Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§ 212 StGB – Totschlag; hier: Bedingter Tötungsvorsatz bei Tritten gegen den Kopf. §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Gemeinschaftliche Begehung. § 225 Abs. 1 StGB – Misshandlung von Schutzbefohlenen; hier: „Drill instructor“. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 212 StGB – Totschlag; hier: Bedingter Tötungsvorsatz bei Tritten gegen den Kopf. Dem Angeklagte (A) missfiel, dass der spätere Geschädigte mit seiner älteren Schwester tanzte. Bei einer anschließenden „Aussprache“ außerhalb der Lokalität schlug der körperlich überlegene A, Inhaber des schwarzen Gürtels im Taekwondo, den Geschädigten um. Sodann schlug und trat er mit seinen Turnschuhen, aus Verärgerung über dessen Widerworte, gegen den Kopf- und den Gesichtsbereich des Geschädigten ein, um sich abzureagieren, nicht aber, um diesen zu töten. Hierbei führte er, ohne Einsatz von Kampftechniken, drei stampfende Tritte von oben nach unten auf den Bereich des linken Ohres und des linken Hinterkopfes des Geschädigten aus. Nach den Tritten ließ der A von dem Bewusstlosen ab, kehrte in den Club zurück und teilte dort seinen Bekannten mit, dass er den Geschädigten zusammengeschlagen habe, wobei er die Frage stellte: „Was hättest du gemacht, wenn einer mit deiner Schwester tanzt?“.
Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Vor der Annahme bedingten Vorsatzes müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Wollenselement geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles erfolgen, in welchem insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen ist. (BGH, Urt. v. 3.12.2015 – 1 StR 457/15)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Gemeinschaftliche Begehung. Der Angeklagte (A) und ein unbekannter Begleiter fuhren mit einem Pkw auf offener Straße in zügigem Tempo nah an den Geschädigten L heran und beide sprangen aus dem Auto. Während der Unbekannte den Kofferraum öffnete, schlug der A das Opfer mit einem Faustschlag ins Gesicht nieder. Der Unbekannte kam nun hinzu und zog zusammen mit dem Angeklagten an dem am Boden liegenden L, der um Hilfe rief.
Den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB verwirklicht, wer die Tat mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Dabei wird weder Eigenhändigkeit noch Mittäterschaft vorausgesetzt; ausreichend ist vielmehr schon das gemeinsame Wirken eines Täters und eines Gehilfen bei der Begehung einer Körperverletzung. Gerade dieses gemeinsame Einwirken auf das Opfer bei der Begehung der Körperverletzungshandlung ergibt sich aus den geschilderten Feststellungen nicht; auch das gemeinschaftliche „Ziehen“ begründet dies nicht. (BGH, Beschl. v. 8.3.2016 – 3 StR 524/15)

§ 225 Abs. 1 StGB – Misshandlung von Schutzbefohlenen; hier: „Drill instructor“. Der Angeklagte (A) versetzte den höchstens siebenjährigen Zwillingen vier bzw. drei heftige Schläge mit einem Gummiknüppel auf das entblößte Gesäß, nachdem diese ihm in einem „Verhör“ unter anderem eingestanden hatten, statt – wozu er sie aufgefordert hatte – Hausaufgaben zu machen gespielt und etwas gegessen zu haben. Nach dem Abendessen forderte er die Kinder auf, abwechselnd jeweils 20 Liegestütze und 20 Sit-Ups zu machen. Beide Kinder waren körperlich rasch überfordert, begannen zu weinen und gaben schließlich auf. Daraufhin wies der A ein Kind, welches er hierdurch erniedrigen und schikanieren wollte, an, „auf allen Vieren“ innerhalb von zehn Minuten den Boden des Flurs zu putzen. Nachdem dies dem Jungen in der vorgegebenen Zeit nicht gelungen war, versetzte ihm der A einen Fußtritt, wodurch er mit dem Kopf gegen eine Türzarge prallte. Nachdem die Kinder sich schließlich schlafen gelegt hatten, stürmte der A in das Kinderzimmer und forderte sie dazu auf, entsprechend einer Alarmübung beim russischen Militär innerhalb von 45 Sekunden jeweils ihre Schlafanzüge aus- und andere Kleidung anzuziehen.
Quälen bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender (erheblicher) Schmerzen oder Leiden körperlicher oder seelischer Art. Mehrere Körperverletzungshandlungen, die für sich genommen noch nicht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB erfüllen, können als ein Quälen zu beurteilen sein, wenn die ständige Wiederholung den gegenüber § 223 StGB gesteigerten Unrechtsgehalt ausmacht. Rohes Misshandeln liegt dagegen vor, wenn der Täter einem anderen eine Körperverletzung aus gefühlloser Gesinnung zufügt, die sich in erheblichen Handlungsfolgen äußert. Anders als das Quälen bezieht sich diese Tatalternative des § 225 Abs. 1 StGB auf ein einzelnes Körperverletzungsgeschehen. (BGH, Beschl. v. 19.1.2016 – 4 StR 511/15)

§§ 225, 13 StGB – Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen; hier: Strafbarkeit wegen Unterlassungstäterschaft in Anwendung des Zweifelssatzes. Die Versorgung des Kindes übernahmen arbeitsteilig ausschließlich beide Elternteile. Ihr Kind wurde öfter misshandelt, so dass es ältere Verletzungen in Form von sichtbaren Prellungen aufwies. Welcher Elternteil dem Kind welche Verletzungen zugefügt hatte, hat nicht festgestellt werden können. Sicher ist jedoch, dass beide auch wussten, dass das Kind Verletzungen durch elterliche Misshandlungen erlitten hatte.
Der Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB kann in den Tatalternativen des Quälens und des rohen Misshandelns auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Kann nicht festgestellt werden, wer von beiden Elternteilen die Misshandlung zum Nachteil des gemeinsamen Kindes vornahm, kommt in Anwendung des Zweifelssatzes eine Strafbarkeit wegen Unterlassungstäterschaft in Betracht. (BGH, Beschl. v. 4.2.2016 – 4 StR 266/15)

§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchdiebstahl; hier: Kippfenster und Terrassentür manipuliert. Der Angeklagte (A) griff durch ein auf Kipp stehendes Fenster eines Wohnhauses und löste die am oberen Fensterrahmen angebrachte Verriegelungsschiene. Dadurch war es ihm möglich, das Fenster weiter nach hinten zu kippen und den Griff der danebenliegenden Terrassentür umzulegen. Durch die auf diese Weise geöffnete Tür verschaffte sich A mit weiteren Beteiligten Zutritt zu dem Wohnhaus und entwendeten aus diesem Alkoholika.
Wer eine Räumlichkeit durch eine zum ordnungsgemäßen Zugang bestimmte Tür betritt, steigt nicht im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ein, unabhängig davon, auf welche Weise er die Tür geöffnet hat. (BGH, Beschl. v. 10.3.2016 – 3 StR 404/15)

§ 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB – Besonders schwere Brandstiftung; hier: Bedingter Tötungsvorsatz; Abgrenzung zur schweren Brandstiftung. Der Angeklagte (A) wollte aus verschiedenen Gründen seinem Leben ein Ende bereiten, besorgte sich 20 Liter Benzin, trank größere Mengen Alkohol und entschloss sich, seine im zweigeschossigen Wohnhauses gelegenen Wohnung in Brand zu setzen und sich anschließend durch Pkw-Frontalzusammenstoß umzubringen. Weil er aus der Nachbarwohnung im Erdgeschoss die Geräusche eines laufenden Fernsehgeräts hörte, wartete er das Abschalten des Geräts ab. Er wollte sicher sein, dass sein Nachbar eingeschlafen war, weil er fürchtete, dass es bei einem zu schnellen Herbeirufen der Feuerwehr durch diesen nicht mehr zum vollständigen Ausbrennen seiner Wohnung kommen werde. Dagegen machte er sich keine Gedanken darüber, dass als Folge seiner Brandlegung der Hausnachbar oder Erdgeschossbewohner des unmittelbar („Wand-an-Wand“) angrenzenden Nachbarhauses körperlich zu Schaden oder gar zu Tode kommen könnte. Gegen 2:30 Uhr zündete er seine benzingetränkte Couch an und verließ das Haus; seine Wohnung samt Inventar brannte aus. Aufgrund der Geräusche wurden sowohl der noch wach im Bett liegende Wohnungsnachbar als auch eine im Erdgeschoss des Nachbarhauses schlafende Anwohnerin samt schwerbehinderten Mutter aufgeschreckt. Alle Bewohner konnten sich in Sicherheit bringen.
§ 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt die konkrete Gefahr des Todes eines anderen Menschen voraus. Hierzu muss die Tathandlung über die ihr inne wohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation für das geschützte Rechtsgut geführt haben. Die Sicherheit einer bestimmten Person muss – was nach der allgemeinen Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – so stark beeinträchtigt worden sein, dass der Eintritt der Rechtsgutsverletzung nur noch vom Zufall abhing. Allein der Umstand, dass sich Menschen in enger räumlicher Nähe zur Gefahrenquelle befinden, genügt dabei noch nicht zur Annahme einer konkreten Gefahr in diesem Sinne. (BGH, Urt. v. 11.1.2017 – 5 StR 409/16)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO – Haftgrund der Fluchtgefahr; hier: Prekäre wirtschaftliche Verhältnisse. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen. Diese Gefahr muss sich bei objektiver Betrachtung nachvollziehbar, aber nicht notwendig zwingend, aus bestimmten Tatsachen ableiten lassen. Eine bloß schematische Beurteilung ist hierbei zu vermeiden; vielmehr muss die Fluchtgefahr den konkreten Umständen des Einzelfalles entnommen werden. Kriminalistische Erfahrungen können dabei zuungunsten des Beschuldigten mit verwertet werden. In die gebotene Gesamtwürdigung sind alle entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalles, vor allem die persönlichen Verhältnisse des Täters, einzubeziehen. Hierbei sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegenüber denjenigen abzuwägen, die ihr entgegenstehen. Der Fluchtverdacht kann nicht schon bejaht werden, wenn die äußeren Bedingungen für eine Flucht günstig sind; vielmehr ist zu prüfen, ob der Beschuldigte voraussichtlich von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen wird.
Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat keine Beziehungen ins Ausland. Er ist – wie seine Familie – vollkommen vermögenslos und hoch verschuldet, was Anlass für die verfahrensgegenständlichen Taten gewesen sein dürfte. Der Senat sieht in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen keinen besonderen Fluchtanreiz. Gegenteilig dürfte sich eine Flucht ohne Geldmittel schwieriger als mit solchen gestalten. Dementsprechend ist dem Senat eine Vielzahl von Haftbefehlen bekannt, in denen gerade das liquide Vermögen des Inhaftierten als Grund für die Fluchtgefahr benannt wurde. (OLG München, Beschl. v. 20.5.2016 – 1 Ws 369/16)

§ 112a Abs.1 S. 1 Ziff. 2 StPO – Haftgrund der Wiederholungsgefahr; hier: Gewerbsmäßige Hehlerei in zehn Fällen. Da die Katalogtaten des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO schon generell schwerwiegender Natur sind, kann das Merkmal „die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigend“ vom Gesetzgeber nur als weitere Einschränkung des Haftgrundes gemeint sein, zumal aus Verfassungsgründen eine restriktive Auslegung dieses Haftgrundes geboten ist. Es können daher nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtsgehalts bzw. nur solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen, als Anlasstaten in Betracht kommen. Dabei muss jede einzelne Tat ihrem konkreten Erscheinungsbild nach den erforderlichen Schweregrad aufweisen. Bei gewerbsmäßiger Hehlerei nach § 260 StGB als Anlasstat ist maßgeblich auf den Unrechtsgehalt der Tat abzustellen und danach zu fragen, ob diese in ihrer konkreten Ausgestaltung die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat. Maßgabelich für die Beurteilung ist dabei insbesondere auch Art und Umfang des jeweils angerichteten Schadens. Die Tatschwere nach dem Gesamtschaden zu bewerten, ist unzulässig. (OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 149.2016 – 1 Ws 126/16)