Ausnahmezustand

Von Dr. Susanne Gaschke, Berlin

Im Skandal werden die Regeln des journalistischen Handwerks oft über Bord geworfen. Für Betroffene fühlen sich Exzesse in der Berichterstattung an wie körperliche Gewalt.

Schon in friedlichen Zeiten, wenn gar nichts Besonderes los ist, fallen die Logik von Medien und die Logiken derjenigen, über die Medien berichten, deutlich auseinander. Der Journalist muss im Alltag, weit diesseits von hehren Aufklärungsabsichten und seinem aufrechten Wirken als Teil der „vierten Gewalt“, bis zu einem gewissen Zeitpunkt am Tag eine Zeitungsseite gefüllt, einen Rundfunk- oder Fernsehbeitrag sendefertig gemacht oder einen online-Newsticker aktualisiert haben. Und das im Idealfall mit einer Geschichte, die Auflage oder Quote oder Klickzahlen bringt. Journalisten neigen dazu, die Frage, wann eine Geschichte „dran“ ist und sein muss, sehr stark nach diesen ihren Arbeitsbedingungen zu beurteilen.
Manchmal passt das ja durchaus zu den Interessen ihrer Berichtsgegenstände: zum Beispiel, wenn eine Sozialministerin eine Pressekonferenz zu ihrer wohlerwogenen, von langer Hand vorbereiteten Kita-Reform geben will. Da profitieren dann beide Seiten. Aber dem Kanzlerkandidaten wären ein oder zwei Interviews pro Woche vielleicht lieber als 30 oder 40. Und es wäre vielleicht auch von Vorteil für ihn und sein politisches Angebot, wenn er Zeit zum Lesen und zur Vorbereitung seiner Reden hätte, statt ständig etwas Neues erfinden zu müssen, was die Journalisten interessiert. Die Polizei möchte vielleicht aus Rücksicht auf laufende Ermittlungen viel weniger über ein Verbrechen sagen, als die Medienleute gern erfahren würden. Die Pressestelle der Uniklinik ist dem Berichtsanliegen der Zeitung gegenüber womöglich ganz aufgeschlossen, muss aber wegen Personalmangel doch arg jonglieren, um den vom Reporter gewünschten Sofortbesuch hinzubekommen. Und so weiter.
Wenn die Zeiten nicht friedlich sind, nämlich in der Skandalberichterstattung, radikalisieren sich die Logiken. Die Journalisten werden zu Jägern, die – zu Recht oder zu Unrecht – Skandalisierten werden zu Gejagten. Die Medien sehen vor ihrem Fernglas nur verlogene, sich windende Übeltäter. Die Angeprangerten fühlen sich von unerbittlichen Feinden verfolgt. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff und der Wetter-Moderator Jörg Kachelmann gehören zu den prominenteren Menschen, die über dieses Phänomen berichten können – aber derartige Konstellationen gibt es immer wieder. Polizeipräsidenten können sie erleben, Jugendhilfe-Verantwortliche, Kirchenfunktionäre. Ich selbst war einer solchen Situation ausgesetzt, als Kieler Oberbürgermeisterin 2013. Vielleicht eine Erfahrung, die mehr Journalisten machen sollten – damit sie auch nur ansatzweise zu ahnen beginnen, was sie anrichten können.

Während die Einzelfälle interessant und oft tragisch sind, lassen sich die individuellen Skandalisierungserfahrungen erstaunlich gut systematisieren. Der Mainzer Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat dazu eine materialreiche und ausgesprochen einfühlsame Untersuchung vorgelegt. Sie heißt „Die Mechanismen der Skandalisierung“ und sollte Standardlektüre für Journalisten und Verantwortungsträger sein.
Der Skandal und die Skandalisierung sind kein Selbstzweck – eigentlich. Sie dienen – eigentlich – der Aufdeckung und Beseitigung von Missständen. Und um an dieser Stelle auf keinen Fall missverstanden zu werden: Das ist gut und richtig so. Dafür braucht eine demokratische Gesellschaft, dafür braucht ein Rechtsstaat seine Presse. Aber: Der Missstand, der eine Skandalisierung erfordert, ist der Ausnahmefall, nicht die Regel. Um einen Skandal – mit allen seinen verhängnisvollen Folgen – auszurufen, müssten sich die verantwortlichen Journalisten sehr sicher sein. Und zwar nicht nur gefühlt sicher. Sondern fakten- und ergebnissicher. Unverzichtbarer Bestandteil eines Skandals ist nämlich ein Schuldiger, und das ist in aller Regel ein Mensch. Eine Naturkatastrophe lässt sich nur schwer skandalisieren, es sei denn, der mediale Zorn kann sich auf bei der Katastrophenbewältigung versagende Behörden richten.
Die Tendenz der Sender und Verlage, besondere „Investigativ Ressorts“ zu gründen, stellt vor diesem Hintergrund ein doppeltes Risiko dar. Denn hier sind es nicht Fachjournalisten mit entsprechenden Kenntnissen, die in ihrem Themengebiet über Unregelmäßigkeiten stolpern und diesen auf den Grund zu gehen versuchen. Sondern Generalisten machen sich mit dem expliziten Auftrag an die Arbeit, brisante Themen und insbesondere skandalisierungsfähige Missstände auszugraben. Die Skandalisierung ist für sie keine Ausnahmesituation, sondern steht quasi in der Jobbeschreibung. So können die Investigativ Reporter leichter als Experten zu Fehleinschätzungen kommen und eigentlich normale Vorgänge aus Unkenntnis dramatisieren. Zum anderen sind solche Ressorts, die ja ständig etwas Außergewöhnliches liefern müssen, sehr anfällig für alle Informationen, mit denen Staatsanwälte, enttäuschte Mitarbeiter oder Parteifeinde Politik machen wollen. Natürlich ist der echte „Whistleblower“, der unter hohem persönlichem Risiko heikle Informationen an die Medien weitergibt, mit großem Respekt zu betrachten. Aber wie viele „echte“ Whistleblower gibt es? Und wie viele Durchstechereien sind lediglich eigennützig motiviert?

Im Skandal, schreibt Hans Mathias Kepplinger, werden die üblichen journalistischen Standards außer Kraft gesetzt. Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr, Verfahrenswege werden verletzt, vertrauliche Unterlagen weitergegeben; Tatsachenbehauptungen werden nicht länger genau geprüft, alles scheint möglich. Übertreibungen sind an der Tagesordnung. Die Journalisten werden eigenartig blind für die Interessen derjenigen, die sie – aus Anstand? Aus Altruismus? – mit Informationen füttern. Die Skandalisierer operieren mit Verbrechens-Assoziationen, Katastrophen-Suggestionen, Schuld-Stapelungen und optischen Zuspitzungen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Der NDR in Kiel arbeitete in dieser Hinsicht lehrbuchreif.
Im Skandal wird auch fast immer umfangreich anonym zitiert, obwohl das nach den Standards des Pressekodex eigentlich nicht vorgesehen ist. Die Redakteure, die so verfahren – wie es etwa im Fall des Chefs der schleswig-holsteinischen Landespolizei immer wieder geschieht – werden damit argumentieren, dass sie ihre Quellen schützen müssen, und dass sie ohne Anonymität an die brisanten Informationen und Zitate nicht herankämen. Aber für den öffentlich so Beschuldigten ist es sehr schwer, sich adäquat zu wehren. Und wo verläuft die Grenze zwischen tapferer Informationsbeschaffung und anonymer Denunziation?
Kurioser Weise wissen Journalisten bei normaler Betriebstemperatur, dass all dies kein gutes Handwerk ist. Sie neutralisieren dieses Wissen aber mit dem starken Wunsch, einer gerechten Sache zu dienen. 88 Prozent von ihnen finden laut Kepplinger eine Übertreibung in der Berichterstattung in Ordnung, wenn sie „der Beseitigung eines Missstands dient“. Diese Immunisierung begünstigt Exzesse. Dem Publikum wird so ein verzerrtes Bild über das Ausmaß des Problems vermittelt.
Kepplinger sieht im Skandal totalitäre Tendenzen am Werk: Jeder soll sich der empörten Lesart der Dinge anschließen, wer den Beschuldigten verteidigt oder auch nur Zweifel äußert, ist ein potenzieller Verharmloser und Vertuscher. Neben dem „Schuldigen“ selbst werden also auch jene Nonkonformisten geächtet, die sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen wollen. Auch sie werden isoliert, öffentlich an den Pranger gestellt und, wo es möglich ist, diskreditiert.

Unter den Journalisten, die den Skandal vorantreiben, gibt es mehrere Hierarchieebenen: die „Wortführer“ in den Leitmedien, die „Mitläufer“, die bloßen Chronisten (die gleichwohl für die Verbreitung auch ungerechtfertigter Vorwürfe sorgen) – und dort, wo der „Schuldige“ noch ein wenig Glück hat, die „Skeptiker“, die mit ihrer Haltung freilich ein eigenes Risiko eingehen.
In einem kleinen Medienbiotop wie Schleswig-Holstein ist die Zahl der Wortführer, die nötig sind, um einen Skandal in Schwung zu bringen, ausgesprochen überschaubar; für Skeptiker und irgendeine Form der gelassenen Qualitätskontrolle bleibt wenig Platz. Deshalb kann eine Empörungsspirale in der norddeutschen Provinz mindestens so heftig und potenziell zerstörerisch ausfallen wie ein Skandal auf Bundesebene.
Von der Zahl und der Nervenstärke der Skeptiker hängt es ab, ob ein Skandalisierungsversuch sich zum Vollskandal auswächst oder in einer publizistischen Kontroverse mündet. Ein Beispiel für letztere war der – unbewiesene – Vergewaltigungsvorwurf gegen Jörg Kachelmann 2010. Die damalige Gerichtsreporterin der ZEIT, Sabine Rückert, sorgte mit ihrer Skepsis dafür, dass sich die Skandalisierungslinie der Bild-Zeitung (mit der eigens angeheuerten Sonder-Kolumnistin Alice Schwarzer an der Spitze) nicht uneingeschränkt durchsetzen konnte. Eine publizistische Kontroverse also, an deren Ende die zumindest teilweise öffentliche Rehabilitierung Kachelmanns stand. Der hatte allerdings trotz ZEIT-Unterstützung vier Monate in Untersuchungshaft verbracht, seinen Seelenfrieden, seine ökonomische Existenzgrundlage und seinen Ruf eingebüßt.
Christian Wulff brachte ein voll entfalteter Skandal zu Fall. Für ihn ergriff zeitweise kein einziger Journalist mehr das Wort. Und als Wulff sich nach seinem Rücktritt in einem maßvollen Buch mit der Geschichte seiner öffentlichen Demontage auseinandersetzte, da gab es von den Medien noch einmal ordentlich Häme und Nachtreten, obwohl keiner der übertriebenen und dramatisierten Vorwürfe sich als haltbar erwiesen hatte. Das war offenbar eine narzisstische Kränkung für den ganzen Berufsstand, die sich natürlich nicht mit Reue und Abbitte, sondern nur mit noch mehr Rechthaberei beantworten ließ.
Auch dies ist ein durchgehendes Muster in der Skandalberichterstattung, das Kepplinger am Rande thematisiert: Entschuldigungen gibt es nie. Hat die Presse danebengelegen, wird das Ergebnis entweder schnell vergessen – oder dem Skandalisierten wird vorgeworfen, er habe „unter Druck“ nicht gut reagiert, sei also mindestens wegen seiner Druckempfindlichkeit in der Krise keine geeignete (Führungs-)Persönlichkeit. Dieses Argument ist besonders teuflisch, wenn die Skandalisierer mit ihren Vorwürfen Unrecht hatten, wenn die Reputation und oft auch der Lebensmut eines Menschen zerstört sind, weil er einen grundlosen Druck nicht aushielt. Einen Druck, den die meisten Journalisten sich nicht im Mindesten vorstellen können, geschweige denn, dass sie ihm standhalten würden.
Dass der Skandalisierte in seiner Extremsituation Fehler zu Hauf macht, und auch, wie er sie macht, folgt laut Kepplinger wiederum einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Der Angeprangerte, der nichts Böses getan hat, geht zunächst davon aus, dass die medialen Angriffe zwar sein Selbstwertgefühl verletzten, dass die Öffentlichkeit aber einsehen wird, wie ungerecht sie sind, wenn erst alle Umstände bekannt werden. Also kämpft er und wiegt sich in der trügerischen Sicherheit, mit seiner subjektiv als aufrichtig empfundenen Haltung durchdringen zu können. Doch die Angriffe hören nicht auf, im Gegenteil, sie werden schlimmer – denn der Charakter des Skandalisierungsprozesses verlangt Unterwerfung. Das Ansehen des „Schuldigen“ nimmt in dieser Phase schweren Schaden, den das Internet für alle digitalen Zeiten konservieren wird. Irgendwann schlägt der „Trotz“ (Kepplinger) des Skandalisierungsopfers in nackte Panik um: Dann werden Dinge eingestanden, Entschuldigungen ausgesprochen und Demutsgesten ausgeführt, für die es überhaupt keinen Grund gibt. Aber damit ist nur das erwartete Schuldeingeständnis erbracht. Der „Befreiungsschlag“, den der Skandalisierte meist ganz zum Schluss noch in irgendeiner Form versucht, führt in aller Regel zu noch schlechterer Presse, zu noch negativeren Bewertungen. Irgendwann ist man zermürbt.
Ist die Welle der Empörung abgeflaut, sind die Ereignisse ein wenig in den Hintergrund gerückt, dann fragen sich meist alle Beteiligten des Skandals, was um Himmels Willen eigentlich zu all der Aufregung geführt hatte. Dabei sind die Lasten extrem ungleich verteilt: Denjenigen, die zu Unrecht öffentlich auseinander genommen wurden, hilft niemand, ihren Ruf wieder herzustellen, ihre materiellen Verluste auszugleichen und ihre seelischen Wunden zu heilen. Das ist ihr Privatproblem, mit dem sie selbst fertig werden müssen – und es gilt als ausgesprochen unelegant, einen Groll gegen diejenigen zu hegen, die einem das angetan haben. Das Opfer hat sich zusammenzureißen. Den Journalisten, die daneben lagen, drohen in aller Regel keine Konsequenzen. Unter Umständen werden sie sogar mit Preisen dafür dekoriert, dass sie wacker absichtsvoll Durchgestochenes verbreitet haben.
Der Autorin ist aus der Geschichte der Bundesrepublik kein Fall bekannt, in dem ein Journalist seine Scham über eine verfehlte Skandalisierung ausgesprochen oder ein zu Unrecht beschuldigtes Opfer um Verzeihung gebeten hätte. Das ist gewiss nicht der Hauptgrund für die Vertrauens- und Auflagenkrise, die die „klassischen“ Medien heute erleben. Aber es ist eben ein Merkmal einer Zunft, die in der Versuchung steht, stets alles viel besser wissen zu wollen als alle anderen. Wenn dieser Anspruch nicht durch solides, belastbares Handwerk gestützt werden kann, wird er zum Risiko für alle Betroffenen und Beteiligten.

Anmerkungen


Dr. Susanne Gaschke (50) ist Autorin der Welt und lebt in Berlin. Von 2012 bis 2013 war sie Oberbürgermeisterin von Kiel, bis sie nach einem Konflikt mit der inzwischen abgewählten schleswig-holsteinischen Landesregierung zurücktrat. Zuletzt erschienen von ihr „Volles Risiko. Was es bedeutet, in die Politik zu gehen“ (DVA 2014) und „SPD: Eine Partei zwischen Burnout und Euphorie“ (DVA 2017).

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