Salafismus als ideologisches Fundament des Islamischen Staats (IS)


Von Dr. Marwan Abou-TaamundAladdin Sarhan, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz*

Gepaart mit der von salafistischen Predigern eingeforderten Unterwerfung unter den vermeintlichen Willen Gottes, schafft dieses Gebot den Nährboden für die Mobilisierung von Szenemitgliedern und Sympathisanten für den Jihad im In- und Ausland. Dabei vertritt die Szene eine Konzeption, die sowohl gewaltlose als auch gewaltsame Formen des Jihad beinhaltet. Entscheidend bei der Wahl der jeweiligen Form sind die Grenzen des Möglichen, nicht die religiösen Grundsätze. Letztere sind konstant und aus salafistischer Sicht nicht veränderbar. Die Form des Jihad, die von dem jeweiligen Rezipienten vertreten wird, ist stark von der Resonanzentfaltung der Propaganda, den sozialen Umständen und der persönlichen mentalen Situation abhängig. Die gewaltlose Variante des Jihad umfasst die Bemühung mit Worten um den Aufruf zur wahren Religion (ad-da’wa li-d-dîn al-haqq) bzw. um den Islam nach salafistischer Auffassung. So werden das seit 2012 laufende Koranverteilungsprojekt »Lies« und die damit verbundenen Anstrengungen der ehrenamtlich engagierten Personen von der Szene als “eine edle Form des Jihad” bezeichnet.

Trifft die salafistische Propaganda auf Mitglieder und Sympathisanten mit entsprechender Delinquenz, kann sie ebenso in die Mobilisierung für den Jihad im Sinne des militanten Kampfes münden. Dieser kann diverse modi operandi annehmen. Dabei reicht es von situativen Gewaltausbrüchen im öffentlichen Raum über die gezielte Liquidierung von vermeintlichen Feinden des Islam bis hin zu mörderisch indifferenten Terroranschlägen und Ausreisen zu Jihadschauplätzen in Afghanistan, Irak, Syrien, Somalia und anderenorts. Es ist zu beobachten, dass die salafistische Szene in Deutschland seit 2012 zunehmend militant agiert. Als eine wesentliche Ursache hierfür lässt sich die immer stärke werdende gewaltverherrlichende und volksverhetzende Propaganda salafistischer Prediger in Deutschland ausmachen.

Im Juli 2014 kam es zur Ausrufung eines “Islamischen Staats” auf den von der Terrormiliz IS in Irak und Syrien kontrollierten Gebieten. Abu Bakr Al-Baghdadi, Anführer Terrormiliz IS. Al-Baghdadi ernannte sich selbst zum alleinigen Kalifen aller Muslime weltweit und Oberhaupt eines rechtgeleiteten Kalifats. Das von Al-Baghdadi deklarierte Ziel des Kalifats ist die globale Expansion und die Unterwerfung der gesamten Staatengemeinschaft unter den Rechtsnormen eines vermeintlichen wahren Islam salafistischer Auslegung. Al-Baghdadi forderte in seiner Antrittspredigt von allen wahren Muslime weltweit die Anerkennung seines Kalifats und je nach Möglichkeit, das wiederbelebte Kalifat tatkräftig durch die Auswanderung in die vom IS kontrollierten Gebiete zu unterstützen. Die Etablierung einer islamisch-salafistischen Pseudo-Staatlichkeit in Syrien und Irak betrachten viele Salafisten – auch in Deutschland – mit Genugtuung. Sie sehen darin den Beginn der Verwirklichung ihrer ideologischen Ziele. Denn sowohl die Salafisten des IS als auch die Salafisten in Deutschland teilen dieselben Auffassungen – nicht nur hinsichtlich ihrer deckungsgleichen rigiden Leseart des Islam, sondern auch in Bezug auf die angestrebte vollständige Umgestaltung von Staat, Gesellschaft und individueller Lebensführung nach denselben rigiden religiösen Normen. Es wundert daher nicht, dass die Zahl der aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak Syrien ausgereisten Salafisten seit der Ausrufung des Kalifats anhaltend zunimmt. Von über 600 Fällen ist derzeit die Rede. Die meisten ausgereisten Salafisten haben sich dem IS angeschlossen.

Innere Sicherheit in Zeiten von IS: Globale Konflikte und lokale Auswirkungen


Die Auswirkungen der Ausrufung des „Islamischen Staats“ auf die innere Sicherheit europäischer Staaten muss im Kontext der neuen Qualität des Globalisierungsprozesses interpretiert werden. Dieser hat eine Transformation von Raum und Zeit herbeigeführt. Wir können eine Intensivierung weltweiter transnationaler sozialer Beziehungen beobachten, was dazu führt, dass weit entfernte Ereignisse uns heute unmittelbar und schneller als je zuvor betreffen. Dies impliziert nicht nur eine Zunahme von Reibungsmomenten und Konfliktsituationen. Eine der Auswirkungen der Globalisierung lässt sich darin ausmachen, dass daraus resultierende komplexe Interdependenzen die Grenze zwischen Innenpolitik (innerer Sicherheit) und Außenpolitik auflösen. Die innere Sicherheit westlicher Demokratien kann nur dann gewährleistet werden, wenn diese Staaten sich mit dem Phänomen des Salafismus und seiner militanten Spielart Jihadismus an deren Entstehungsorten, also innerhalb der islamischen Zivilisation und im Kontext der soziokulturellen Ereignisse vor Ort auseinandersetzen. Hierbei wird die Komplexität bei der Gestaltung des Sicherheitssektors deutlich, denn die vermeintliche Aufteilung der Welt in Friedenszonen demokratischer Wohlfahrtsstaaten und Kriegszonen, die durch chaotische Zustände charakterisiert sind, wird durch die Realität ad absurdum geführt. Geographische oder gar politische Grenzen sowie räumliche Entfernung zu Konfliktherden stellen keinen ausreichenden Schutz mehr dar. Erschwerend wirkt die Unüberschaubarkeit von Konfliktstrukturen, in denen die kulturellen und zivilisatorischen Faktoren überbetont und als hauptsächliche Konfliktmotivation angegeben werden. Konflikte werden zunehmend entlang kultureller, religiöser oder ethnischer Bruchlinien interpretiert, was den unvoreingenommenen Zugang blockiert und polarisierend wirkt. Als Konsequenz daraus kann die Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland, die durch den Salafismus hervorgerufen wird, nicht damit abgetan werden, dass nur eine kleine Minderheit der Muslime in Deutschland salafistisch orientiert und eine noch kleinere Minderheit militant ist. Die wirkliche Gefahr resultiert aus der polarisierenden Wirkung dieser Gruppen auf der Grundlage einer gemeinsamen weltanschaulichen Wahrnehmung von Konfliktmomenten, was zu Radikalisierung der muslimischen Mehrheiten führen könnte. Seinem Wesen nach ist der Salafismus eben kein Traditionalismus, sondern ein moderner Totalitarismus. In diesem Zusammenhang kommt den salafistischen Strukturen in Deutschland eine womöglich größere Relevanz in ihrer Funktion als Mobilisierungsagenturen einer politisch vermittelten Gegen-Akkulturation zu.
Mit der Ausrufung des Islamischen Staates erreicht der internationale islamistische Terrorismus erneut einen Höhepunkt. Dabei spiegelt die mediale Inszenierung der Gewalt auf brutalster Weise die neue sicherheitspolitische Komplexität wieder. Diese Entwicklung nimmt durch die Globalisierung stetig an Ausmaß zu und erfordert eine weitreichende, angemessene Transformation im sicherheitspolitischen Denken. Die deregulierte Gewaltausübung von nicht-staatlichen Akteuren, wie der IS, stellt nunmehr die größte Bedrohung für die internationale Stabilität dar. Ein Netzwerk gleichgesinnter Jihadisten, die sich auf der Basis einer salafistischen Glaubens- und Weltanschauung organisieren und von der Aussicht inspiriert, für Gott als Märtyrer zu sterben, verursachen mit den einfachsten Mitteln, mehrere tausend zivile Opfer und Schäden in Milliardenhöhe für die Weltwirtschaft. Sie destabilisieren eine ganze Region. Ihre religiöse Weltanschauung erlaubt ihnen eine gewisse Transzendenz des Menschen, in der nicht die Tötungsabsicht der Kämpfer, sondern deren Opferungs- bzw. Todesbereitschaft für höhere Ziele maßgebend ist. Auf der Grundlage ihrer Weltanschauung unterscheiden sie nicht zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten, sondern zwischen mu´minun (Gläubigen) und kafirun (Ungläubigen). Kombiniert mit der Tatsache, dass religiöse Loyalitäten und Einstellungen viel tiefer in den Menschen verankert sind als rein politische Bindungen, werden durch eine gewaltbejahende Weltanschauung mobilisierte Menschen zu unvorstellbaren Grausamkeiten verleitet.
Von einer religiösen Weltanschauung geleitete Gewalt kennzeichnet den Jihadismus, als „action directe“ des Salafismus. Ihre deklarierten Ziele bedrohen den modernen Staat in seiner Existenz, weil sie ambitioniert den universalistischen Anspruch einer Religion mit aller Radikalität durchsetzen und die Westfälische Ordnung durch eine göttliche Ordnung ersetzen will. Denn die salafistische Glaubens- und Weltanschauung liefert eine spezifische Deutung der Welt, sie bildet einen strukturellen Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage eines Weltbildes die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und hieraus Ideal, höchstes Gut und oberste Grundsätze für die Lebensführung abgeleitet werden.
Der Salafismus Speist sie sich in erster Linie aus religiösen Quellen, so wirken die darin inkorporierten Bewertungs- und Deutungsschemata leitend auf das Handeln von Menschen. Somit ist diese Weltanschauung in der alltäglichen Praxis der Gläubigen fundiert. Da Religion in vormodernen Gesellschaften als die selbstverständliche Grundlage menschlichen Denkens gilt, bestimmt sie ihre zivilisatorische Wahrnehmung. Werden weltanschauliche Unterschiede entlang zivilisatorischer Bruchlinien von radikalisierten Gruppen instrumentalisiert, so droht eine Politisierung von Zivilisationsbewusstsein, die eine neue Qualität der Konfliktaustragung in sich birgt. Ihre Zerstörungskraft und die Schadenshöhe führen uns die große Intensität asymmetrischer Kriegsführung vor Augen und manifestieren das sicherheitspolitische Dilemma, in dem sich Staaten befinden.
Salafistische Jihadisten durchdringen geplant und zielgerichtet offene Gesellschaften zwecks Verwirklichung von politischen Zielen, wobei Opfer unter der zivilen Bevölkerung hingenommen und sogar verstärkt im Kontext einer globalen Mediengesellschaft inszeniert werden.

Salafismus nährt die Islamophobie und stärkt sich dadurch


Beim Salafismus handelt es sich um ein enorm heterogenes Phänomen mit einer Vielfalt an Erscheinungsformen, struktureller Beschaffenheit und Folgen. Für die Innere Sicherheit ist dies insofern eine neuartige Herausforderung, als durch die Migration die Grenzen verwischt werden und eine Diffusion von Gefahren stattfindet. 
Durch die Migration werden Weltanschauungen auf das Engste miteinander konfrontiert. In einer pluralistischen Gesellschaft ist dies zunächst unproblematisch. Beansprucht jedoch eine dieser Weltanschauungen, wie der Salafismus, einen alleinigen Geltungsanspruch und tritt aggressiv und radikal auf, um diesen Anspruch auch mit Gewalt durchzusetzen, so entsteht aus dieser Art und Weise der Wahrnehmung der Welt eine reale Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden betroffener Staaten. Im Falle der salafistischen Weltanschauung ist diese Gefahr immanent. Salafisten betrachten den „Westen“ als einen arroganten Gegner, den es zu vernichten gilt. Dabei findet eine Art Dämonisierung der Außenwelt und die Zurückführung allen Übels auf ihre Machenschaften statt. Eine Folge der Dämonisierung der Außenwelt ist September 2014 die salafistische Aktion „Shariah Police“ in Wuppertal entstanden. Hierbei handelt es sich um eine von deutschen Salafisten ins Leben gerufene Missionierungsstrategie, die darauf abzielt, Muslime anzuwerben und zu vermeintlichen islamkonformen Verhaltensweisen zu bewegen. Zudem wurden folgende Verhaltensregeln propagiert: „kein Alkohol, kein Glücksspiel, keine Musik und Konzerte, keine Pornografie und Prostitution, keine Drogen“. Mit dieser Aktion wollten die Salafisten in erster Linie provozieren und die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Diese Form der Missionerung wird von salafistischer Seiten dem militanten Jihad in der Bewertung und Belohnung durch Gott gleichgestellt und korreliert mit den Zielen von IS bei der Schaffung eines weltumspannenden islamischen Gemeinwesens. Dabei wird der Akzent auf die Islamisierung von unten durch Missionierung gelegt. Salafisten bewerten die „deutsche“ Lebensart als gottlos und dekadent.
Die mediale und öffentlichkeitswirksame Agitation der deutschen Salafisten lässt sie mächtiger wirken, als sie es tatsächlich sind. Obwohl Salafisten eine kleine Minderheit innerhalb des deutschen Islam darstellen, bestimmen sie weitestgehend die Islamdebatte in Deutschland. Als transnationale religiöse Bewegung entfaltet sich der Salafismus in Deutschland innerhalb der muslimischen Jugend. Dabei profitiert der Salafismus von einer Integrationsdebatte, die sich auf den Islam verengt, und die Beziehung zu den Muslimen „versicherheitlicht“. Durch den salafistischen Terror weltweit entstand gleichzeitig ein islamfeindliches Klima. Wilhelm Heitmeyer konstatiert in seiner Studie „Deutsche Zustände“ hierzu: „Islamfeindlichkeit ist konsensfähig, auch bei jenen, bei denen es bisher nicht zu erwarten war.“1 Die auf diese Weise verstärkten Identitätskrisen bringen Jugendliche dazu, in eine „negative Identität“2 zu flüchten, so dass das Gefühl sozialer Minderwertigkeit zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht wird. Merkmal der negativen Identität ist das fehlende Vertrauen in die Umgebung.3 Reflexartig reagiert ein Teil dieser Jugend darauf mit der Idealisierung der eigenen islamischen Identität. Die Probleme werden auf den „verschwörerischen Westen“ projiziert, der den Islam bzw. das Fremde schlecht mache. Diese Reaktion ist Ausdruck einer tief empfundenen Ohnmacht, welche ihrerseits die Folge massiver gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ist. Eine solche ethisch labile Zwischenwelt spüren junge Menschen besonders. Sie orientieren sich an kulturellen Bewegungen und suchen nach neuen Formen der Identität und des sinnstiftenden Selbstverständnisses ihrer Lebensverhältnisse. Eine Identitätskrise macht Jugendliche anfällig dafür, sich autoritären Gruppen und Bewegungen anzuschließen, die ihnen feste Normen und Werte vorschreiben. Dies erklärt unter anderem die Tatsache, dass viele junge Menschen in salafistischen Gruppen aktiv sind.
Betrachtet man die organisierte islamophobe Gegenbewegung in Deutschland, so ist es leicht festzustellen, dass sie von den gleichen Mechanismen betroffen sind. So ist die Pro-Bewegung in Deutschland ein Sammelsurium für politisch frustrierte Menschen, die im Islam einen einigenden Feind findet. Diese Feindschaft ist wiederum identitätsstiftend für die Aktivisten. Die Pro-Bewegung mit ihrer Ursprungsformation ist eine Wahlgruppierung der extremen Rechten. Die Muslimfeindlichkeit wird als Modernisierungsticket genutzt. So sind die propagandistischen Aktivitäten der extremen Rechten in Deutschland gegenwärtig von einem anti-islamischen Populismus, der mit rassistischen Parolen aufgeladen wird, gekennzeichnet.4 Hier liegt Deutschland im europäischen Trend. Dieser Populismus nährt sich vom Salafismus und ernährt ihn zugleich. Provokation und Gegenprovokation stärken beide Seiten und verstetigen die gegenseitigen Vorurteile und bestätigen die jeweiligen Vorwürfe. Einen traurigen Höhepunkt erreichte dies in der Eskalation in Bonn in Mai 2012. Demonstranten der Pro-NRW-Bewegung zeigen islamfeindliche Karikaturen. Radikale Salafisten werfen mit Steinen und greifen Polizisten an, die sich zwischen die beiden Gruppen stellen. Ein 25-jähriger Salafist verletzt zwei Beamte durch Messerstiche. Später erklärt der Täter vor Gericht, dass er die deutsche Gerichtbarkeit nicht akzeptiere, weil sie irdisch sei und rechtfertigte seine Tat mit den Worten: „Man kann von einem Muslim nicht erwarten, dass er ruhig bleibt, wenn der Prophet beleidigt wird.“5 Dieser Gewaltausbruch lieferte den Islamkritikern die Argumente, die sie brauchen, um gegen den Islam zu hetzen und sich weiter zu konsolidieren. Es wurden weitere provokative Aktionen mit Karikaturaustellungen vor Moscheen geplant. Die Mehrheit der Muslime reagiert darauf nicht. Doch die Salafisten sehen darin die Möglichkeit, sich als wahre Gläubige zu beweisen.

Salafismus — präventionspolitische Ansätze


In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Phänomen Salafismus aufgrund der direkten Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch einen Teil des salafistischen Spektrums zu einem Beobachtungs- und Analysegegenstand entwickelt, der nicht nur für den Verfassungsschutz, sondern auch in hohem Maße für die Polizeibehörde
an Relevanz gewonnen hat. Die Mehrheit der Salafisten lehnt zwar bis heute Gewalt, besonders terroristische Gewalt, zur Verbreitung ihrer religiösen Vorstellungen und ihrer Ideologie ab, propagiert jedoch eine intolerante Haltung gegenüber Andersgläubigen. Diese Intoleranz begünstigt eine mögliche Hinwendung zum Jihadismus. Selbst gewaltablehnende Salafisten sympathisieren mit den jihadistischen Aktivisten und stellen ein Umfeld dar, in welchem für den militanten Jihad des IS rekrutiert werden kann. Diese Gefahr ist in Deutschland mehrfach Realität geworden.
In den letzten Jahren konnte die deutsche Polizei die meisten geplanten Anschläge vereiteln. Alle an den Planungen dieser Anschläge Beteiligten waren Salafisten. Dies gilt im Übrigen für alle im Focus der Ermittlungsbehörden stehenden Gefährder (als solche gelten Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden) und relevanten Personen. Letztere sind Menschen, die innerhalb des extremistischen Spektrums die Rolle einer Führungsperson oder eines Unterstützers einnehmen und bei denen davon ausgegangen wird, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung
fördern, unterstützen oder begehen könnten. Die Sicherheitsbehörden reagieren auf diese Radikalisierung im salafistischen Milieu auf verschiedenen Ebenen. Neben einer repressiven ermittlungsorientierten Vorgehensweise wurden unterschiedliche Konzeptionen zur Deradikalisierung entwickelt – mit dem Ziel, eine Plattform für einen systematischen Erfahrungs- und Informationsaustausch über »good practices« Maßnahmen und Handlungsansätze zur Bekämpfung von Radikalisierung zu schaffen.
In Niedersachsen wurde Mitte 2010 eine Arbeitsgruppe gebildet, in der das dortige Landesamt für Verfassungsschutz und das Landeskriminalamt den Auftrag haben, ein Konzept zur »Anti-Radikalisierung« zu entwickeln. Die Federführung hat das LfV. In Hessen hat das LKA der dortigen Forschungsgruppe in Zusammenarbeit mit der Abteilung Staatsschutz den Auftrag erteilt, ein Deradikalisierungskonzept zu erarbeiten.


Währenddessen setzt Baden-Württemberg sein Deradikalisierungskonzept um. Die dortigen Sicherheitsbehörden arbeiten mit der baden-württembergischen Landeszentrale für politischen Bildung eng zusammen. Es werden Fortbildungen und Sensibilisierungsmaßnahmen realisiert. Das Konzept des LKA Hamburg „Verstehen-Verbünden-Vorbeugen“ basiert auf einem netzwerkorientierten Ansatz gegen den „islamistischen Extremismus“. Unter der Prämisse, dass Prävention im Bereich des islamistischen Extremismus eine Aufgabe für Spezialkräfte ist, werden Wissenschaft, Sicherheitsorgane und muslimische Akteure vernetzt. In der praktischen Umsetzung konzentriert sich das Konzept auf die Mikroebene. Hauptzielgruppe für Sensibilisierungsmaßnahmen sind Mitarbeiter von Institutionen, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unterschiedlichen Stadtteilen zu tun haben. Auf Bundesebene wurde beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die „Beratungsstelle Radikalisierung eingerichtet, an die sich jene wenden können, die sich um die Radikalisierung eines Angehörigen oder Bekannten sorgen und zu diesem Themenbereich Fragen haben.
Deradikalisierung ist einerseits ein individueller Prozess, bei dem eine radikalisierte Person ihr Bekenntnis und Engagement für extremistische Denk- und Handlungsweisen, insbesondere die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele, aufgibt. Andererseits beschreibt Deradikalisierung Maßnahmen, die darauf abzielen, Personen oder Gruppen dazu zu bewegen bzw. dabei zu unterstützen, sich aus dem extremistischen Umfeld herauszulösen und extremistische Handlungen aufzugeben (Disengagement) sowie entsprechende Denkweisen abzulegen. Die beste Form der Deradikalisierung ist die (Rück)Gewinnung von jungen Menschen für Demokratie. Toleranz, Respekt gegenüber Andersdenkenden und ziviler Umgang mit Konflikten sind Kernkompetenzen der modernen Gesellschaft. Jungen Menschen muss verdeutlicht werden, dass dies einen ausreichenden Rahmen für die Selbstentfaltung bietet und mit der Religion in keinem Konflikt steht. Es ist kein Widerspruch, Muslim und Demokrat zu sein. Somit bedarf es als Folge dessen der Dekonstruktion allgemein gültiger Vorstellungen von Rollenzuschreibung und der Rekonstruktion des Bürgerbegriffs entlang einer verfassungsrechtlich garantierten Bürgerschaft. Dies geschieht natürlich nicht durch eine Direktive des Politischen, vielmehr müssen zivilgesellschaftlich orientierte Kräfte den politischen Diskurs mitbestimmen, um verändernde Kräfte in der Gesellschaft entwickeln zu können.
Zur erfolgreichen Umsetzung von Deradikalisierungsmaßnahmen ist die Vernetzung von Teilkompetenzen (Polizei, Jugendämter, Migrationsbeauftragte, Integrationsministerium usw.) eine wichtige Voraussetzung. Dies gilt ebenfalls für die Einbindung muslimischer Partner. Die einzelnen Akteure können somit ihre jeweiligen Erfahrungen in islamisch geprägte Milieus einbringen und Synergien entwickeln, die in Zeiten knapper finanzieller Mittel von besonderer Bedeutung sind.

Anmerkungen

  1. Heitmeyer, in: Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände: Folge 9, 2010, S. 69.
  2. Foroutan/Schäfer, APuZ 5/2009, 11 (12 f.).
  3. Negative Identitäten sind sozial unerwünschte oder vom Individuum als Abweichung von der Norm bewertete Verhaltensmuster. Negative Identität äußert sich hauptsächlich als Trotz und Ablehnung gegen gesellschaftliche Vorgaben. Auf dieser Ebene können keine normalen sozialen Beziehungen aufgebaut werden, denn in einer instabilen und widerspruchs-vollen Kultur ist es Menschen kaum möglich, eine stabile Persönlichkeit zu bilden.
  4. Häusler, Die „PRO-Bewegung“ und der antimuslimische Kulturrassismus von Rechtsaußen, Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, 1/2011, S. 3.
  5. Ramelsberger, SZ v. 10.10.2012, S.61.


*AUTOREN:

Dr. Marwan Abou Taam ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz und assoziierter Partner des Projekts „Identitäts- und Abgrenzungsrituale von Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund im deutsch-europäischen Innen- und Außenverhältnis (Heymat)„ an der Humboldt-Universität zu Berlin.Aladdin Sarhan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke.