Islamistische Videopropaganda und die Relevanz ihrer Ästhetik

Von Dr. des. Bernd Zywietz

Dr. des. Bernd Zywietz ist Film- und Medienwissenschaftler sowie Vorstandsmitglied des Netzwerk Terrorismus e.V. Er promoviert zum Thema Terrorismus und Film und befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von politischer Gewalt und Medien. Aktuell forscht er zur Online-Propaganda des IS und ihrer Gestaltung.

„Denis Cuspert droht mit Anschlägen in Deutschland“. So titelte Spiegel-Online am 15. April dieses Jahres. Vormals unter dem Namen „Deso Dogg“ als Berliner Gangsta-Rapper mäßig erfolgreich und nun als Abu Talha al-Almani Aushängeschild des sog. „Islamischen Staat“ (IS) singt Cuspert in seinem naschid von „deutschen Schläfern“, die nach den „Taten“ in Frankreich „warten würden“. „Auch wenn du in Europa bis, mach deinen Jihad. Allah wird dich belohnen, setz‘ den Dreckigen ein Ende“. Krude ist der Sprechgesang, holperig sind die Reime. Einmal mehr jedoch ist mediale Aufmerksamkeit gewiss, wie schon bei „Abu Dawud“ alias Michael N. aus Gladbeck im vergangenen Oktober, der in einem Video aus dem „Kalifat“ Deutschland drohte und die Bundeskanzlerin als „schmutzige Merkel“ schmähte. Sind Cusperts Worte ein ernstzunehmender Appell? Ist das Lied als Signal zu deuten, dass der IS nach stagnierender militärischer Expansion in Syrien und Nord-Irak womöglich auf Terrorismus in Europa und mithin in Deutschland setzt? Sieht sich die IS-Spitze nach den aufsehenerregenden Bluttaten in Paris unter Zugzwang durch die extremistische Konkurrenz al-Qaidas?
Angesichts der „Drohung“ Cusperts sollte Ruhe vielleicht nicht altpreußisch erste Bürgerpflicht sein, empfehlenswert ist sie jedoch allemal. Selbst wenn Abu Talha al-Almani recht hoch in der Propaganda-Hierarchie des IS angesiedelt sein sollte, handelt es sich bei dem lancierten Video um kein formales Statement der Führungsspitze, sondern um einen der Kriegssprechgesänge (freilich: auf Deutsch), der wie die übrigen bebilderten anaschid der IS-Jihadisten übervoll ist von überzogenem Heroismus, Großmannssucht, Feind- und gar Menschenverachtung sowie vollmundigem Pathos. Weit besorgniserregender als die Worte des Ex-Rappers ist allerdings das dazugehörige Video mit dem Titel Fisabilillah („Im Namen Allahs“) selbst. Produziert ist es, gemäß Intro-Logo, Verbreitungsquelle und „Look“, von der IS-Medienabteilung al-Hayat Media Center (HMC).1 Seit Mitte 2014 ist das HMC maßgeblich für die Ansprache des westlichen Publikums im Gesamtensemble der IS-„PR“ zuständig, stellt Übersetzungsuntertitelungen her und steht vor allem für jene Hochglanz-Produktionen, die in Sachen IS-Propaganda für Aufsehen und Abscheu sorgten: von den hochästhetisierten Features Salil as-Sawarim IV („Das Klirren der Schwerter“) und Flames of War mit fast einstündiger Lauflänge bis zu den schrecklichen Enthauptungsfilmen.

Professionelle Aufmachung, gefährliche Botschaft


Fisabilillah fügt sich in diese Linie ein und lässt gerade angesichts der unsäglichen inhaltlichen Botschaft über die gestalterische Professionalität staunen. Das „Musikvideo“ wartet mit hochauflösenden Bildern in gelackter Werbe-Anmutung auf, von der Machart bis zum Bildgegenstand ist es genau durchkomponiert. Wir sehen darin einen Mann in blassblauem Hemd und beigefarbener Hose – wie bei allen Figuren des Clips bleibt sein Kopf außerhalb des Bildkaders, er damit betont anonym. In einem hellen, aufgeräumten Zimmer klappt er sein Notebook auf, um sich darauf Filme zum Jihad anzuschauen, trinkt dabei, isst. Daran anschließend wird wie in einem Agentenfilm ein Koffer im Vorbeigehen zwischen zwei Männern ausgetauscht, aus diesem nach einer geschickten Überblendung eine Pistole entnommen und mit Schalldämpfer versehen. Weitere visuell stylische Fragmente, die Attentatsvorbereitungen andeuten: Das Befüllen von Plastikfässern mit Chemikalien und deren Verschaltung zu einer Autobombe. Das Mischen von Explosivstoffen und das Basteln einer Sprengstoffweste. Das Zusammensetzen eines Scharfschützengewehrs und das Justieren des Zielfernrohrs. Die Fahrt in einem BMW-Geländewagen – die Aufnahmen könnten zunächst aus einem Marken-Spot stammen, doch dann hält der Fahrer, steigt aus, ein Messer in der Hand. Parallelgeschnitten, auf einer dritten Zeit- oder Erzählebene, wird in einem Koran nachgelesen; es verabschiedet sich per SMS (eine Träne tropft aufs Display) und handgeschriebenem Brief ein Glaubenskrieger von den Liebsten – all diese Texte auf Deutsch, alle Einstellungen schnell geschnitten, dynamisch arrangiert und montiert.
Auch wenn es zynisch klingt: Fisabilillah ist handwerklich sehr gut gemacht, attraktiv und faszinierend, viel zu „cool“ und „sexy“, um ein vor allem jüngeres Publikum nicht anzusprechen. Cusperts dürftige Sangeskünste wie der Inhalt des dumpfen Lied-Textes selbst fallen dagegen eklatant ab. Neben den glatten HD-Bildern, ihrer Komposition und Rhythmik, den Motiven, Kulissen und ihrer Ausleuchtung oder dem Spiel mit der Tiefenschärfe – alles verweist auf einen Aufwand, der gängigen Clips der Werbeindustrie entspricht – steht das dreiminütige Video darüber hinaus in zweifacher Hinsicht für eine neue Generation audiovisueller Propaganda jenseits dröger indoktrinatorischer Botschaften und Anleitungen religiöser oder militanter Art. Als „Musikvideo“ bietet Fisabilillah nicht die übliche Collage lediglich thematisch verbundener Bürgerkriegs- und Leidensaufnahmen, die Inszenierung der „guten“ Jihadisten, die Explosionen, Schusswechsel oder die ausgestellten Opfer der „Gegner“, inhaftierte Muslime, blutige Körper, garniert mit wirbelnden Grafikelementen und durchsetzt von abstrakten Animationen. Wie viele anspruchsvolle Clips der westlichen Musikindustrie2 ist der kurze Film einfach und komplex zugleich, vor allem: in sich narrativ. Das Video bietet in aller Reduktion eine klare Geschichte, die prototypische Handlungsvorgabe für die Zielgruppe sein soll: Inspiriert von den Online-Aufnahmen (so geht die „Story“) und nachdem er die religiösen Leitquellen zur Bestätigung herangezogen hat, soll der (so) Überzeugte Abschied nehmen und zur Waffe greifen. Egal ob diese nun eine selbstgebaute Bombe oder auch nur ein Messer ist, mit dem man unterwegs „Ungläubige“ absticht. Dabei, so behauptet das Video mit dem ästhetischen und inhaltlichen Luxus der Bilder, muss man sich nicht fühlen wie ein banaler Meuchelmörder, sondern schlüpft in die stilsichere lässige Rolle eines James Bond. Statt Terroranschläge als blutrünstige Aktionen eines heißen, heiligen Zornes: „coole“ Operationen mit dem Flair einer spannenden Spionage-Mission, wie wir sie aus dem Kino kennen.
Ein weiterer besorgniserregender Aspekt ist die Selbstbezüglichkeit des Clips. Denn die Videos, die neben den „Charlie-Hebdo“-Attentatsaufnahmen auf dem Notebook-Display innerhalb der fiktionalen „Erzählwelt“ von Fisabilillah laufen, sind jene notorischen Propaganda-Bilder des HMC selbst, vor allen drastische Enthauptungsszenen (dabei eigens durch die hohe Schnittfrequenz „erträglich“ und zugleich unerträglich „hip“ gemacht). So feiert der IS die eigene Grausamkeitspropaganda und beschwört ihre Wirkung ebenso wie er die Sorgen westlicher PolitikerInnen und Medieninstitutionen um die Ethik und Beeinflussung durch solche Machwerke bedient. Nicht zuletzt diese Selbstreflexivität verdeutlicht, dass und wie nicht nur der IS, sondern generell radikalislamistische Kreise, aus denen sich die westlichen Propagandisten des IS rekrutieren, über eine hochaktuelle Medienkompetenz verfügen und eine solche bei ihrem Zielpublikum voraussetzen und einplanen. Für diesen vor allem jüngeren und jugendlichen Zuschauerkreis bietet das Verständnis- oder Dekodierspiel der Zeichen und Verweise zusammen mit der Attraktion der Ästhetik im Einklang mit zeitgemäßen Sehgewohnheiten – erinnert sei nur an den aktuellen Hype um teuer produzierte US-Fernsehserien und ihr komplexes Erzählen – ein besonders anziehendes Lockangebot. Gerade weil es abseits der bislang gängigen Darlegungen fundamentalistischen Gedankenguts, den Statements und Erklär-Stücken religiöser Autoritäten ansetzt und damit auch bei den Zuschauern verfängt, die über nur mangelhaftes theologisches und kulturelles Wissen (und Interesse) verfügen. Das heißt auch: Es müssen gerade junge westlich sozialisierte Menschen (noch) nicht sonderlich mit der Weltsicht der Islamisten sympathisieren, um solche Videos rein für sich als faszinierend zu goutieren und so motiviert werden, sich näher mit ähnlichem Content, schließlich ihren Machern und deren weltanschaulichen „Erzählungen“ zu befassen. Videopropaganda in ihrer attraktiven Aufmachung ist Einstiegs- oder zumindest Zusatzofferte in der islamistischen Angebotspalette aus Verheißungen der Gemeinschaftlichkeit und Sinngebung, Engagement im Namen einer höheren Gerechtigkeit oder schlicht Mannhaftigkeit und Abenteuer.

Die Brisanz von Schock- und Verführungsbildern: Herausforderungen für Staat und Gesellschaft


Wie bedeuten diese Propaganda-Produkte und ihre Art für uns? Fisabilillah ist ein extremes Beispiel, dabei ein sehr spezielles, gleichwohl umso bedenklicheres. Der Bürgerkrieg in Syrien, die Instabilität im Irak und das Unwesen des IS haben momentan und auf absehbare Zeit hohe Priorität, für die Politik, für die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden wie in der öffentlichen Debatte um die Themen Migration und Integration. Entsprechend fließen in den Videos der Terror des IS mit den hiesigen (Werbe-)Aktionen von Islamisten und (Neo-)Salafisten – etwas der „Lies!“-Kampagne – zusammen. Nicht zuletzt war etwa Cuspert prominentes Mitglied der seit 2011 verbotenen Gruppierung Millatu Ibrahim, und es gibt Hinweise, dass sich Personen aus diesem Umfeld heute beim HMC beteiligen.
Gerade mit Blick auf jene Prozesse, Mechanismen und Mittel der Radikalisierung und Rekrutierung, schließlich der Prävention und Deradikalisierung spielt die audiovisuelle bzw. Online-Propaganda eine erhebliche Rolle. Dies wurde international von Regierungskreisen erkannt, was etwa der White House Summit on Countering Violent Extremism (Februar 2015) oder der Beschluss der EU-Innenminister in Riga (Januar 2015) verdeutlichen. Schockierende Videos, etwa die der Ermordung der Journalisten James Foley, Steven Sotloff oder des jordanischen Piloten Muas al-Kasasba, kriegsverherrlichende „Dokumentationen“ des Erfolgs und der Stärke des IS, volksverhetzende Clips, die indoktrinieren sollen, für die Teilnahme am „Heiligen Krieg“ werben und zu Straftaten aufrufen: Sie werden über das Internet und speziell das Web 2.0 bzw. die Sozialen Medien angeboten und verbreitet. Mit ihren expliziten Darstellungen von Leichen, Tod und Gewalt, aber auch ideologisch-extremistischen Botschaften und Anschauungen – in bisweilen verharmlosender Gestaltung und unter dogmatischer Berufung auf vermeintliche Glaubenslehren des Islam – drängen sie sich gerade jungen Menschen weitgehend unkontrolliert und wenig regulierbar auf. Neben ihrer Verführungskraft stellt die Propaganda ein allgemeines gesellschaftliches und politisches Problem dar: Die Bilder der Wuppertaler „Sharia Police“ um den salafistischen Konvertiten Sven Lau oder die Aufnahmen der „kulturterroristischen“ Verheerungen in Ninive, Nimrud und Hatra Anfang 2015 verunsichern die Bevölkerung, erzeugen einen verzerrten Eindruck von der Lage hierzulande wie in Syrien und Irak. Für Fernsehsender, Zeitschriften oder Online-Medien stellt sich die Frage, wie mit den Bildern der Salafisten und des IS umzugehen ist. Sei es, weil man sich nicht zum Komplizen machen und Extremisten eine Bühne bereiten will, sei es, weil es um die echte oder vermeintliche Wirkung auf das Publikum geht, dessen Stimmung womöglich so aufgeheizt wird, dass sich wiederum außenpolitische Entscheidungsträger unter Druck oder Flüchtlinge und Migranten in gesteigerter Gefahr sehen, Opfer von Ressentiments oder gar Übergriffen zu werden. Nicht nur der reale und direkte Mobilisierungseffekt auf potenzielle Sympathisanten, Unterstützer oder Rekruten oder die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen im Umgang mit Schock- und Agitationsbildern machen daher radikalislamistische Propaganda allein so kritisch, sondern bereits die indirekte Wirkung. Das schon in anderen Bereichen (z.B. Werbung oder Pornografie) beobachtete und gut dokumentierte Phänomen des sogenannten „Andere-Leute-“ oder „Third-Person-Effekts“ kommt hier zum Tragen.3 Gemeint ist damit, vereinfacht gesagt, dass Menschen oftmals die Wirkmacht von Medieninhalten auf andere überschätzen, derweil sie sich selbst als relativ „immun“ wähnen. Diese Wahrnehmungsverzerrung mag auf den ersten Blick beruhigend erscheinen, besagt sie doch, dass Medieninhalte letztlich nicht so gefährlich sind, wie es scheint. Doch tatsächlich bedeutet das nicht, dass Propaganda in der Gesamtbevölkerung keinen signifikantem Einfluss auf Sichtweisen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft hat. Und mehr noch: Die Videos sind – politisch und sozialpsychologisch – umgekehrt eben so brisant, wie sie gemeinhin eingeschätzt werden. Die bloße Annahme einer konkreten individuellen wie gesellschaftlichen Wirk- oder Verführungskraft kann sich niederschlagen in der Forderung von Reglementierungen, nach Verboten und Zensur, im Extremfall in Selbstjustiz-Aktionen im Namen einer vermeintlichen Notwehr gegen ausgemachte „Demagogen“ und diejenigen, die mit ihnen assoziiert werden. Selbst wenn er „nur“ das Konfliktklima weiter anheizt, ist der Third-Person-Effekt also ein möglicher weiterer Eskalationsfaktor in den Auseinandersetzungen um einerseits Benachteiligungs-, Ausgrenzungs- und Diffamierungsgefühle (Mohammed-Karikaturen, „Charlie-Hebdo“-Satire), andererseits Fremdenfeindlichkeit und Systemablehnung („Islamisierung des Abendlandes“, „Lügenpresse“). Ein Faktor, der eine Rolle ausgerechnet in jener bürgerlichen Mitte der Gesellschaft spielt, die über Medienarbeit und -inhalte kritisch nachdenkt.Egal aber, ob es aber um die öffentliche Ordnung geht, um ethisch-moralische Selbstverortung, symbolisch-identitäre Wertebekenntnisse oder die Sorge um konkrete Beeinflussung einzelner: Allein die erzwungenen Überlegungen und Entscheidungen, Propaganda-Bilder nicht oder nur bearbeitet zu verbreiten oder möglichst aus dem Netz zu verbannen (etwa durch Löschungen auf Plattformen wie YouTube), bedeutet, dass Radikale und Terroristen Einfluss darauf nehmen, ob und wie berichtet wird. Etwas, das angesichts der Bedeutung von angstfreier Meinungs- und Informationsfreiheit im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht gleichgültig lassen darf.

Gestaltungsweisen als Untersuchungsgegenstand


Zurück zu den Videos selbst. Müssen wir uns stärker mit der Machart dieser Internet-Filme auseinandersetzen? Ja. Denn ihrer Ästhetik, dem Pathos und der „Coolness“, der sinnlichen, affektive und emotionalen Faszination und Anziehungskraft ist nicht einfach mit inhaltlichen guten Gründen und rationalen Gegenargumenten beizukommen. Wie jede effektive Propaganda zielt die von Salafisten und Jihadisten immer auch auf Gefühle, auf das Erleben. Sie operieren mit Motiven und Vorstellungen, die bei Jugendlichen, die besonders anfällig sind für einfache Lösungen und große Gesten, verfangen. Mehr noch machen sie kalkuliert ein Alternativ- oder gar Gegenangebot zur „biederen“ Vernunft allgemein humanistischer und speziell demokratischer Werte, Normen und Moralität einer Gesellschaft, der man sich nicht zugehörig fühlt. Jede Prävention krankt daran, dass sie bewirbt, was die Jugendlichen ohnehin u.a. in der Schule anempfohlen bekommen, und die Langweiligkeit des pädagogischen Zeigefingers bei allen schicken Designideen von Aufklärungsbroschüren und Kampagnenplakaten distanziert umso mehr. Die Art der Ansprache selbst ist zudem nicht zu trennen von der vermittelten Botschaft. Inhalt und Form können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Entsprechend werden jugendgefährdende wie medienethisch hochproblematische Hass- und Hetzpropaganda im WWW etwa vom in Mainz ansässigen Jugendschutz.net (gegründet von den Jugendministern aller Bundesländer und organisatorisch an die Kommission für Jugendmedienschutz – KJM – angebunden) bewertet. Geprüft werden (audiovisuelle) Texte und gegebenenfalls auf Entfernungen von Web-Plattformen (etwas, das auch erfreulich schnell dem Video Fisabilillah auf YouTube widerfuhr) hingearbeitet. Als offensive Gegenwehr legen wiederum verschiedene Stellen in den Vereinigten Staaten oder auf EU-Ebene Programme zur Entwicklung und zum Einsatz von Gegen-Propaganda und Konternarrativen auf, beispielsweise in Form der vom Center for Strategic Counterterrorism Communications entwickelten Social-Media-Kampagne „Think Again Turn Away“ des US-Außenministeriums. Auch die Wissenschaft befasst sich u.a. zur Folgeabschätzung mit dem Thema, etwa was Inhalte, Rezeption und Wirkungspotenziale anbelangt. Zum Einsatz kommen dabei sozialwissenschaftliche Werkzeuge wie Interviews und Fragebögen oder experimentell psychophysiologische Experimente wie die Messung von Erregungszuständen über die Hautleitfähigkeit beim Betrachten von Propagandavideos. Es sei hier nur die von der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus (FTE) des Bundeskriminalamts (BKA) beauftragte Studie „Propaganda 2.0“4 erwähnt.


So erhellend empirischen Untersuchungen dieser Art auch sind, ihr Erkenntnisgewinn oder Aussagegehalt bleibt doch beschränkt, wenn es um die Alltagspraxis ihrer Nutzung geht. Eine Praxis, die auch immer eine der kulturellen Einbettung und Handlungen ist, eine des realen Publikums, seiner Dispositionen und seines Umfelds. Die Pädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor5 spricht wie auch andere Experten in diesem Zusammenhang von einer Jugendprotestkultur. Und Wolfgang Schmidt bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: „Rap, Comics, die Computerspielindustrie, das Internet: All das vermischt sich mit der Ideologie der militanten Islamisten zu einer neuen ‚counter-culture‘“6 Zu ergänzen wären allerdings noch andere Vorbilder und „Ressourcen“: das Hollywood-Actionkino, Musikvideos, Werbeclips oder die Stilmittel populärer faktualer TV-Formate (Reportagen, Newssendungen).
Was bisherige Betrachtungen, Analysen und Bewertungen weitgehend ausblenden, sind aber eben die Rückgriffe und Anspielungen auf – sowie die Aneignungen von – popkulturellen Inhalte und Verfahren für die Gestaltung der inakzeptablen Thesen und Aufrufe. Verstörend und besorgniserregend wirken aktuelle jihadistische und salafistische Videos ja nicht nur wegen ihrer Gewaltdarstellungen oder der radikalen Geschichts-, Welt- und Menschenbilder, sondern auch wegen ihrer verführerischen Anmutung. Dieser erheblicher Wandel in der ästhetischen Qualität solcher Produktionen in den letzten Jahren strahlt wieder auf den Inhalt aus und stellt selbst eine neue, eigene Herausforderung dar.
Der Begriff der „Ästhetik“ meint in diesem Zusammenhang nicht, wie in der Alltagsverwendung des Begriffs, das (Kunst-)Schöne, sondern schlicht die sinnliche Erlebniserfahrung aufgrund mediengestalterischen bzw., mit Blick auf die Online-Videos, filmformalen und stilistischen Handwerks. Und, nochmals, ein Film kann auch und gerade allein über seine Ästhetik ansprechend sein, affektiv-emotional und damit rhetorisch (also manipulativ oder überredend) wirken, eine geistige Haltung andienen, aussagekräftig und dabei gerade nicht rational-argumentativ wiederlegbar sein. Extremistische Bewegung haben dieses Attraktionspotenzial schon immer verstanden und für sich genutzt, von den Nationalsozialisten bis zu heutigen Neo-Nazis etwa.7
Für die Analyse und Bewertung von Islamisten- und Jihadisten-Propaganda, aber auch zur Entwicklung von Präventionsinhalten und Gegen-Narrativen ist daher eine doppelte Blickerweiterung dringend nötig. Zum einen die des Gegenstandes: Neben den verschiedenen „Texten“ (schriftsprachliche, visuelle, audiovisuelle) sowie der Begleitkommunikation (Kommentare auf Plattformen wie YouTube oder Facebook als Einbettung und Reaktionen) sind die Referenzinhalte und die verschiedenen Arten des intertextuellen Verweise zu berücksichtigen: Wie und wo bedienen sich Demagogen bei der Pop- oder Subkultur, bei Spielfilmen, Computerspielen oder Rap-Videos, ihren jugendattraktiven Formen und ihrer „Sprache“, die ja unterhaltungsästhetische Bedürfnisse bedienen und die Zielgruppe an welcher Stelle „abholen“?
Dies führt – zum zweiten – zu einer breiteren, fachübergreifenden Herangehensweise, durchaus unter Einbezug bereits vorliegender empirischer Erkenntnisse. Dezidiert muss ein spezifisches medien-, kunst- und kulturwissenschaftliches Wissen und damit einhergehende analytische Fähigkeiten heran- und einbezogen werden. Ausgebildete Experten können entsprechend einen Beitrag leisten, indem sie mit ihrer Erfahrung und ihren Kenntnissen hinsichtlich u.a. Genre-Mustern, „Handschriften“ und einem klaren analytischen Beschreibungsvokabular Präsentations- und Argumentationsformen des „Pop-Jihadismus“ (abgeleitet aus dem nicht unbedingt negativ besetzten Begriff des „Pop-Islamismus“) systematisch aufdecken und vergleichen. Sie sind in der Lage die formale Rhetorik und Stilistik zu entschlüsseln, helfen somit die je besondere Attraktivität und Wirkungspotenziale einzuschätzen und zu verstehen oder über Kontinuität und Veränderungen in den Darstellungs- bzw. Inszenierungsweisen die Selbstwahrnehmung von Fundamentalisten samt ihren Widersprüchen herauszuarbeiten und Hilfestellung für die Konzeption von Gegenmaßnahmen zu leisten.8 Dies kann aber nicht neben, sondern nur zusammen mit jener Expertise erfolgen, die jetzt schon für die Beobachtung und Auswertung, die Analyse und Bewertung von Propaganda herangezogen wird: mit ArabistenInnen und IslamwissenschaftlerInnen, die theologische und kulturelle Aussagen und Referenzen übersetzen, einordnen und interpretieren – dies auch regionalspezifisch. Mit MedienwissenschaftlerInnen, die die technischen und sozialen Verbreitungswege, Rezeptions- und Interaktionsweisen untersuchen und das medienkonvergente Zusammenspiel der unterschiedlichen Kommunikationswege und ihrer Gattungen analysieren. Mit SoziologInnen und MedienpädagogInnen, die Erfahrung auf den Gebieten der Radikalismus- und Extremismusforschung mitbringen. Und PraktikerInnen aus dem Bereich Design, Werbung und PR, die schließlich wissen, wie man welche Hörer-, Leser- und Zuschauergruppen gezielt in Kampagnen und crossmedialen Aktionen adressiert, Aufmerksamkeit und Interesse schafft, über längeren Zeitraum hinweg entwickelt und vertieft – Fachleute, die Markenidentitäten etablieren, Bilder in den Köpfen verankern und, im Idealfall, zum Handeln bewegen wollen. Nichts anderes zu tun versuchen schließlich radikalislamistische Propagandisten, und die Verbindung zwischen PR bzw. Werbung und Propaganda ist schon immer eine enge gewesen, wenn nicht gar die Unterschiede zwischen den Begriffe ohnehin in Frage steht.9
Die qualifizierte Beschäftigung mit Salafisten- und Jihadistenvideos als qualitative formalästhetische Untersuchung jenseits oberflächlicher Beschreibungen ist in diesem Gesamtzusammenhang denn auch mehr als bloße geistige Spielerei. Tatsächlich kann sie sogar für die nachrichtendienstliche und polizeiliche Auswertungs- und Ermittlungsarbeit parallel zur technischen digitalen Multimediaforensik von konkretem Nutzen sein. So wenn neben Geräteprofilen oder in Bilddateien eingelagerten Geodaten wiederkehrende Inszenierungs- und Gestaltungsmuster, die kontinuierliche Verwendung von Effektblenden und -filtern oder eine charakteristische Farbdramaturgie auf dieselbe Urheberschaft schließen lassen. Wie der Pinselstrich des Malers oder der individuelle Ausdrucksstil einer Schriftstellerin (bzw. des Verfassers von Erpresser- oder Bekennerschreiben) können Videos analog zu Spielfilmen mit ihren „Autoren“ neben der medialen Sprache, die manipulativen emotional-rhetorischen Formeln (etwa des Pathos') und die allgemeinen Codes des Zeichensystems eine eigene Handschrift präsentieren: die Auswahl der Mittel und ihre je spezifische, etwa kombinatorisch-kompositionelle Anwendung, egal ob und wie diese intendiert oder durchdacht, hochprofessionell oder nur amateurhaft ist.
Von der „Ästhetik“ von Islamisten- und Jihadisten-Videos zu sprechen, bedeutet also keine Verharmlosung oder Nobilitierung von Ideologen, Fundamentalisten und Extremisten und ihrer Aufmerksamkeits- und Ideologiearbeit. Im Gegenteil: es verweist auf die „weichen“ Mittel und Mechanismen der Verblendung und Verführung, hebt deren heikle Relevanz hervor, hilft bestimmte Kreise und Milieus besser zu verstehen, Gegenpositionen zu entwickeln und zu festigen oder gar vorbeugend zu agieren. Gerade weil illegitime Propaganda geistig so hässlich ist, ist die versierte kritische Betrachtung ihrer profanen Sinnlichkeit unvermeidlich.

Anmerkungen

  1. Wie die Logos der Medienstellen al-Furqan, al-I’tisam und Mu’assaat Ajnad oder das Signet des IS darf gemäß des IS-Vereinsverbots des Bundesinnenministers Anfang September 2014 das HMC-Kaligrafiemarke als Kennzeichen nicht mehr zur öffentlichen Verbreitung verwendet werden.
  2. Vgl. dazu etwa Keazor, Henry / Wübbena, Thorsten (2005): Video Thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen. Bielefeld: Transcript.
  3. Erstmals 1983 beschrieben von W. Phillips Davison („The Third-Person Effekt in Communication“, in: Public Opinion Quarterly, 47. Jg, Nr. 1, S. 1-15). Siehe dazu u.a. auch: Brosius, Hans-Bernd / Dirk Engel (1997): „Die Medien beeinflussen vielleicht die anderen, aber mich doch nicht“. Zu den Ursachen des Third-Person-Effekts. In: Publizistik, 42. Jg., Nr. 3, S. 325–345. Speziell zur Mediengewaltdarstellung: Eisermann, Jessica (2001): Mediengewalt. Die gesellschaftliche Kontrolle von Gewaltdarstellungen im Fernsehen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
  4. Rieger, Diana / Frischlich, Lena / Bente, Gary (2013): Propaganda 2.0 – Psychological Effects of Right-Wing and Islamic Extremist Internet Videos (Reihe Polizei + Forschung), München: Luchterhand.
  5. Kaddor, Lamya (2015): Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen. München, Berlin, Zürich: Pieper.
  6. Schmid, Wolfgang (2012): Jung, deutsch, Taliban. Berlin: Christoph Links Verlag, S. 14.
  7. Vgl. u.a. Glaser, Stefan / Pfeiffer, Thomas (Hg.) (2013): Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Unterhaltungswert: Hintergründe – Methoden – Praxis der Prävention. Schwalbach i. Ts.: Wochenschau Verlag.
  8. Verwiesen sei hier beispielhaft auf: Kanzog, Klaus (2001): Grundkurs Filmrhetorik. München: Diskurs Film Verlag; Keutzer, Oliver et al. (2014): Filmanalyse. Wiesbaden: Springer VS; Hill, Charles A. / Helmers, Marguerite (Hg.) (2004): Defining Visual Rhetorics. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum.
  9. Vgl. dazu etwa: Kunczik, Michael (2002): Public Relations. Konzepte und Theorien. 4. Auflage. Köln u. a.: Böhlau.