss, die „Freie Kameradschaft Dresden“ zu gründen, wurde Ende Juli 2015 nach der Auflösung einer rechtsextremen Spontandemonstration vor einer Asylunterkunft in Anwesenheit eines NPD-Politikers gefällt. Drei Tage später folgte die erste Protestaktion der Gruppe vor einer Asylnotunterkunft. Als die fremdenfeindliche Kundgebung durch Polizeibeamte gestoppt werden sollte, wurden sie mit Pyrotechnik attackiert:

„In der Folge radikalisierte sich die FKD, der von Beginn an jedenfalls auch gewaltbereite angehört hatten, rasch dahin, dass es […] auch zu ihrem Zweck geworden war, ihre ausländerfeindlichen Ziele durch gemeinsam abgesprochene und gewalttätige Aktionen durchzusetzen. Insbesondere sollten die bisherige Flüchtlingspolitik unterstützende, politische Andersdenkende und Ausländer bekämpft, eingeschüchtert und nachhaltig in Angst versetzt werden. […] Hierzu wurden Konfrontationen und körperliche Auseinandersetzungen mit sogenannten Andersdenkenden, insbesondere mit der Antifa und mit […] Flüchtlingen gesucht und umgesetzt. Gleichzeitig wurde auch die Polizei, soweit sie die Umsetzung der bekämpften Flüchtlingspolitik […] absicherte, zum Gegner der FKD“.33

Auch die „Gruppe Freital“ richtete ihre Gewalttaten im Zuge der Zielgruppendiffusion gegen die Unterstützer der Asylpolitik. Bei der aus der „Bürgerwehr FTL/360“ hervorgegangenen Gruppe übte überdies die Selbstkategorisierung als „Verteidiger der Gemeinschaft“ vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Zunahme der Übergriffe in Freital die radikalisierende Wirkung aus. Eine ähnliche Selbstwahrnehmung ließ sich bei der Gruppe „Meerane unzensiert“ feststellen, deren Mitglieder wegen des versuchten Mordes in zehn Fällen in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung verurteilt wurden („Division Sachsen. Wo Sachsenkrieger hinkommen, herrscht der Tod“). Überdies besaßen die Rädelsführer der „Gruppe Freital“ einschlägige rechtsextreme sowie gewaltlegitimierende Orientierungen und Kontakte in die rechten Subkulturen der Gewalt, was der öfter geäußerten Meinung widerspricht, schwere Hassgewalttaten würden von unbescholtenen Bürgern begangen. Durch die Art und Weise der Mitgliederrekrutierung – die Anwärter sollten ihre Radikalität unter Beweis stellen und sich zu den terroristischen Zielen sowie Aktionsformen bekennen – war auch die hohe Intensität der radikalisierenden Gruppendynamik möglich.


LEGIDA-Aufmarsch in Leipzig.

6 Grunderkenntnisse und Schlussfolgerungen


Der hier unternommene Versuch einer relationalen, konstruktivistischen und emergenten Interpretation der Radikalisierungsprozesse dürfte die lineare „Logik der Radikalisierung“ fraglich erscheinen lassen. Denn die sozialen Konfliktdynamiken, Werteerwartungen und Orientierungen sowie Interaktionen zwischen den an politischen Konflikten beteiligten Akteuren sind wirksame Faktoren, die sich monokausalen Erklärungsversuchen entziehen. Festzuhalten ist: In vielen Fällen waren es Ereignisse, die unmittelbar oder durch ihre mediale Präsentation Vorurteile bestätigten bzw. erzeugten und zu der Neuordnung subjektiver Präferenzen führten. „Fanaltaten liefern auf diese Weise immer wieder eine punktuelle ‚Evidenz‘ für raumgreifende Folgerungen“.34 Auch soziale und kulturelle Konflikte rund um relative Deprivationserfahrungen erwiesen sich als solche wirksamen Ereignisse.

Im Gegensatz zu deterministischen Erklärungsansätzen legt die relationale Konfliktsoziologie wirksame Aktions-Reaktions-Sequenzen bzw. Mechanismen offen, deren Berücksichtigung die soziale Polarisierung und Radikalisierung vermeiden bzw. entschärfen ließe. Zwar kann die globalisierungsbedingte Spiegelung bzw. Internalisierung der internationalen Konfliktlagen schwerlich vermieden werden. Dennoch sollte das Eintreffen großer Flüchtlingsgruppen in die Wirkungsanalyse einfließen, auch vor dem Hintergrund der medial präsenten internationalen Konfliktlagen (bspw. der Aufstieg des radikalen Islams und die Terrorgefahr in Europa, die Schreckensherrschaft des Islamischen Staates, die Gefahr durch Rückkehrer aus dem Irak/Syrien). Solche Entwicklungen im glokalisierten Deutschland sind als das zu sehen, was sie sind: potentiell konfliktträchtige Ereignisse, die sich als Chance für die Gemeinschaft erweisen, aber auch zu deren Polarisierung führen können.

Entscheidend ist eine effiziente Konfliktregulierung. Hier sind die lokalen deutungsmächtigen Akteure aus Politik und Verwaltung gefragt. Denn im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit ist es sinnvoll, dafür Sorge zu tragen, dass diejenigen, die von der sozialen Desintegration beziehungsweise der relativen Deprivation betroffen sein können, Mitspracherechte erhalten. Autoritativ legitimierte Entscheidungen bedürfen im lokalen Kontext einer Mediation und partizipativen Erörterung. Es sollten daher Maßnahmen vermieden werden, die zur reaktiven Mobilisierung führen und zur Aktivierung der Wir-Ihr-Grenzen beitragen. Denn die Kontrastverschärfung lässt die zur Konfliktbearbeitung notwendigen Grauzonen verschwinden. Die Strategie des stigmatisierenden Beschämens hält demgegenüber keine Überbrückungs- bzw. Reintegrationsmöglichkeiten offen.

Der politisch-diskursive Wettbewerb sichert in der Demokratie eine Kultur von Partizipation sowie Mediation und gewährleistet dergestalt (kommunikative) Konfliktbearbeitung. Im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit führt dies zur Entschärfung sozialer Spannungen. Auf diese Weise wird zugleich signalisiert, dass es keine unrevidierbaren Entscheidungen gibt und die gesellschaftliche Steuerung durch Politik kontrollierbar und nicht alternativlos bleibt. Neben den demokratischen Mediationsverfahren stellt das geltende Recht ein weiteres Medium der Revision dar.35

Es ist wenig förderlich, die Konfliktregulierung der sogenannten Politik der Straße zu überlassen. Denn oft gießen die eskalativen Dynamiken im Protestgeschehen das sprichwörtliche Öl ins Feuer sozialer Konflikte. So kam es vor allem in Leipzig, wo die konfrontative „Politik der Straße“ und „ihre eigenen Regeln als eine solche“ anerkannt wurden, zu hochgradigen Aufschaukelungsprozessen.36 Die asylfeindliche Mobilisierung und die Ausschreitungen in Bautzen, Freital und Heidenau sind überdies ein Beleg dafür, dass rechtsextreme und rechtspopulistische Netzwerke dort erfolgreich waren, wo die politische Konfliktlösung und Moderation anfangs fehlte bzw. nicht intensiv genug ausfiel und die konfrontativen Dynamiken an Oberhand gewonnen haben. Generell sind nicht die Akteure „auf der Straße“ für die Bearbeitung politischer Konflikte zuständig, sondern die demokratisch legitimierten Politiker vor Ort. Der „Aufstand der Anständigen“ muss aus diesem Grund mit dem „Aufstand der Zuständigen“ zusammenfallen. Besser noch: Die Zuständigen sollten den „Aufstand der Anständigen“ anführen, integrativ gestalten und die konfrontativen „Anständigen“ in die Schranken weisen. Denn erst das Ausbleiben politischer Lösungen macht es Extremisten möglich, ihre alternativen Problemdiagnosen und vermeintlich bessere, weil einfache, Lösungsvorschläge öffentlich wirksam zu bewerben, während die Populisten unter solchen Umständen ein leichtes Spiel haben.

In Sachsen, dessen politische Eliten teils ein hierarchisches Verständnis von Politik und Demokratie aufweisen, würde das argumentative Ringen um politische Lösungen und deren Unterstützung in den Gemeinden für mehr Zuspruch sorgen und die rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Mobilisierungserfolge eindämmen. Es biete sich nach Expertenmeinungen etwa das Format der Großgruppenmoderation an. Elaborierte Ansätze des Community-Coachings können hier Abhilfe schaffen.37 Eine effektive und proaktive Politik und Verwaltung sind wesentliche Gelingensbedingungen bei der Herbeiführung von tragfähigen Mehrheitsentscheidungen und der Eindämmung der Polarisierungspotentiale.38 Sächsische Präventionsexperten betonen überdies die Notwendigkeit, in die demokratische Infrastruktur des Freistaates vermehrt nach definierten Wirksamkeitskriterien zu investieren.

Was kann mit Blick auf die Gefahrenabwehr durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle unternommen werden? Obwohl einige Forscher das Kontrollparadigma der Kriminalprävention zugunsten des Entstehungsparadigmas kritisieren, sind die Kontrollmöglichkeiten unter spezifischen Bedingungen der sozialen Polarisierung eher eingeschränkt. Vor allem dann, wenn die Grenzen der Milieus erodieren, wobei lokale „Bürgerwehren“, asylfeindliche Mobilisierungsakteure und regionale Protestgruppen zunehmend vernetzt agieren und mitunter Straftaten begehen. Nichtsdestotrotz sind einige relevante Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Gewaltradikalisierung möglich.

Es bleibt nach wie vor richtig, dass die Radikalisierung der Gewalt bis hin zu schwerwiegenden Straftaten – trotz der Zunahme der „Gelegenheitstäter“ – eine Domäne der rechten Kampfbünde bzw. Akteure ist. Die Annahme eines terroristischen Täters aus der „Mitte der Gesellschaft“ erwies sich als korrekturbedürftig. Daher sind Personenzusammenschlüsse unter die Lupe zu nehmen, die eine „Vollstrecker-Identität“ erkennen lassen: „Bürgerwehren“, „Divisionen“, „Widerstandsgruppen“ und andere „Kampfsekten“, die im Internet und/oder im sozialen Nahraum für Sympathiegewinne werben und/oder sich an – vordergründig rechtsextremen – Protestaktionen beteilig(t)en, bei denen es zu (tätlichen) Auseinandersetzungen zwischen den politischen Flügeln oder zwischen den Aktivisten und Polizeibeamten kam.

Es ist auch sinnvoll, dreierlei im Blick zu behalten: Die „Bewegungshistorie“ der in Erscheinung getretenen „politischen Soldaten“ und/oder deren allgemeine Gewaltkarriere, ihre Kontakte zu den Subkulturen der Gewalt sowie Freizeitgestaltung im Hinblick auf Treffen mit (radikalen) Gleichgesinnten. Denn die frühere Mitgliedschaft in Gewaltgruppen oder die Kontaktanbahnung zu solchen sind nicht zu ignorierende Risikofaktoren aktuell. Trifft ein früherer Aktivist mit Charisma auf einen „Macher“ mit Gewalterfahrung bzw. -kompetenzen, erhöht sich das Risiko deutlich (die Konstellation der „Gruppe Freital“). Der gemeinsame Alkoholkonsum mit radikalen Mitstreitern birgt Risiken gruppendynamischer Prozesse und „spontaner“ Tatausführung. Die Nähe solcher Gruppen zu potentiellen Anschlagszielen (bspw. Flüchtlingsunterkünfte) erhöht das Risiko der Gewaltanwendung. Die empirischen Befunde legen den Schluss nahe, dass die meisten Anschläge einen örtlichen Bezug hatten. Daher könnte eine risikobasierte Regionalanalyse die Identifizierung potentieller Täter bzw. Gefährder ermöglichen.

Planhaftes Vorgehen setzt demgegenüber das Ausspähen der exponierten Zielobjekte und -personen voraus. Die Maßnahmen der Gefahrenabwehr können hier ansetzen. Es verdienen auch Meldungen bzw. Ereignisse Aufmerksamkeit, die die vigilantistischen Reaktionen bzw. Racheaktionen nach sich ziehen können: vermeintliche oder tatsächliche Übergriffe linker Aktivisten sowie vermeintliches oder tatsächliches delinquentes Verhalten von Asylsuchenden, die eine mobilisierende Wirkung entfalten. Überdies verdient der linksextreme Vigilantismus erhöhte Aufmerksamkeit. Bekannte Maßnahmen der situativen Prävention an „exponierten“ Objekten mit Asylbezug erschweren den Taterfolg. Die Polizeipräsenz kann zwar abschreckend wirken, infolge der Zielgruppenverschiebung befinden sich jedoch Beamte selbst im Fadenkreuz der „Volkskontrollinstanzen“.

Abschließend sei hervorgehoben, dass nur die Instanzen der formellen Sozialkontrolle imstande und legitimiert sind, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Aus diesem Grund braucht auch die Polizei problemorientierte Präventionsansätze, die aufgrund der Evaluation ergriffener Maßnahmen sowie ihrer Wirksamkeit und unter Berücksichtigung der Radikalisierungsdynamiken kriminalstrategische Eckpunkte definieren.

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Anmerkungen



  1. Dr. Michail Logvinov, Extremismusforscher und Fachkraft für Kriminalprävention, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungs- und Informationsdienst Extremismus und Militanz (FIDEM) der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur (EXIT-Deutschland, HAYAT-Deutschland, DNE- Diagnostisch-therapeutisches Netzwerk Extremismus).
  2. Der vorliegende Beitrag entstand Ende April 2018 im Rahmen des Forschungsprojekts „Rechte Hassgewalt in Sachsen. Entwicklungstrends, Radikalisierung, Prävention (2011-2016)“, das vom Sächsischen  Staatsministerium für  Soziales  und Verbraucherschutz gefördert und vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung  e.V. realisiert wurde.
  3. Siehe vor allem: Manuela Caiani/Donatalla della Porta/Claus Wagemann, Mobilizing on the Extreme Right. Germany, Italy, and the United States, Oxford 2012.
  4. Frühe Anregungen kamen aus der Terrorismusforschung: Susanne Karstedt-Henke, Soziale Bewegung und Terrorismus. In: Erhard Blankenburg (Hg.), Politik der inneren Sicherheit, Frankfurt a.M. 1980, S. 169-237; Fritz Sack/Heinz Steinert, Protest und Reaktion, Analysen zum Terrorismus 4/2, Opladen 1984.
  5. Eckert, Radikalisierung und Gewalt seit 25 Jahren, S. 1.
  6. Ebd., S. 13.
  7. Vgl. zuletzt Maik Herold, Fremdenfeindlichkeit im rechtspopulistischen Protest: das Beispiel Pegida. In: Totalitarismus und Demokratie, 15 (2018) 1, S. 13-25, mit einer umfassenden Dokumentation der inzwischen in stattlicher Zahl vorliegenden Studien.
  8. Vgl. Stine Marg u.a., No Pegida. Die helle Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2016, S. 46.
  9. Vgl. Bernd Wagner, Rechtsradikalismus in der Spät-DDR. Zur militant-nazistischen  Radikalisierung, Berlin 2014.
  10. Eckert, Die Dynamik der Radikalisierung, S. 292.
  11. Vgl. Caiani/della Porta/Wagemann, Mobilizing on the Extreme Right.
  12. Vgl. Lorenzo Bosi/Chares Demetriou/Stefan Malthaner, Dynamics of Political Violence. A Process?Oriented Perspective on Radicalization and the Escalation of Political Conflict, New York 2014. 
  13. Vgl. Eitan Y.  Alimi/Lorenzo Bosi/Chares Demetriou, The  Dynamics of Radicalization: A Relational and Comparative Perspective, New York 2015, S. 38.
  14. Vgl. Eckert, Die Dynamik der Radikalisierung, S. 10.
  15. Vgl. Alimi/Bosi/Demetriou, The  Dynamics of Radicalization, S. 12.
  16. Zu den einzelnen Mechanismen vgl. Alimi/Bosi/Demetriou, The  Dynamics of Radicalization.
  17. Vgl. Interview mit Nils W. am 13.12.2017 (Namen geändert).
  18. Vgl. Ted Robert Gurr, Why Men Rebel, Princeton 1970, S. 26.
  19. Vgl. Interview mit Nils W. am 13.12.2017.
  20. Vgl. Interview mit Tom D. am 2.2.2018.
  21. Vgl. Tom Mannewitz, Politische Kultur und demokratischer Verfassungsstaat. Ein subnationaler Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung, Baden-Baden 2015, S. 356 f., 403.
  22. Vgl. Marg u.a., No Pegida, S. 27.
  23. Eckert, Radikalisierung und Gewalt seit 25 Jahren, S. 23.
  24. Vgl. Interview mit Tom D. am 2.2.2018.
  25. Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Frankfurt/M. 2017, S. 140.
  26. Ebd., S. 135.
  27. Ebd.
  28. Vgl. Caiani/della Porta/Wagemann, Mobilizing on the Extreme Right, S. 94 ff.
  29. Vgl. zum rechtsextremen Vigilantismus in Sachsen: Uwe Backes u.a., Rechtsmotivierte Mehrfach- und Intensivtäter in Sachsen, Göttingen 2014.
  30. Urteil des LG Dresden v. 28.10.2017, Az.: 3 KLs 373 Js 49/17, S. 32.
  31. Vgl. Anklageschrift des Generalbundesanwaltes beim BGH, Az. 2 BJs 38/16-5 vom 28.10.2016, S. 49.
  32. LG Dresden v. 28.10.2017, Az.: 3 KLs 373 Js 49/17, S. 22.
  33. Ebd., S. 23.
  34. Eckert, Radikalisierung und Gewalt seit 25 Jahren, S. 28.
  35. Vgl. Eckert, Die Dynamik der Radikalisierung, S. 25 f.
  36. Marg u.a., No Pegida, S. 46 f.
  37. Vgl. Fabian Wichmann,   Rechtsextremismus und Gemeinwesen – Community Coaching  am Beispiel Pretzien. In: JEX  Journal EXIT-Deutschland, 2 (2016), S. 119-189.
  38. Hintergrundgespräche und Interviews des Verfassers mit – auch sächsischen – Fachexperten aus Zivilgesellschaft und Verwaltung.