Islamistisch- terroristische Anschläge in Deutschland 2016

Eine Analyse ihrer Taktik und Akteure

Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1

Die zahlreichen geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge innerhalb der letzten 24 Monate in Europa und Deutschland haben den Grad der Bedrohung verdeutlicht, die aktuell und zukünftig von Islamisten, Salafisten und islamistischen Terroristen für demokratische, westliche Staaten wie Deutschland ausgeht.

Dennoch besteht auch über 15 Jahre nach den historischen Anschlägen des 11.9.2001 immer noch ein eklatantes Analysevakuum im Phänomenbereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch innerhalb der Sicherheitsbehörden. Spätestens die zahlreichen in den Jahren 2016 und 2017 versuchten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union sollten bzw. müssen eine Zeitenwende der Betrachtung und Analyse des Phänomenbereiches islamistischer Terrorismus auslösen. Eine effektive Analyse des Phänomenbereiches Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus muss erkennen, dass dieser Phänomenbereich hoch komplex ist und Prioritäten zu setzen sind, auf welchen Analyseebenen wissenschaftliche Forschung, Sicherheitsbehörden und andere relevante Akteure diesen Phänomenbereich untersuchen müssen.

Folgende Analysefragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages:

  • Radikalisierung:Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der Freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische Ziele zu erreichen? Die folgenden Radikalisierungsfaktoren werden sowohl von der internationalen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung als auch von europäischen Sicherheitsbehörden als entscheidend dafür identifiziert, warum und wie Extremisten und Terroristen entstehen.2
    • Die islamistische Ideologie
    • Der soziale Nahbereich, das islamistische Milieu
    • Islamistische Angebote des Internets
  • Akteursanalyse: Wer wird warum Islamist, Salafist und/oder islamistischer Terrorist?
  • Taktik und Mittel: Wie gehen Islamisten, Salafisten und islamistische Terroristen vor? Können (wiederkehrende) Muster identifiziert werden, aus denen dann Gegenmaßnahmen entwickelt werden können?


Im Folgenden werden vier islamistisch-terroristische Anschläge des Jahres 2016 in Deutschland untersucht, darunter in zwei Fällen internationale islamistische Akteure, Flüchtlinge und in zwei Fällen homegrown-Akteure des salafistischen Spektrums.3

1 Der salafistische Anschlag auf Bundespolizisten am 26.2.2016 im Hauptbahnhof Hannover

1.1 Die Taktik und die Mittel des salafistischen Akteurs

Am 26.2.2016 provozierte die Deutsch-Marokkanerin Safia S., eine 15 jährige Schülerin, durch ein – in der später folgenden Gerichtsverhandlung als auffällig beschriebenes Verhalten – eine Ausweiskontrolle im Bahnhof Hannover und sticht dabei mit einem Messer – in ihrem Rucksack führt sie ein weiteres Messer mit sich – einem jungen Bundespolizisten unvermittelt in den Hals.4 Der Bundespolizist bricht zusammen, die Verletzung ist lebensgefährlich, sein Streifenpartner überwältigt die Schülerin. Safia S. führt ein Gemüsemesser mit einer sechs Zentimeter langen Klinge und ein Steakmesser mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge mit sich.

1.2 Der Radikalisierungshintergrund der Attentäterin

Im Laufe der Gerichtsverhandlung ergibt sich das Bild, dass Safia S. von ihrer Mutter streng religiös erzogen wurde und Safia S. sehr häufig den deutschsprachigen Islamkreis besuchte – eine Gemeinde in Hannover, die der niedersächsische Verfassungsschutz als extremistisch, salafistisch – einstuft. Bereits als Kind ist Safia in der salafistischen Szene durchaus bekannt, im Alter von sieben Jahren trifft sie – öffentlich dokumentiert – den bekannten Salafisten-Prediger Pierre Vogel. Verschiedene Youtube-Videos – zwischen 2008 und 2010 aufgenommen – zeigen die beiden in Moscheen, wie Safia, bereits in sehr jungen Jahren Kopftuch tragend, Koran-Verse rezitiert. Begeistert spricht Piere Vogel „das ist der Nachwuchs in Deutschland“; weiter kommentiert er ihr Auftreten mit den Worten „Ich hab voll die Gänsehaut bekommen.“5 Eines dieser Youtube Videos lautet „Pierre Vogel – Neuigkeiten von Safia aus Hannover“. Der Salafisten-Prediger Pierre Vogel fragt darin die neun Jahre alte Safia „Ziehst du jetzt schon die Hidschab an? Cool. Ich würde sagen, du machst heute den Vortrag, ich fahre wieder nach Hause.“ Dann schwärmt Vogel davon, dass es ja schon zwei Jahre alte Mädchen gebe, die sich vor dem Spiegel etwas über den Kopf werfen und dann stolz durch die Wohnung liefen. Er finde das toll, das Problem sei oft, sagt er, dass sich viele Mädchen bis zu ihrem 14. Lebensjahr westlich kleiden würden und stolz darauf wären, wenn sie mit offenen Haaren „tanzen wie Madonna“. „Aber hier haben wir das Gegenbeispiel“, sagt Vogel und zeigt auf Safia. „Und das ist die neue muslimische Generation“.6
In einem ersten Verhör nach ihrem Anschlag auf den jungen Bundespolizisten erklärt Safia S. – nach Beratung durch ihren Rechtsanwalt – dass die „Tat spontan“ gewesen sei. Die Auswertung der Protokolle ihrer Chats und E-Mails durch die Bundesanwaltschaft allerdings kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. So schreibt Safia in einem Chat vom 14.11.2015, ein Tag nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und über 350 Menschen (schwer) verletzt werden „Gestern war mein Lieblingstag, Allah segne unsere Löwen, die gestern in Paris im Einsatz waren.“7
Die Bundesanwaltschaft wertet ihren Chatbeitrag als Sympathiebekundung für den „Islamischen Staat“ und damit für den internationalen islamistischen Terrorismus. Nur zwei Monate später, Ende Januar 2016, reist Safia S., eine 15 jährige in Hannover aufgewachsene Schülerin in die Türkei. In Chats deutet sie an, dass sie nach Syrien zum IS ausreisen möchte. Doch ihre Mutter reist ihr nach und holt sie zurück nach Hannover. In Chats mit einem Freund in Norddeutschland, Mohammed Hassan K., berichtet Safia S. von ihrer „Planänderung“. Sie komme zurück ins „Ungläubigen-Gebiet“, weil man ihr gesagt habe, das hätte „größeren Nutzen“.8 Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Safia während des Aufenthalts in der Türkei von Mittelsmännern des IS mit einer „Märtyreroperation“ in Deutschland beauftragt wurde. Zurück in Deutschland bleibt Safia S. mit einigen Mitgliedern des IS über Chats im Kontakt, kurz vor ihrem Anschlag auf den Bundespolizisten am 26.2.2016 chattet sie mit „Leyla“, einem Mitglied des IS, bekommt von ihr erklärt, wie sie einen Polizeibeamten unter einem Vorwand in eine Ecke des Bahnhofs locken und zustechen, seine Pistole entwenden und schießen soll.9 „Ich werde die Ungläubigen überraschen, wenn du verstehst, was ich meine“, schrieb sie in einem Chat. Auch von einem Angriff auf Polizisten ist die Rede, sie wolle „an seinem Hals spielen“, heißt es.
Am 25. Februar 2016, einen Tag vor der Tat, soll Safia ihrem IS-Kontakt ein Bekennervideo geschickt haben. Die Bundesstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass Safia S. den Polizisten „als Repräsentanten der von ihr verhassten Bundesrepublik“ töten wollte.10
In der Gerichtsverhandlung fordert die Bundesanwaltschaft wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung sowie Unterstützung der islamistisch-terroristischen Organisation IS sechs Jahre Haft für die Attentäterin. Der Strafverteidiger von Safia S., Mutlu Günal fordert eine „milde Strafe“, nennt aber kein konkretes Strafmaß.
Das Oberlandesgericht Celle verurteilt Safia S. wegen versuchten Mordes und der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu sechs Jahren Haft, da sie die islamistisch-terroristische Organisation IS habe unterstützen wollen. Die Verbindung der Angeklagten zum IS war nach Einschätzung des Gerichts unter anderem durch Chats auf ihrem Mobiltelefon belegt.
Der Strafverteidiger von Safia S., Mutlu Günal, bezeichnete das Urteil als „zu hart“ und legte Revision ein. Seiner Ansicht nach „liegt das eigentliche Versagen bei der Polizei in Hannover. Wenn alle aufgepasst hätten, hätte die Tat verhindert werden können.“ Günal sah weder eine Tötungsabsicht noch die Unterstützung der Terrormiliz IS für erwiesen an und erklärt, dass sich Safia S. „lediglich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht“ habe. Nach der Urteilsverkündung erklärte er, er werde in Revision gehen.11 Einen mitangeklagten Freund von Safia S., den Deutsch-Syrer Hassan K., verurteilt das Gericht wegen Nichtanzeigens einer Straftat zu einer Jugendhaft von zwei Jahren und sechs Monaten, da der heute 20-Jährige wusste, dass Safia S. ein Attentat plante und den IS unterstützen wollte.

1.3 Analyse

Das Attentat der zum Tatzeitpunkt fünfzehn Jahre alten Salafistin Safia S. wird von den Sicherheitsbehörden als erstes von der terroristischen Organisation IS in Deutschland in Auftrag gegebene Attentat gewertet.12 Der Radikalisierungsprozess der Attentäterin begann – wie oben aufgeführt – in früher Kindheit.13 Sowohl der Chat-Verkehr mit ihrer Kontaktperson des IS – „Leyla“ – als auch die beiden mitgeführten Küchenmesser sind eindeutiges Indiz für eine Planung dieses Attentats und gegen eine etwaige „spontane Tat“, wie vom Strafverteidiger der Attentäterin im ersten Prozess behauptet. Safia S. ist aktuell der Prototyp weiblicher, junger Attentäter, die der deutschen Generation homegrown-Salafisten angehören: Im freiheitlichen, westlichen Deutschland aufgewachsen ließ sie sich von einer extremistischen Ideologie radikalisieren, die sämtliche demokratischen Grundsätze ablehnt und durch eine extremistische, religiös-politische Zielvorstellung ersetzt. Einerseits wird Safia S. als islamistische Einzeltäterin charakterisiert, andererseits wurde im Laufe des Prozesses durch ausgewertete Chat-Protokolle nachgewiesen, dass sie in einem engen Kontakt zu einem (womöglich weiblichen) Mitglied der terroristischen Organisation IS stand. Der Anschlag von Safia S. auf einen Bundespolizisten muss somit als hybride Form eines islamistischen Einzeltäters beschrieben werden.

2 Der islamistische Anschlag auf das Gebetshaus der Sikh-Gemeinde am 16.4.2016 in Essen

2.1 Die Taktik und die Mittel der salafistischen Akteure

Am 16.4.2016 verübten zwei minderjährige homegrown Salafisten als Haupttäter einen Sprengstoffanschlag auf das Gebetshaus der Sikh-Gemeinde Gurdwara Nanaskar in Essen. Drei Menschen wurden durch die Detonation verletzt, der Sikh-Prieser trug schwerste Verletzungen davon.14 Zum Tatzeitpunkt fand eine Hochzeit in dem Gebetshaus statt und mehr Angehörige der Hochzeitsgesellschaft waren noch im Gebäude des Gebetshauses, zahlreiche andere in einem nahe gelegenen Festsaal, daher gab es verhältnismäßig wenige Verletzte. Die Ermittlungskommission der Essener Polizei bezeichnete den Anschlag als „Terrorakt“ und versuchtes Tötungsdelikt. Erst ab dem 20.4.2016 konzentrierten sich die Ermittlungen auf zwei jugendliche Mitglieder aus der salafistischen Szene Nordrhein-Westfalens. Der Hauptverdächtige Yussuf T. aus Gelsenkirchen stellte sich am 20.4.2016 abends der Polizei und nannte den Namen seines Mittäters, Mohammed B., der am 21.4.2016 von einem Spezialeinsatzkommando in seinem Essener Elternhaus festgenommen wurde. Knappe zwei Monate nach dem Anschlag wurde ein weiterer jugendlicher Salafist im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Gebetshaus verhaftet, der an der Planung des Attentats beteiligt gewesen und in einer Chatgruppe den Anschlag verherrlicht haben soll. Der 17 Jahre alte türkischstämmige Deutsche soll seit April 2014 Teilnehmer am NRW-Präventionsprogramm „Wegweiser“ gegen gewaltbereiten Salafismus gewesen sein.15 Die drei jugendlichen Salafisten, die alle in Deutschland geboren wurden, kommen aus Gelsenkirchen, Essen und Schermbeck und sollen sich über soziale Netzwerke kennen gelernt und radikalisiert haben.

2.2 Der Radikalisierungshintergrund der Attentäter

Bei der Auswertung verschiedener Daten fand die Polizei Hinweise, wonach Yusuf T. mit dem „Islamischen Staat“ sympathisierte. In ihren polizeilichen Vernehmungen bestritten Yusuf T. und Mohamed B. jegliches religiöses Motiv, der Tempel sei ein „zufälliges Ziel gewesen, gaben sie an. Ihren Sprengsatz hätten sie aus „Spaß am Böllerbau“ hergestellt.16 Allerdings fanden Ermittler bald heraus, dass die drei Jugendlichen Teil eines Netzes junger Jihadisten waren. In einer Whatsapp-Gruppe namens „Anhänger des Islamischen Kalifats“ radikalisierten sich die drei Jugendlichen gemeinsam mit anderen „Glaubensbrüdern“ und ihre Überlegungen, „Ungläubige“ mit einem Sprengsatz zu töten, wurden immer konkreter. Laut Anklage sollen die drei Salafisten die Sikh-Gemeinde als Anschlagsziel ausgewählt haben, weil sie mit der Behandlung von Muslimen durch Sikhs in Nordindien nicht einverstanden waren und ihnen Sikhs als „Ungläubige“ galten. Yusuf T. soll im Rahmen der Koranverteilungsaktion „Lies! Die Wahre Religion“ (DWR) an Dawa-Aktionen beteiligt gewesen sein.
Speziell der Fall Yusuf T. verdeutlicht die Problematik wie schnell es salafistischen „Predigern“ immer wieder gelingt, Jugendliche zu radikalisieren. In ihrem Anfang Oktober 2016 – sechs Monate nach dem Anschlag – veröffentlichten Buch „Mein Sohn, der Salafist“ beschreibt Neriman Y., wie ihr Sohn ihr und ihrer Familie entglitt. So habe er sich mit 14 für den Salafisten Pierre Vogel zu interessieren begonnen und nahm bald an der Koran-Verteil-Aktion „Lies! Die Wahre Religion“ teil, so dass die bis zu ihrem Verbot 2016 fünf Jahre lang aktive salafistische Organisation als eine Art „Durchlauferhitzer“ für Yusuf bezeichnet werden kann. Nach augenblicklichem Stand soll aber auch Hassan C., ein Duisburger Reisebüro-Besitzer und selbsternannter Imam, eine wichtige Funktion für die Radikalisierung der drei Täter gehabt haben. Hassan C. wurde Ende 2016 gemeinsam mit anderen mutmaßlichen Mitgliedern eines islamistischen Werber- und Radikalisierer-Netzes um den Prediger Abu Walaa festgenommen.17
Die Radikalisierungsverläufe der drei islamistischen Täter weisen viele Parallelen auf. Alle drei wurden mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren, alle drei wurden früh in ihrer Schulzeit verhaltensauffällig. Bei Yusuf T. wurde ADHS diagnostiziert, seine Lehrer und Sozialarbeiter beschrieben ihn schon in der Unter- und Mittelstufe seiner Schulzeit als hochaggressiv. Als er einer jüdischen Mitschülerin androhte, ihr das Genick zu brechen, wurde Yusuf, der sich schon damals offen zu islamistisch-terroristischen Organisationen bekannte, der Schule verwiesen. Vergeblich baten Yusufs Eltern mehrere Moscheegemeinden um Hilfe.18 Die letzte Hoffnung der Eltern von Yusuf war schließlich das vom nordrhein-westfälischen Innenministerium neu eingerichtete Salafismus-Präventionsprogramm „Wegweiser“. Daran nahm der Junge fortan teil – und radikalisierte sich dennoch immer weiter. Im Mai 2015 heiratete er in einer Salafisten-Moschee die damals ebenfalls erst 15 Jahre alte Serap. Vier Tage vor dem Bombenanschlag nahm Yusuf noch einmal an einer „Wegweiser“-Sitzung teil.
Sehr ähnlich verlief der Weg von Tolga I. zum islamistischen Terrorismus: Seine Mutter warnte die die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden ausdrücklich vor ihrem Sohn, da ihr Aufzeichnungen in die Hände gefallen waren, in denen ihr Sohn ankündigte „Ungläubige“ töten zu wollen. Aufgrund dieser Aufzeichnungen war er seit Januar vom Polizeipräsidium Duisburg als „Prüffall Islamismus“ geführt worden.19

2.3 Analyse

Das Landgericht Essen verurteilte die beiden Haupttäter zu sieben bzw. sechs Jahren Haft wegen Mordversuchs, der dritte Täter, Tolga, wurde wegen Verabredung zum Mord zu sechs Jahren Haft verurteilt. Die Urteile wurden nach Jugendstrafrecht gefällt. Die Attentäter scheinen repräsentative Radikalisierungsprozesse des salafistischen Milieus durchlaufen zu haben. Sowohl die mittlerweile verbotene Koran-Verteil-Aktion „Lies! Die Wahre Religion“ als auch Hassan C., ein Duisburger Reisebüro-Besitzer und selbsternannter Imam, sollen eine wichtige Funktion für die Radikalisierung der drei Täter gehabt haben. Wie im Fall von Safia S. waren die drei Täter noch sehr jung, so dass eine Tendenz zu einem niedrigeren Durchschnittsalter bei homegrown-Salafisten nicht nur diesen beiden Fällen abgelesen werden kann.

3 Der islamistische Anschlag am 18.7.2016 in einer Regionalbahn bei Würzburg

3.1 Die Taktik und die Mittel des salafistischen Akteurs

Bei einem islamistischen Anschlag in einer Regionalbahn bei Würzburg am 18.7.2016 verletzte ein in Deutschland als minderjährig und unbegleitet registrierter Flüchtling fünf Menschen mit einem Beil und einem Messer, vier davon schwer.20
Der islamistische Attentäter verließ das Haus seiner deutschen Pflegeeltern am 18.7.2016 gegen 20 Uhr, bestieg gegen 21 Uhr am Bahnhof in Ochsenfurt die auf der Bahnstrecke Treuchtlingen–Würzburg verkehrende Regionalbahn 58130 in Fahrtrichtung Würzburg und ging – nach Zeugenaussagen – zunächst auf die Toilette. Etwa 15 Minuten später griff er Mitreisende mit einem Beil und einem Messer an. Nach Aussagen der Staatsanwaltschaft Bamberg war auf einem aufgezeichneten Handy-Notruf sein Ausruf „Allahu akbar“ deutlich zu verstehen. Nachdem der Zug vor Würzburg durch eine Notbremsung zum Stehen kam, floh der Täter aus dem Zug. Anschließend schlug er einer unbeteiligten Passantin, die mit ihrem Hund spazieren ging, zwei Mal mit dem Beil ins Gesicht. Das Spezialeinsatzkommando Südbayern aus München, das sich wegen eines anderen Einsatzes in der Nähe aufhielt, spürte den Attentäter in etwa 500 Meter Entfernung vom Zug auf. Als der Attentäter Polizeibeamte mit seinen Waffen angriff, trafen ihn zwei tödliche Schüsse. Renate Künast, Bundestagsabgeordnete und ehemalige Ministerin der Partei die Grünen kritisierte kurz danach die Polizei über Twitter und stellte die Notwehrreaktion der Polizisten in Frage.21 Der zuständige Oberstaatsanwalt kam in den Ermittlungen allerdings zur Auffassung, dass die beiden Polizisten in Notwehr gehandelt haben, da der Attentäter mit erhobener Axt sehr schnell innerhalb weniger Armlängen aggressiv auf die Polizisten zugegangen war, so dass die Schussabgabe die einzige Möglichkeit zur Abwehr des Angriffes war.

3.2 Der Radikalisierungshintergrund der Attentäterin

Der islamistische Attentäter kam Ende Juni 2015 als Flüchtling ohne Dokumente über Ungarn und Österreich nach Deutschland, wobei seine Fingerabdrücke in Ungarn im Eurodac-System erfasst wurden.22 Die Bundespolizei nahm die Personalien des Mannes am 29.6.2015 auf und in Passau erfolgte eine Anzeige wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise ohne Pass. Ein halbes Jahr später, am 16.12.2015 Dezember 2015 stellte er unter dem paschtunischen Namen Riaz Khan Ahmadzai einen Asylantrag als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan. Die gesetzlich vorgesehene persönliche Anhörung inklusive Anfertigung von Fotos und von Fingerabdrücken für den Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht vorgenommen, im März 2016 wurde ihm die Aufenthaltsgestattung erteilt und er wurde von einer Pflegefamilien in der Nähe von Würzburg aufgenommen, wo er ein Praktikum in einer Bäckerei mit der Aussicht auf eine Lehrstelle begann. Die Ermittler bezweifeln allerdings den Namen, das Alter und die Herkunft des Täters, so dass Pakistan als Herkunftsland als realistischer erscheine. Unter anderem wurde in der Wohnung des Attentäters ein pakistanisches Dokument gefunden. Zudem gibt es ein Bekennervideo das mehrere Indizien enthält, dass der Attentäter pakistanischer Herkunft ist. Des Weiteren fand die Polizei in Daleels Wohnung ein selbst gezeichnetes Banner der islamistisch-terroristischen Organisation IS und einen Abschiedsbrief an seinen Vater in paschtunischer Sprache. Daran schrieb der Attentäter u.a. „Und jetzt bete für mich, dass ich mich an diesen Ungläubigen rächen kann, und bete für mich, dass ich in den Himmel komme.“23
In seinem veröffentlichten Bekennervideo spricht der Attentäter Pashtu, das sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan gesprochen wird, wobei Pashtu ein sowohl für Afghanistan als auch für Pakistan spezifisches Vokabular hat. Im von den Sicherheitsbehörden als authentisch identifizierten Bekennervideo benutzt der Attentäter allerdings eindeutig die „pakistanische“ Ausprägung von Pashtu für Begriffe wie „Selbstmord“, „Regierungen“, „Militär“, „Körper“ und „Muslime“.24In diesem Bekennervideo wird der Attentäter allerdings nicht Riaz Khan Ahmadzai sondern Mohammed Riyad genannt. Mit einem Messer in der Hand droht er im Video: „Ich bin ein Soldat des Islamischen Staates und beginne eine heilige Operation in Deutschland. […] Die Zeiten sind vorbei, in denen ihr in unsere Länder gekommen seid, unsere Frauen und Kinder getötet habt und euch keine Fragen gestellt wurden. So Gott will, werdet ihr in jeder Straße, in jedem Dorf, in jeder Stadt und auf jedem Flughafen angegriffen. Ihr könnt sehen, dass ich in eurem Land gelebt habe und in eurem Haus. So Gott will, habe ich diesen Plan in eurem eigenen Haus gemacht. Und so Gott will, werde ich euch in eurem eigenen Haus abschlachten.“25 Die Echtheit dieses Bekenner-Videos wurde vom bayerischen Innenministerium bestätigt.26

3.3 Analyse

Dieser Fall verdeutlicht die Problematik der unbekannten, falschen Identität vieler Tausender Flüchtlinge der Jahre 2015 und 2016, so dass eine bewusst verschleierte Herkunft aus Pakistan etwa mit einer angeblich afghanischen Staatsbürgerschaft kombiniert wurde, um damit die Anerkennung als Flüchtling quasi garantiert zu haben, was das Bundesministerium des Innern auch im Falle sogenannter „falscher Syrer“ berichtete. Das vom bayerischen Innenministerium als echt bewertete Bekennervideo des islamistischen Attentäters, dessen Inhalt an Drastik kaum zu überbieten ist, offenbart ein Maß an Hass auf die „Ungläubigen“, das große Auswirkungen auf die Motivation zur und den Grad der Gewalt hat. Ohne das zufälligerweise in der Nähe des Tatortes gewesene SEK der bayerischen Landespolizei wäre es womöglich zu weiteren Verletzten und/oder Toten gekommen.

4 Der islamistische Anschlag am 24.7.2016 in Ansbach

4.1 Die Taktik und die Mittel des salafistischen Akteurs

Am 24.7.2016 zündete der 27 Jahre alte syrische Flüchtling Mohammed Daleel vor einem Weinlokal in der Altstadt von Ansbach einen Sprengsatz, verletzte damit 15 Personen und kam selbst ums Leben. Daleel hatte zuvor zwei Jahre als Flüchtling in Deutschland gelebt und in den Wochen vor dem Anschlag Verbindungen zur islamistisch-terroristischen Organisation „Islamischer Staat“.27
Zum Abschluss des jährlich in Ansbach stattfindenden Musikfestivals versuchte der Attentäter auf den Festivalplatz an der Residenz Ansbach zu gelangen. In Reaktion auf den Amoklauf in München, zwei Tage zuvor, waren die Einlasskontrollen verstärkt worden. An dem von ihm gewählten Zugang nahe dem Weinlokal Eugens Weinstube wurde er abgewiesen, weil er keine Eintrittskarte vorwies. An einer zweiten Kontrolle durchsuchten Ordnungskräfte die Taschen aller Besucher, so dass er diesen Eingang ebenfalls nicht wählen konnte. Nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen stand der Attentäter während des gesamten Tathergangs in einem Chatkontakt mit „einer Person aus dem Nahen Osten“.
Bekannt sind folgende Abschnitte des unverschlüsselt geführten Chats (sinngemäß und wörtlich): Daleel: „Sicherheitsleute stehen vor dem Eingang. Ich komme ‚nicht so einfach‘ rein.“ Kontaktperson: „Such‘ dir ein ‚Schlupfloch‘.“ Daleel: „Ich finde keins.“ Kontaktperson: „Dann brich einfach durch.“ Kontaktperson weiter: „‚Mach Foto von Sprengstoff‘“.28 Daraufhin betrat der Attentäter kurz die Weinstube, in deren Außenbereich, in dem sich zum Tatzeitpunkt etwa 20 Gäste aufhielten, explodierte – womöglich unbeabsichtigt – um 22:12 Uhr sein selbstgebauter Sprengsatz. Nach derzeitigem Ermittlungsstand war der eigentliche Tatplan, den Rucksack in einer Menschenansammlung des Festivals abzustellen und aus der Ferne zu zünden. Sein islamistisch-terroristischer Chatkontakt soll ihn aufgefordert haben, die Detonation und die Wirkung auf die Zivilbevölkerung zu filmen und an den IS zu schicken.


4.2 Der Radikalisierungshintergrund des Attentäters

Der Attentäter Mohammed Daleel war im Juli 2013 illegal über die Türkei nach Bulgarien eingereist, wo er Asyl beantragt hatte und subsidiären Schutz erhielt.29 Mitte 2014 verließ er Bulgarien und beantragte Asyl in Österreich, dann jedoch weiterreiste nach Deutschland. Der hier von ihm gestellte Asylantrag wurde wegen der beiden bereits in Bulgarien und Österreich gestellten Anträge abgelehnt. Im Jahr 2015 sollte er zurück nach Bulgarien abgeschoben werden. Harald Weinberg, Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke, versuchte im Januar 2015 ein Bleiberecht für Daleel zu erwirken. Am 13.7.2016 erhielt Daleel eine erneute Aufforderung, Deutschland innerhalb von 30 Tagen – in Richtung Bulgarien – zu verlassen. Nach dem Anschlag wurden in der Wohnung des Täters Materialien gefunden, die sich zum Bau von Bomben eigneten.
Die islamistisch-terroristische Organisation IS erklärte am 27.7.2017, dass Daleel „einer ihrer Soldaten“ gewesen sei. Die Bundesanwaltschaft ermittelte ab dem 25.7.2017 u.a. wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Nach Angaben deutscher Ermittlungsbehörden hatte Daleel einige Wochen vor dem Anschlag Kontakt zu einem Mitglied des IS, der eine saudi-arabische Telefonnummer für seinen Chat mit Daleel nutzte, sich aber nicht in Saudi-Arabien, sondern auf dem vom IS kontrollierten Territorium aufhielt. Diese Angaben wurden von der saudi-arabischen Botschaft in Deutschland bestätigt.30

4.3 Analyse

Der islamistisch-terroristische Anschlag des syrischen Flüchtlings Mohammed Daleel am 24.7.2016 verdeutlicht die Problematik islamistischer Einzeltäter. Die Frage nach der hierarchischen Verbindung des Attentäters zur islamistisch-terroristischen Organisation ist nach aktuellem Stand der Ermittlungen noch nicht aufgeklärt, dass der Attentäter während des gesamten Tathergangs jedoch in einem Chatkontakt zu einem Mitglied des IS stand, ist mittlerweile sicher.31 Nach aktuellen Angaben des bayrischen Innenministers wurde der islamistische Attentäter vor und während des Anschlags in einem Chat direkt und unmittelbar beeinflusst.32

5 Fazit

5.1 Die Taktik der salafistischen Akteure

Ein Vergleich der islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate der Jahre 2015 und 2016 in Europa ergibt erhebliche qualitative Unterschiede in Bezug auf die operative Planung und Durchführung, das know how der Attentäter und deren logistischen Mittel. Multiple Szenarien, Großanschläge von Hit-Teams, die aus mehreren Zellen von Attentätern – womöglich mit para-militärischer Ausbildung und/oder Kampferfahrung – bestehen, Sprengstoff, automatische Waffen etc. (u.a. am 13.11.2015 in Paris und am 22.3.2016 in Brüssel) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer zu erwartenden Schädigungswirkung stark von Anschlägen oder Attentaten islamistischer Einzeltäter, die beispielsweise eine Axt oder ein Messer nutzen (am 26.2.2016 in Hannover und am 18.7.2016 in Würzburg).
Entsprechend fallen verschiedene weltweit und innerhalb Europas geplante und durchgeführte islamistische Anschläge und Attentate der Jahre 2015 und 2016 unter die Kategorie von Low Level Terrorismus. Low Level Terrorismus wird hier wie folgt definiert: Terroristische Anschläge oder Attentate, die sich einfachster taktischer Prinzipien und Wirkmittel wie leicht zu beschaffende Waffen oder Alltagsgegenstände bedienen.
In Bezug auf die Frage danach, ob islamistische Einzeltäter „unabhängig“, autark, autonom handeln, oder ob diese doch organisatorisch und/oder logistisch gesteuert bzw. geleitet werden, betont aktuelle englischsprachige Forschung die Wichtigkeit festzustellen, dass der Unterschied von autark agierenden Einzeltätern zu „losen Mitgliedern“ einer Zelle, einer Gruppe bzw. einer Organisation fließend sein kann und von einem Grad der ideologischen und operativen Unabhängigkeit bestimmt wird.33
Eine sowohl mit wissenschaftlichen Kriterien abgrenzbare als auch für den Gebrauch von deutschen Sicherheitsbehörden geeignete Definition von islamistischen Einzeltätern (lone wolves) sollte daher folgende Definitionsmerkmale enthalten: Einzeltäter operieren organisatorisch und logistisch unabhängig von einer Organisation, einem Netzwerk oder einer Gruppe, sind allerdings von deren Ideologie bzw. Idee(n) inspiriert und handeln somit im Sinne der Strategie der terroristischen Organisation.34
Die aktuellen Fälle der islamistisch-terroristischen Attentäter Anis Amri (Berlin), Safia S. (Hannover) und dem Attentäter in einer Regionalbahn bei Würzburg, dessen wirklicher Name und Nationalität noch nicht ermittelt sind – ausgehend vom bisher verfügbaren Stand der Informationen – verdeutlichen diese offensichtlich bestehende Grauzone zwischen autonom operierenden islamistisch-terroristischen Einzeltätern und ihren Verbindungen zum islamistisch-salafistischen Milieu und/ oder zu internationalen Jihadisten (foreign fighters) des „Islamischen Staates“.

Mögliche Anschlagsziele:


  • Flughäfen und Bahnhöfe, öffentliche Verkehrsmittel im allgemeinen
  • Große Menschenmengen im Rahmen von Fußballspielen, Konzerten, Weihnachtsmärkten, Großereignissen (events)
  • Öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Kirchen, Synagogen, Schulen, Universitäten)
  • Kritische Infrastrukturen mit hoher Bedeutung für die Zivilbevölkerung (Krankenhäuser, Stromversorgung, Wasser etc.)
  • Autobahnen (Autobahnbrücken, Steinwürfe etc.)


Die Taktik von low level Anschlägen folgt grundsätzlich den strategischen Prinzipien von Terrorismus, indem sie das Ziel verfolgt, Angst und Schrecken in der Bevölkerung dadurch zu verbreiten, dass zu jeder Zeit (vornehmlich zu Zeiten hohen Personenaufkommens) an jedem Ort (besonders stark frequentierte Orte bieten sich, aber auch eine beinahe leere Kirche wie beim Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray) jeder (jung, alt, männlich, weiblich, sogar Kinder) Opfer eines solchen Anschlags sein könnte.


5.2 Die Mittel


Mögliche Modi Operandi:


  • Sprengstoffanschlag (Selbstlaborate auf Basis von Aluminiumpulver, Kaliumpermanganat etc.)
  • Selbstmordattentäter
  • Anschlag mit einem Fahrzeug
  • Sprengfallen
  • Geiselnahme als ein Teil des Szenarios


Weitere Modi Operandi und Szenarien können von AMOK-Lagen abgeleitet werden: Aus der Deckung heraus schießende Heckenschützen, Sprengfallen und versetzte Zeitzünder in öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Gottesdienst, Schulunterricht, Vorlesungen an Universitäten, politische Veranstaltungen etc).



Wirkmittel:

  • Sprengstoff (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung, USBV oder industrieller Sprengstoff), USBV in Koffern, Rucksäcken etc.
  • Sprengstoffwesten/ -gürtel
  • Selbstlaborate (Aluminiumpulver, Kaliumpermanganat etc.)
  • USBV mit Nägeln, Schrauben, Muttern, Splittern versetzt, um einen möglichst hohen und drastischen Personenschaden zu erzielen
  • Gasflaschen
  • Vollautomatische und halbautomatische Schusswaffen, Gewehre, Pistolen
  • Handgranaten
  • Hieb- und Stichwaffen
  • Äxte, Schwerter
  • Messer
  • Fahrzeuge, gehärtete („gepanzerte“) Fahrzeuge
  • Steine, schwere Gegenstände (von Brücken, aus Gebäuden werfen etc.)
  • Gift (z.B. Rattengift in nicht abgepackte Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Fleisch mischen)
  • Giftstoffe in geschlossene Räume in Lüftungen und Klimaanlagen einbringen
  • Reizgas


Zusammengefasst: Alle vorstellbaren Mittel und Gegenstände, die kinetische, vergiftende oder anderweitig schädigende Wirkung auf Menschen haben (können).35


5.3 Identitätsdokumente als Waffe

Die Analyse des Zeitraums zwischen dem Attentat auf Charlie Hebdo am 7.1.2015 und dem Attentat am 13.11.2015 in Paris offenbarte, dass die europäischen Sicherheitsbehörden aufgrund der hohen Zahl der zu verfolgenden Spuren und zu überwachenden Jihad-Rückkehrer (Gefährder), organisatorisch, technologisch und personell überfordert waren.36 Als Konsequenz der islamistischen Anschlagsserie am 13.11.2015 in Paris wurden in Frankreich Gesetze in bisher unbekanntem Maß im Bereich der Überwachung, Sammlung und Auswertung von personenbezogenen Daten (Telefon, Internet, Ausweisdaten) verabschiedet, um mögliche terroristische Attentäter leichter zu detektieren.37 Die französischen Streitkräfte hatten im gleichen Zeitraum in Mali identische Schwierigkeiten damit, zwischen feindlichen Kombattanten, Terroristen, Rebellen und Schmugglern zu unterscheiden und den „unsichtbaren Feind“ zu bekämpfen.38 Individuen, nichtstaatliche Akteure, operierend in Netzwerkstrukturen, lose verstreuten Zellen und als Einzeltäter, nutzen ihre Anonymität als taktischen Vorteil gegenüber staatlichen Akteuren. Die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa zeigt die Bedeutung von persönlichen Daten in offiziellen Dokumenten, so reisten teilweise bis zu 77% der internationalen Flüchtlinge ohne Pass oder gültige Ausweispapiere nach Deutschland ein.39 Nach Angaben einer Studie des US Center for Global Development verfügen ca. 40% der Kinder der sog. zweiten und dritten Welt über keinerlei offiziellen Identitätsnachweis, weder Geburtsurkunde, noch Ausweisdokument.40Als weiteres Beispiel für die vitale Bedeutung eines Nachweises von persönlicher Identität, ist die von Großbritannien – bereits vor dem Brexit – eingeführte biometrische Aufenthaltserlaubnis (Biometric Residence Permit)41.

5.4 Ausblick

Die oben dargestellte Bedrohung durch den low-level Terrorismus islamistischer Einzeltäter stellt europäische Sicherheitsbehörden zunächst einmal vor rein quantitative Herausforderungen und Probleme. So geht das französische Innenministerium aktuellen von 15.000 islamistischen Gefährdern aus.42 Bereits im November 2015 – ein halbes Jahr vor den islamistischen Anschlägen in Würzburg und Ansbach und 13 Monate vor dem Anschlag in Berlin – räumte der Präsident des Bundeskrimimalamtes, Holger Münch, ein, dass die deutschen Sicherheitsbehörden „angesichts der Zahl der Gefährder priorisieren“ müssen.43 Zur Zeit dieser Aussage des BKA-Präsidenten ging das BKA noch von 400 islamistischen Gefährdern in Deutschland aus, welche die Kapazitäten der deutschen Sicherheitsbehörden im Bereich Observation bereits überlasteten.44 Im April 2016, fünf Monate nach der Aussage des BKA-Präsidenten Münch, sprach der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Hans-Georg Maaßen, öffentlich von 1100 Personen mit „islamistisch-terroristischem Potenzial“.45 Nach Angaben des Bundesministerium des Innern aus dem Frühjahr 2017 gehören mittlerweile „in Deutschland insgesamt 1600 Personen zur islamistisch-terroristischen Szene“. 46Auf der operativen Ebene der islamistisch-terroristischen Bedrohung zeigt der Fall des islamistischen Attentäterin Safia S. auf, welches Bedrohungspotential bereits von einer 15 jährigen Schülerin ausgehen kann, die ein Küchenmesser für einen Angriff auf Polizisten nutzt.
Das Bedrohungspotenzial für Europa durch Salafismus und Jihadismus hat ein historisches Niveau erreicht. Europäische Jihad-Rückkehrer, die durch religiös-ideologische Erklärungsmuster von ihrer persönlichen, demokratischen Verantwortung entbunden, über Monate archaisches Foltern, Verstümmeln und Töten beobachtet und/oder selbst angewandt haben, sind zurück in Europa bzw. werden in den nächsten Monaten zurückkehren. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen korrelierend mit der Zahl der Gefechtshandlungen bzw. verübten Greueltaten diese oder ähnliche Gewalttaten wiederholen werden, ist hoch. Jihadisten, die entrückt von demokratischen Fundamenten, wie Menschenwürde und Menschenrechten, agieren und ein nihilistisches Weltbild mit dem jihadistischen Freund-Feind-Schema des „Ungläubigen“ als Feind kombinieren, stellen eine asymmetrische Bedrohung für das Post-Zweiter-Weltkriegs-Europa dar, die historische Ausmaße hat.
Angesichts der aktuellen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus müssen die Sicherheitsbehörden der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in folgenden Bereichen schnellstmöglich handeln:
Abkehr von postheroischen Verwaltungsmentalitäten
Ressortübergreifende Bündelung von Ressourcen und Strukturen
Einschneidende Modernisierung der Führungsstrukturen, hin zu einem Zustand kurzer Entscheidungs- und Beschaffungswege, der Ausbildung und Ausrüstung
Änderung der Sicherheitsstrukturen, die immer noch dem Sicherheitsparadigma der Unterscheidung von innerer und äußerer Sicherheit des 20. Jahrhunderts folgen.47

Terrorismus muss und kann abgewehrt und bekämpft werden, er kann gesamtgesellschaftlich besiegt werden, wozu allerdings eine Interaktion und Kooperation zahlreicher staatlicher und nichtstaatlicher Akteure sowie eine Änderung der Sicherheitsstrukturen nötig sind.

Anmerkungen

  1. Dr. Stefan Goertz ist Dozent im Fachbereich Bundespolizei der Hochschule des Bundes.
  2. Archetti, C. (2015): Terrorism, Communication and New Media: Explaining Radicalization in the Digital Age. In: Perspectives on Terrorism, 9/1, Februar 2015, S. 49-59; Borum, R. (2011): Radicalization into violent extremism II: A review of conceptual models and empirical research, in: Journal of Strategic Security, 4/4, 2011, S. 37-62; Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): Bedeutung der Migrationsbewegungen nach Deutschland aus der Sicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, 16.2.2016; Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): BfV-Newsletter Nr. 3/2016 - Thema 1; Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): BfV-Schlaglicht, 12/2016; Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): Verfassungsschutzbericht 2015, 2016; Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): BfV-Schlaglicht, 8/2016; Bundeskriminalamt/ Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Wiesbaden/Köln; Nesser, P./Stenersen, A. (2014): The Modus Operandi of Jihadi Terrorists in Europe, in: Perspectives on Terrorism, 8/6, Dezember 2014, S, 2-24; Sageman, M. (2017): Misunderstanding Terrorism. Philadelphia: University of Pennsylvania Press; Sageman, M. (2004): Understanding terror networks. Philadelphia: University of Pennsylvania Press; Seidensticker, T. (2015): Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen.
  3. Aus Platzgründen kann hier nicht der islamistische Anschlag von Anis Amri am 19.12.2016 in Berlin untersucht werden.
  4. Im Folgenden vgl. Goertz, S. (2017): Islamistischer Terrorismus, S. 117ff.
  5. www.n-tv.de/politik/Stach-Safia-im-Auftrag-des-IS-zu-article19589352.html; 25.2.2017.
  6. www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/angriff-auf-polizist-wie-wurde-aus-safia-s-eine-islamistin-14489730-p2.html; 2.2.2017.
  7. www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Die-Geschichte-der-Safia-S,safias102.html; 18.11.2017.
  8. Ebd.
  9. Ebd.
  10. www.n-tv.de/politik/Stach-Safia-im-Auftrag-des-IS-zu-article19589352.html; 25.1.2017.
  11. www.spiegel.de/panorama/justiz/celle-safia-s-wegen-messerangriffs-in-hannover-zu-sechs-jahren-haft-verurteilt-a-1131784.html; 26.1.2017.
  12. www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Haette-Safia-S-aufgehalten-werden-koennen,safia114.html; 7.2.2017.
  13. Im Folgenden vgl. Goertz 2017, S. 120ff.
  14. Im Folgenden vgl. Goertz 2017, S. 121ff.
  15. www.spiegel.de/panorama/justiz/anschlag-auf-sikh-tempel-in-essen-17-jaehriger-verhaftet-a-1096545.html; 8.1.2017.
  16. www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/prozess-beginn-um-terror-anschlag-auf-sikh-tempel-in-essen-14562221.html; 7.1.2017.
  17. Ebd.
  18. www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/prozess-beginn-um-terror-anschlag-auf-sikh-tempel-in-essen-14562221.html; 7.1.2017.
  19. Ebd.
  20. Folgender Absatz vgl. Goertz 2017, S. 126ff.
  21. www.faz.net/aktuell/politik/inland/renate-kuenast-tweet-ueber-wuerzburg-taeter-empoert-das-netz-14347242.html; 19.7.2017.
  22. Folgender Absatz vgl. Goertz 2017, S. 127ff.
  23. www.spiegel.de/politik/deutschland/attentaeter-von-wuerzburg-ein-jahr-fluechtling-ein-tag-islamist-a-1103777.html; 19.7.2016.
  24. Ebd.
  25. www.spiegel.de/video/bekenner-video-von-wuerzburg-wird-analysiert-video-1691300.html; 21.7.2016.
  26. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-08/wuerzburg-anschlag-attentat-asylantrag-unentdeckt-computerpanne; 14.1.2017.
  27. Folgender Absatz vgl. Goertz 2017, S. 129ff.
  28. Nürnberger Nachrichten, 29.7.2016, S. 2 "Mach Foto von Sprengstoff".
  29. Im folgenden vgl. Goertz 2017, S. 130ff.
  30. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wuerzburg-und-ansbach-attentaeter-hatten-seit-einigen-wochen-kontakt-zum-is-14377783.html; 8.2.2017.
  31. www.faz.net/aktuell/politik/inland/ansbach-attentaeter-von-unbekannter-person-beeinflusst-14359771.html; 27.7.2016.
  32. Ebd.
  33. Federal Bureau of Investigation (2011): Perspective Radicalization of Islamist Terrorists in the Western World, leb.fbi.gov/2011/september/perspective-radicalization-of-islamist-terrorists-in-the-western-world (7.2.2017).
  34. Behrens, C./Goertz, S. (2016): Radikalisierungsprozesse von islamistischen Einzeltätern und die aktuelle Analyse durch die deutschen Sicherheitsbehörden. In: Kriminalistik 11/2016, S. 687.
  35. Goertz 2017, S. 90-92.
  36. Voelz, G. (2015): The Rise of iWar: Identity, Information, and the Individualization of Modern Warfare. Carlisle Barracks; Strategic Studies Institute.
  37. Rubin, A. (2016): Lawmakers in France move to vastly expand surveillance, in: The New York Times, 5.6.2016; www.nytimes.com/2016/05/06/world/europe/french-legislators-approve-sweeping-intelligence-bill.html; 1.12.2016.
  38. www.defensenews.com/story/defense/2015/05/30/french-soldiers-in-mali-stalked-by-invisible-enemy/28212861/; 11.12.2016.
  39. www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskrise-77-prozent-der-migranten-im-januar-ohne-ausweispapiere-14087731.html; abgerufen am 11.12.2016.
  40. Gelb, A./Clark, J. (2013): Identification for Development: The Biometrics Revolution, Washington D.C.: Center for Global Development, S. 7.
  41. www.gov.uk/government/publications/biometric-residence-permits-overseas-applicant-and-sponsor-information; abgerufen am 13.12.2016.
  42. www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/festnahme-eines-15-jaehrigen-terrorverdaechtigen-in-paris-14433769.html; 6.2.2017.
  43. www.welt.de/politik/deutschland/article149133020/Die-Ueberwachung-von-Gefaehrdern-hat-grosse-Luecken.html; 6.1.2017.
  44. Ebd.
  45. www.n-tv.de/politik/Verfassungsschutz-Haben-IS-unterschaetzt-article17429121.html; 7.2.2017.
  46. www.welt.de/politik/deutschland/article162519594/Zahl-islamistischer-Gefaehrder-in-Deutschland-steigt-an.html; 20.7.2017.
  47. Goertz 2017, S. 173.