Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§ 113 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; hier: Widerstand gegen Vollstreckungsfahrzeuge durch bloße Flucht. §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Zungenkuss. §§ 243, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchsdiebstahl; hier: Unmittelbares Ansetzen. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 113 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; hier: Widerstand gegen Vollstreckungsfahrzeuge durch bloße Flucht. Beamte einer zivilen Ermittlergruppe verfolgten mit drei Fahrzeugen den von dem Angeklagten (A.), der nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, gesteuerten PKW Smart, in dem sich Diebesgut und Einbruchswerkzeuge befanden, um einen gegen den Mitangeklagten S., der auf dem Beifahrersitz saß, bestehenden Haftbefehl zu vollstrecken. Als der PKW an einer roten Ampel hielt, erfolgte der Zugriff, nachdem der Smart durch alle drei Fahrzeuge eingekeilt wurde. Die Zivilkräfte trugen ihre Dienstausweise offen und gut sichtbar und riefen laut und deutlich „Polizei! Türen auf! Aussteigen!“, zudem zogen sie ihre Waffe und nahmen die Sicherungshaltung ein. Der A., der erkannt hatte, dass es sich um einen Polizeieinsatz handelte, legte abrupt den Rückwärtsgang ein, lenkte stark nach rechts und setzte das Fahrzeug hastig zurück, um sich der Festnahme zu entziehen. Dabei wurde ein Zivilfahrzeug beschädigt. Der A. nahm die Beschädigung zu Fluchtzwecken billigend in Kauf.
Unter Widerstand ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten mit Nötigungscharakter zu verstehen, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll. Nach dem Schutzzweck des § 113 StGB muss die Gewalt gegen den Amtsträger gerichtet und für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein. Bloße Flucht vor der Polizei ist kein (gewaltsamer) Widerstand, auch wenn dadurch gegebenenfalls Dritte gefährdet oder unvorsätzlich verletzt werden. (BGH, Beschl. v. 15.01.2015 – 2 StR 204/14)

§§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Zungenkuss. Ein Zungenkuss, so dass die Zunge ein Stück weit in den Mund des Kindes eindrang, stellt keine dem Beischlaf ähnliche sexuelle Handlung dar und erfüllt damit den Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht. (BGH, Beschl. v. 28.06.2016 – 3 StR 154/16)

§§ 243, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchsdiebstahl; hier: Unmittelbares Ansetzen. Bei Qualifikationstatbeständen wie auch bei Tatbeständen mit Regelbeispielen ist grundsätzlich auf das Ansetzen zur Verwirklichung des Grundtatbestandes abzustellen. Daraus folgt, dass sich bei § 244 StGB wie bei § 243 StGB gleichermaßen die einheitlich zu beantwortende Frage stellt, ob mit den festgestellten Tathandlungen zur Wegnahme im Sinne von § 22 StGB angesetzt ist. Das Eindringen in den Garten über das Gartentor reicht nicht aus, da sich aus den Feststellungen nicht ergibt, ob das Gartentor nach seiner Funktion als wesentlicher Schutz des Hauses anzusehen ist oder etwa durch einfaches Öffnen oder Übersteigen überwunden werden konnte. Auch ein „Zuschaffenmachen“ vor der Terrassentür gibt – da es insoweit auch an der Mitteilung des Tatplans der Angeklagten fehlt – keinen konkreten Hinweis dafür, ob schon zur Wegnahme, einem unmittelbar bevorstehenden Einwirken auf fremden Gewahrsam, angesetzt ist. Dies gilt gleichermaßen auch für das „Anleuchten des Rollos“. (BGH, Beschl. v. 20.09.2016 – 2 StR 43/16)

§§ 243, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchdiebstahl; hier: Einbruch in getrennte Kellerräume. Die Vorschrift des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt das Einbrechen, Einsteigen oder Eindringen in eine Wohnung voraus. Bricht der Täter in Kellerräume ein, ist der Tatbestand nur erfüllt, wenn diese Räume durch eine unmittelbare Verbindung zum Wohnbereich dem Begriff des Wohnens typischerweise zuzuordnen sind. Dies ist regelmäßig beim Keller eines Einfamilienhauses, nicht aber bei vom Wohnbereich getrennten Kellerräumen in einem Mehrfamilienhaus der Fall. (BGH, Beschl. v. 08.06.2016 – 4 StR 112/16)

§ 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB – Schwerer Raub (Schwere räuberische Erpressung) mittels Werkzeug als Drohungsinstrument; hier: „Kofferbombe“ als Drohmittel zur Erlangung des Geldes. Nachdem der Angeklagte (A.) zehn Tabletten Benzodiazepine und zwei Gin Tonic zu sich genommen hatte, beschloss er, bei einer Bank „an Bargeld zu gelangen“. Gegen 11:30 Uhr betrat der – Sportkappe und Sonnenbrille tragende – A. unter Mitführung eines Koffertrolleys, der im Wesentlichen sein Reisegepäck enthielt, eine Bank und trat auf den Kassenschalter zu, an welchem die Zeugin E. ihren Dienst versah. Auf ihre Frage, was sie für den A. tun könne, legte dieser zunächst wortlos einen Zettel auf den Bankschalter, auf welchem er die Auszahlung von 2.000 bis 3.000 € forderte und äußerte sodann, dass er Leukämie habe. Die E., die bis zu diesem Zeitpunkt völlig angst- und arglos war, erwiderte, dass sie ihm nicht ohne weiteres Geld auszahlen könne, was der A. mit der Bemerkung: „Doch!“ kommentierte. Als die E., immer noch arglos, weiterhin nicht reagierte, lehnte sich der A. über den Kassenschalter, zog seine Sonnenbrille vom Nasenrücken, schaute die E. nachdrücklich an und sagte: „Keine Polizei, kein Alarm, ich habe eine Kofferbombe, zahlen Sie aus!“, um damit die Herausgabe des geforderten Geldbetrages zu erreichen. Die Anwendung dieser Drohung zur Durchsetzung seiner Forderung hatte er erst in diesem Moment spontan beschlossen. Schließlich wurden ihm 2.000 € ausgezahlt, er verließ die Bank, setzte einige Meter entfernt seinen Koffer in Brand und verschwand.
Der BGH stellte fest, dass der A. der schweren räuberischen Erpressung schuldig ist. Nach dem Wortlaut der Norm ist es weder erforderlich, dass das mitgeführte Werkzeug oder Mittel seiner Beschaffenheit nach objektiv geeignet ist, das Opfer durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu nötigen, noch bedarf es überhaupt seines derartigen Einsatzes; denn es kommt nur auf eine entsprechende subjektive Intention des Täters bei der Tatausführung sowie sein Bewusstsein an, das Werkzeug oder Mittel für diesen Zweck gebrauchsbereit bei sich zu haben. Dabei ist es ausreichend, wenn der Täter zu diesen subjektiven Überlegungen erst während der Begehung der Tat gelangt, sodass der Qualifikationstatbestand im Allgemeinen dann ohne weiteres erfüllt ist, wenn der Täter das Werkzeug oder Mittel entsprechend seiner Absicht sogar tatsächlich einsetzt. (BGH, Urt. v. 20.08.2015 – 3 StR 259/15)



§§ 252, 249, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB – Besonders schwerer räuberischer Diebstahl; hier: Flucht/Nacheile, Zusammenhang Vortat/Nötigung. Der Angeklagte (A.) drang mit B. und C. in eine Bankfiliale ein, während der weitere Beteiligte D. zur Absicherung draußen verblieb. Sie öffneten mit Hilfe von Werkzeug den Geldautomaten und entnahmen 74.850 Euro, die sie im Kofferraum eines Fluchtwagens verstauten und flohen; B. fuhr und A. war Beifahrer dieses Fahrzeuges. Während der gesamten Tat wurden sie observiert. Nach etwa 30-minütiger Fahrt und ca. 35 km vom Tatort entfernt, stoppten Beamte auch diesen Fluchtwagen mit ihren Einsatzfahrzeugen. A. kam mit B. durch Gesten überein, auf einen der Beamten, den sie auf Grund des Aufdrucks „Polizei“ als solchen erkannt hatten, zuzufahren, um so zu fliehen und sich im Besitz der Beute zu erhalten; der Beamte erlitt eine schmerzhafte Knieprellung.
§ 252 StGB fordert einen Zusammenhang zwischen einer Nötigungshandlung und dem Betroffen sein. Dieser liegt auch vor, wenn das Nötigungsmittel im Rahmen der sich unmittelbar an das Betreffen „auf frischer Tat“ anschließenden Verfolgung, sog. Nacheile, angewendet wird. (BGH, Beschl. v. 04.08.2015 – 3 StR 112/15)

§ 315b Abs. 1 StGB – Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr; hier: Schüsse auf Fahrzeuge. Der Angeklagte (A.) schoss in einer Vielzahl von Fällen, anfangs Kaliber .22, später Kaliber 9?mm, aus dem von ihm auf Bundesautobahnen geführten Lkw heraus im fließenden Verkehr auf andere Fahrzeuge; insbesondere auf Autotransporter oder andere Lkws mit Auflieger, die sich zum Teil im Gegenverkehr, zum Teil im gleichgerichteten Verkehr bewegten.
In Fälle, in denen der A. auf die Ladung bzw. Aufbauten von Autotransportern, anderen Lkws oder auf Wohnanhänger schoss ist darin kein Fall des § 315b Abs. 1 StGB zu sehen, denn eine Verurteilung wegen (versuchten) gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr setzt bei Schüssen auf Fahrzeuge im Straßenverkehr voraus, dass nach der Vorstellung des Täters die konkrete Gefahr für eines der in § 315b Abs. 1 StGB genannten Schutzobjekte jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist. Daran fehlt es, wenn der Schaden – wie hier – ausschließlich auf der durch die Pistolenschüsse freigesetzten Dynamik der auftreffenden Projektile beruht. (BGH, Beschl. v. 16.07.2015 ? 4 StR 117/15)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 52 Abs. 3 StPO – Zeugnisverweigerungsrecht; hier: Ehemann. Die Halterin eines unfallbeteiligten Fahrzeuges wird gefragt, wer zum Unfallzeitpunkt das Fahrzeug geführt, einen Unfall verursacht und sich dann vom Unfallort entfernt habe. Der Verdacht richtete sich gegen eine männliche Person. Der später Beschuldigte ist ihr Ehemann. Die Halterin wurde nicht hinsichtlich ihres Verweigerungsrechtes belehrt. Ihre Antworten sind nicht verwertbar. (LG Kiel, Beschl. v. 23.11.2015 – 8 Qs 48/15)

§§ 81b, 261, 267 StPO; RiStBV Nr. 18 – Wahllichtbildvorlage; hier: „Längere eher glatte Haare“ und „Haarfarbe“. Die Lichtbildvorlage entsprach nicht den für eine belastbare Täteridentifizierung erforderlichen Voraussetzungen. Denn entgegen Nr. 18 RiStBV wurden der Zeugin bei der Polizei nicht Lichtbilder anderer Personen „ähnlicher Erscheinung“ vorgelegt. Aus den wirksam in Bezug genommenen Lichtbildern ergibt sich nämlich, dass von den dort gezeigten acht Männern nur der Angeklagte die von der Zeugin als Wiedererkennungsmerkmal angegebenen Charakteristika aufwies („längere eher glatte Haare“ und „Haarfarbe“). Folglich bedarf es zur Annahme der Täterschaft des Angeklagten anderer Beweismittel von übergeordneter Bedeutung. (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.03.2015 – III-3RVs 3/15, III-3 Ws 14/15)
Mit ähnlicher Begründung lehnte das LG Magdeburg (Beschl. v. 9.3.2015 – 25 KLs 323 Js 35113/14) die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen schweren Raubes gegen einen Angeschuldigten ab. Auch in diesem Fall war der Wert der Wiedererkennung bei der Wahllichtbildvorlage durch die Qualität der Wahllichtbildvorlage beeinträchtigt. Während alle anderen Bilder Personen mit rosafarbener Gesichtshaut zeigten, stach der Angeschuldigte mit bleicher Gesichtsfarbe deutlich hervor, so dass angesichts der Auswahl der Fotos eine suggestive Beeinflussung der Zeugin allein durch die Art und Weise der Wahllichtbildvorlage nicht ausgeschlossen werden konnte. Darüber hinaus erklärte die markant hervortretende bleiche Gesichtsfarbe des Angeschuldigten auch die im Rahmen des Protokolls über die Wahllichtbildvorlage geäußerte Gefühlsregung der Zeugin, die bekundete, „Mir wurde regelrecht anders, als ich dieses Bild sah.“ Weitere Indizien, die auf den Angeschuldigten hindeuten, waren nicht ersichtlich.

§§ 112, 115 StPO – Haftbefehl; hier: Kein „Verfallsdatum“. Während nach dem Erlass eines Durchsuchungsbefehls gem. §§ 102, 105 Abs. 1 StPO eine richterliche Kontrolle der ursprünglichen Anordnung nach längerem Zeitablauf im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen ist, sieht das Gesetz in § 115 Abs. 1 StPO eine ausdrückliche wie effektive Wahrung der grundgesetzlich geschützten Rechtsposition des Beschuldigten gerade vor. Durch die unverzügliche Vorführung des Beschuldigten vor den zuständigen Haftrichter ist gewährleistet, dass diesem – anders als bei der Vollstreckung eines vor geraumer Zeit erlassenen Durchsuchungsbefehls – die abschließende Entscheidungshoheit zur Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen zur Anordnung der Untersuchungshaft vorbehalten bleibt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Unzulässigkeit der Vollziehung bzw. das Außerkrafttreten von Durchsuchungsbeschlüssen nach einem bestimmten Zeitablauf seit ihrem Erlass kann deshalb auf Haftbefehle nicht übertragen werden. (OLG Hamm, Beschl. v. 25.08.2015 ? 3 Ws 229, 230/15)