Prävention von Jugendkriminalität durch die Polizei

Von EKHK a.D. Klaus Kemper, Duisburg

 

1 Allgemeines


Die vom Bundeskriminalamt jährlich veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2019 wirft, abzüglich der ausländerrechtlichen Verstöße, eine Anzahl von 5.270.782 bekannt gewordenen Fällen aus, was ein Minus von 2,3% gegenüber 2018 bedeutet.2 Dabei wurden 2.960.340 Delikte aufgeklärt und insgesamt 1.896.221 Tatverdächtige ermittelt – 1,8% weniger als im Vorjahr.3 Ein besonderes Augenmerk von Politik und interessierter Öffentlichkeit liegt dabei auf dem Anteil jugendlicher Straftäter. 2019 wurden 170.132 junge Menschen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren als Tatverdächtige ermittelt, ein Anteil dieser Altersgruppe von 9% an der Gesamtzahl. Dieser Wert ist im Vergleich zum Vorjahr (169.724) nahezu gleichgeblieben.4

Als Anfang der 1990er Jahre ein starker Anstieg der Jugenddelinquenz zu verzeichnen war und das Thema auch in der Presse breiteren Raum einnahm, sahen sich die politischen Entscheidungsträger in der Pflicht, das Thema offensiv anzugehen, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Das geschah insbesondere vor dem Hintergrund, dass junge Menschen dieser Altersgruppe mit entsprechenden Maßnahmen noch zu erreichen sind und dadurch von einer verfestigten kriminellen Kariere abgehalten werden können.

Da das Phänomen „Jugendkriminalität“ ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, nahm man jetzt neben den originär mit Belangen junger Menschen betrauten Institutionen, wie z.B. Jugendämter und Schulen, auch die Strafverfolgungsbehörden in die Pflicht. So wurden in der Folgezeit diverse organisatorische wie inhaltliche Ansätze in das Portefeuille polizeilicher Aufgabenwahrnehmung integriert, um damit das (weitere) Abgleiten junger Menschen in die Kriminalität zu verhindern. Weil der Autor dieses Artikels sein polizeiliches Berufsleben in Nordrhein-Westfalen (NRW) verbracht hat, werden im Folgenden vorwiegend Maßnahmen besprochen, die in den letzten ca. 30 Jahren zur Bekämpfung bzw. Vorbeugung der Jugendkriminalität in die Organisationsstruktur seiner Heimatbehörde Duisburg sowie den polizeilichen Arbeitsalltag Einzug gehalten haben. In den anderen Standorten von NRW sind die Verfahrensweisen zwar hier und da im Detail unterschiedlich, letztlich ähneln sich aber die Aktivitäten zum Erreichen der Zielvorgabe, zumal ihnen ein beim LKA eingerichtetes eigenes Dezernat im präventiven Bereich koordinierend zur Seite steht.

Auch in den Polizeibehörden der übrigen Bundesländer sind die Zuständigkeiten für Präventionsarbeit verschieden geregelt, und dementsprechend unterscheiden sich oft auch die Ansätze und deren Durchführung. Allerdings unterstützt die beim LKA in Stuttgart angesiedelte Zentrale Geschäftsstelle des Programms Polizeiliche Kriminalprävention (ProPK) mit themenbezogenen einheitlichen Broschüren bundesweit die Vorbeugungsdienststellen und sorgt damit für eine einheitliche Grundausrichtung.

 

2 Einrichtung von Präventionsdienststellen


Zwar ist die Prävention im Polizeigesetz NRW als ein Grundpfeiler polizeilicher Aufgabenwahrnehmung verankert, jedoch beschränkte sie sich Anfang der 1990er Jahre bei der Kriminalpolizei vorwiegend auf das Motto „Prävention durch Repression“. In den Dienststellen installierte Jugendsachbearbeiter sollten sich um Tatverdächtige zwischen 14 und 18 Jahren kümmern und notwendige Kontakte zum Jugendamt unterhalten. Arbeitsaufkommen und Personalknappheit in den Kommissariaten ließen aber eine intensive Beschäftigung mit jugendlichen Tätern nur selten zu. Trotzdem gab es neben gelegentlichen Vorträgen an Schulen zum Thema Drogen in Form einer Art „Stoffkunde“ in vielen Standorten erste Ansätze, zusammen mit anderen Institutionen, wie Jugendamt und Schule, präventive Kooperationsprojekte auf den Weg zu bringen. Diese Maßnahmen wurden später teilweise auch in wissenschaftlichen Abhandlungen veröffentlicht bzw. besprochen.5

Im Rahmen einer NRW-weiten Neuorganisation der Polizeibehörden in den Jahren 1993/1994 wurde dem Thema Prävention dann durch Einrichtung eigener Dienststellen gezielt Rechnung getragen. Als jugendtypische Kriminalität wurde zunächst der Kontakt zu illegalen Drogen, sehr schnell aber auch die Gewaltkriminalität angegangen. Die in diesen Sachraten eingesetzten Vorbeugungsbeamten hielten in den Folgejahren eine Vielzahl von Vorträgen, vorwiegend bei Siebt- und Achtklässlern, deren Eltern und Lehrkräften und brachten sich in diverse, teilweise mehrere Jahre laufende Präventionsprojekte mit ein. Als Duisburger Beispiele seien hier die Aktionen

 

  • Mensch ärgere Dich: ein pädagogisches Konzept zur Gewaltprävention mit den Partnern Jugend- und Schulamt sowie Polizei, dem Verein „res novae“ und der Bereitschaftspolizei6,
  • Fair ist mehr: ein von Polizei, Jugend- und Schulamt in Kooperation mit „res novae“ durchgeführtes Fußballturnier für achte Klassen mit besonderen gewaltpräventiven Regeln, bei dem in der Endrunde Profis des damaligen Erstligisten MSV Duisburg die Mannschaften komplettierten,

genannt.

 

3 Präventionserlasse in NRW


Da dieser neue Schwerpunkt polizeilicher Arbeit auch einer formellen Anordnung der Politik bedurfte, veröffentlichten die in NRW zuständigen Ministerien im Dezember 1996 einen ersten Erlass zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.7

Viele Kommunen der Bundesrepublik bildeten in der Folgezeit, nach einem in Lübeck praktizierten Projekt, sog. „kriminalpräventive Räte“, in denen kommunale und private Träger sowie die Strafverfolgungsbehörden vertreten sind, und in die auch das Thema „Prävention Jugendkriminalität“ einfließt. In Duisburg heißt dieses Gremium „AKKV“ (Arbeitskreis Kriminalitätsvorbeugung). Den Vorsitz haben der Rechtsdezernent der Stadt sowie die Polizeipräsidentin, die Geschäftsführung liegt beim Präventionskommissariat. 1997 wurde darüber hinaus auch das bereits erwähnte ProPK gegründet.

An dieser Stelle soll kurz auf die drei verschiedenen Ebenen der Kriminalprävention eingegangen werden:8

 

  • Primäre (universelle) Prävention: Sie soll im frühen Stadium der Persönlichkeitsentwicklung, also z.B. schon im Kindergartenalter oder in der Schule durch Wertevermittlung und Problemlösungsangebote der Entstehung von Kriminalität entgegenwirken.
  • Sekundäre (selektive) Prävention: Sie soll die Adressaten, je nach Zielgruppe, für gezielte technische Maßnahmen zur Verhinderung von Kriminalität sensibilisieren oder, besonders Jugendliche, zu Verhaltensänderungen animieren.
  • Tertiäre (indizierte) Prävention: Dabei handelt es sich um Maßnahmen zur Verhinderung erneuter Straffälligkeit.

Da der o.g. Erlass den angesprochenen Behörden recht großen Spielraum bei der Umsetzung ließ, wurde er in der Folgezeit häufig sehr weit ausgelegt. Primärpräventive Aktionen fallen in der Regel in die Zuständigkeit von Pädagogen. Die Maßnahmen der Polizei betreffen eher die Sekundär-, in Einzelfällen auch die Tertiärprävention. Da die Grenzen der Zuständigkeiten, insbesondere im pädagogischen Bereich, immer wieder verschwammen, sah sich das Innenministerium NRW zur Bildung einer Arbeitsgruppe veranlasst, deren Ergebnisse die Grundlage für einen Runderlass „Aufgaben der polizeilichen Kriminalprävention“9 bildeten. Er wurde im Laufe der Jahre aktualisiert und ist nach mehreren Änderungen derzeit in der aktuellen Fassung aus 2019 gültig.10 Um den mit der Vorbeugungsproblematik befassten Institutionen eine weitere Orientierung in ihren Arbeitsbereichen zu geben, erschien einige Jahre später der gemeinsame Runderlass „Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität“.11

 

 

4 Aktuelle Maßnahmen/Projekte


Bei der Arbeit mit jungen Menschen unterstützen die polizeilichen Vorbeugungsdienststellen vorwiegend Kooperationsprojekte anderer Institutionen mit Vortragstätigkeiten. Dabei handelt es sich sehr oft um von weiterführenden Schulen initiierte Veranstaltungen zu den jugendtypischen Themen „illegale Drogen sowie Gewalt- und Eigentums-, aber auch Computerkriminalität“, die im Unterricht behandelt werden sollen und bei denen sich die Polizei mit ihrer Kernkompetenz, der Aufklärung über delinquente Verhaltensweisen und damit verbundene strafrechtliche Aspekte einbringt. Diese Vorträge vor Schülern sind immer eingebettet in schulische Konzepte, sodass die Lehrkräfte sie vorher und danach pädagogisch aufbereiten können. Oft werden die Fachberater der Kriminalprävention auch zu Lehrerkonferenzen oder Elternabenden eingeladen, um den Zuhörern zumindest grobe Kenntnisse über die Problematik strafbewehrten Verhaltens ihrer Schutzbefohlenen und die zu erwartenden Folgen zu vermitteln.

Neben der Arbeit der Präventionsdienststellen wurden in der Vergangenheit bei vielen Behörden weitere Projekte installiert, um kriminelle Karrieren delinquent gewordener Jugendlicher zu unterbinden, von denen hier zwei exemplarisch genannt werden:

4.1 Das Duisburger JIT-Programm

Seit 2007 existiert in Duisburg das Programm „Jugendliche Intensivtäter“ (JIT), ein Kooperationsprojekt von Polizei, Gericht, Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe und Jugendamt, in das junge Menschen aufgenommen werden, die bereits mehrfach straffällig geworden sind und Gefahr laufen, ohne Intervention endgültig in die Kriminalität abzurutschen.

Wer innerhalb eines Jahres mindestens fünf schwere Straftaten begangen hat, kommt auf eine Liste, die nach einem deliktsbezogenen Punktesystem (z.B. fünf Punkte für eine Raubstraftat oder drei für ein schweres Eigentums- oder Körperverletzungsdelikt) jährlich erstellt wird. Die Spitzenreiter, im Jahr 2020 sind es derzeit 36 Personen, werden in das Programm aufgenommen. Jeder dieser Intensivtäter wird einem der fünf Kriminalbeamten des Projektes zugeordnet, der ab dann engen Kontakt zu ihm hält und bei erneuter Straffälligkeit die beschleunigte Sachbearbeitung übernimmt. Aufgrund der Intervention der Projektverantwortlichen der anderen Institutionen vergeht bis zum Termin vor dem Jugendgericht höchstens ein halbes Jahr, sodass die Täter recht schnell eine Konsequenz für ihr Handeln spüren. Aber auch ohne erneute Delinquenz werden die Probanden wiederholt von Polizei und Jugendamt zuhause aufgesucht. Die Entwicklung der Jugendlichen wird regelmäßig überprüft, und bei positiver Entwicklung bzw. Prognose werden sie wieder aus dem Programm entlassen.

4.2 Haus des Jugendrechts

Sinn eines „Hauses des Jugendrechts“ ist die enge Kooperation von Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe bei Verfahren gegen jugendliche Tatverdächtige in einem Gebäude. Die räumliche Nähe der Institutionen erleichtert dabei den schnellen Austausch von Informationen und die zeitnahe Absprache notwendiger Maßnahmen untereinander, um möglichen kriminellen Karrieren der jungen Menschen entgegenwirken zu können, wobei stets der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts im Vordergrund steht. Nach einem Pilotprojekt der Stadt Stuttgart im Jahr 1999 wurden mittlerweile derartige Einrichtungen in vielen Kommunen diverser Bundesländer wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Hessen eingerichtet. In NRW sind das unter anderem die Städte Dortmund, Köln, Paderborn sowie Essen, und auch in Duisburg wird über eine solche Eirichtung nachgedacht.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor war Leiter des Kriminalkommissariats für Kriminalprävention und Opferschutz (KK KPO) beim Polizeipräsidium Duisburg.
  2. Bundeskriminalamt PKS 2019 - IMK Bericht, S. 10.
  3. Bundeskriminalamt PKS 2019 - IMK Bericht, S. 11.
  4. Bundeskriminalamt PKS 2019 - IMK Bericht, S. 33.
  5. Fengler, Handbuch der Suchtbehandlung, Beratung, Therapie, Prävention, S. 400 ff., Landsberg/Lech, ecomed, 2002 ISBN 3-609-51980-0.
  6. Projektdokumentation erstellt von res novae e.V./Verlag Duisburg 1997.
  7. Bekämpfung der Jugendkriminalität, Gem. RdErl. d. Innenministeriums - IV D 2 – 6591, d. Justizministeriums - 4201 - III A.10, d. Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales - IV B 2 - 6150 - u. d. Ministeriums für Schule und Weiterbildung - II B 3 - 36-87/0 - v. 4.12.1996.
  8. soztheo.de/kriminologie/kriminalpraevention/.
  9. RdErl. d. Innenministeriums - 42- 62.02.01 - v. 28.9.2006.
  10. Polizeiliche Kriminalprävention RdErl. des Ministeriums des Innern - 42 - 62.02.01 – v. 9. 5. 2019.
  11. Gem. RdErl. d. Ministeriums für Inneres und Kommunales, des Justizministeriums, d. Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter, d. Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport und d. Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 22.8.2014 (MBl. NRW. S. 493).