Kinder im Ermittlungsverfahren

Möglichkeiten und Grenzen der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen (Teil 1)


Von KOK`in & Ass. jur. Julia Luther, Kiel1

 

1 Einleitung


Im Herbst 2020 ging ein Fall durch die Medien, der für einen Aufschrei sorgte: Nachdem ein Streit unter Sechsjährigen in einem Berliner Hort durch die dortigen Aufsichtspersonen nicht geschlichtet werden konnte und der Vater eines Jungen angerufen werden sollte, um seinen Sohn abzuholen, soll dieser einer Erzieherin auf die Hand geschlagen haben. Die Folge? Die Betreuungseinrichtung erstattete Anzeige wegen Körperverletzung – und die Berliner Polizei nahm die Ermittlungen auf - der Junge wurde als Beschuldigter vorgeladen.2 Kann das sein?


Kinder stehen in Deutschland unter einem besonderen rechtlichen Schutz. Das wird u.a. dann deutlich, wenn ein Kind etwas macht, wodurch es den Tatbestand einer strafgesetzlichen Verbotsnorm realisiert: Es kann für einen solchen Verstoß nicht zur Verantwortung gezogen werden, da es vor dem Gesetz als schuldunfähig gilt. Darum darf auch die Polizei auch kein Ermittlungsverfahren gegen es führen.


Bisweilen wirft das Probleme auf, da es aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden aus verschiedenen Gründen geboten erscheinen kann, strafprozessuale Maßnahmen durchzuführen. Dies kann der Fall sein, wenn die Identität oder das Alter des Tatverdächtigen nicht feststeht, da bspw. lediglich mündliche Angaben hierzu vorliegen. Können diese Angaben beim Verdacht der Strafunmündigkeit im Rahmen des Ermittlungsverfahrens verifiziert werden? Des Weiteren gibt es Konstellationen, in den Erwachsene oder Heranwachsende die Strafunmündigkeit von Kindern für sich ausnutzen und diese für sich Straftaten begehen lassen. Wenn Kinder als unmittelbar Handelnde festgestellt werden, stellt sich die Frage, ob Maßnahmen ergriffen werden können, um die strafrechtlich verantwortliche Person zu ermitteln. Es stellt sich daher die Frage, welche Maßnahmen die Polizei zum Zwecke der Ermittlungen ergreifen darf und welche nicht.


Der Umgang der Polizei mit Kindern in Ermittlungsverfahren ist in der PDV 382 geregelt. Diese basiert auf aktuellen kriminologischen Erkenntnissen und soll die Grundlage für eine moderne Arbeit der Polizei sein.3 Die PDV wurde 1995 novelliert und in weiten Teilen gegenüber der vorherigen Fassung von 1987 verändert. Sie liefert Handlungsanweisungen für die tägliche Polizeipraxis.


Die Positionen dazu, wie mit tatverdächtigen Kindern im Ermittlungsverfahren umzugehen sei, gehen weit auseinander und reichen von einem restriktiven Vorgehen, dass jede weitere Maßnahme bei dem Verdacht auf Strafunmündigkeit untersagt4 bis hin zu der Theorie, dass lediglich die Anwendung des Strafrechts, nicht aber die des Strafverfahrensrechts durch die fehlende strafrechtliche Verantwortlichkeit gesperrt sei5.

 

2 Kinder in der Rechtsordnung


Kinder werden im deutschen Recht besonders geschützt. Dieser Schutz findet sich sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht wieder, wenn auch nicht mit einheitlichen Altersgrenzen. Der Entwicklung junger Menschen und der damit einhergehenden Reife des Verstandes und der Einsichtsfähigkeit wird durch eine Art Abstufung der rechtlichen Verantwortlichkeit Rechnung getragen.

2.1 Abgestufte Verantwortlichkeit

Im Zivilrecht wird dies durch die umfassende Geschäftsunfähigkeit von Kindern bis zum 6. Lebensjahr, § 104 BGB, sowie die ab dem 7. Lebensjahr beginnende und bis zum 18. Lebensjahr reichende eingeschränkte Geschäftsfähigkeit deutlich, §§ 106 ff. BGB.


Im Strafrecht findet sich diese Abstufung durch die Unterteilung in Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in Abgrenzung zu den Erwachsenen statt. Erst für Jugendliche, also ab dem 14. bis zum 18. Lebensjahr, wird eine eingeschränkte, der Entwicklung entsprechende Schuld- und Einsichtsfähigkeit angenommen.6 Jüngere Kinder sind nicht schuldfähig und auch das JGG findet keine Anwendung. Auf diese Weise wird verhindert, dass Kinder in gleicher Weise mit den Konsequenzen ihres Verhaltens konfrontiert werden wie Menschen, deren Entwicklung bereits weiter fortgeschritten ist.

2.2 Kinder als Träger von Grundrechten

In Bezug auf die Fähigkeit, selbst Träger von Grundrechten zu sein, findet in der deutschen Rechtsordnung keine Abstufung der Rechtsfähigkeit statt. Es ist gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, dass Kinder ab der Geburt Träger der aller Grundrechte sind.7 Dies ist mit Blick auf die Frage nach der Möglichkeit der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen gegen tatverdächtige Kinder insofern von Bedeutung, als dass sich die Frage stellt, ob und in welchem Umfang Grundrechtseingriffe bei Kindern stattfinden dürfen.


Unter einem Eingriff ist dabei jedes staatliche Handeln zu verstehen, dass dem Einzelnen ein in den Schutzbereich eines Grundrechts fallenden Verhaltens, ganz oder teilweise unmöglich macht.8 In der Praxis ist das bspw. der Fall, wenn durch die Polizei eine Strafanzeige aufgenommen wird. Denn hierbei werden unter anderem ohne oder gegen den Willen der betroffenen Person deren persönliche Daten erfasst. Da aber jeder Mensch grundsätzlich selbst über die Verwendung seiner persönlichen Daten entscheiden kann, stellt die Anzeigenaufnahme einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.9


Aus diesem Grund sind Grundrechtseingriffe nur zulässig, wenn sie aufgrund einer Ermächtigungsgrundlage erfolgen und sowohl formell als auch materiell rechtmäßig sind. Die Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen im Strafverfahren finden sich in der StPO. Unter Berücksichtigung der Regelung des § 19 StGB stellt sich aber die Frage, inwieweit staatliche Eingriffe auf Grundlage der StPO in die Rechte von Kindern erfolgen können.

2.3 Der Status von tatverdächtigen Kindern im Ermittlungsverfahren

Die Art der Anwendbarkeit der StPO richtet sich maßgeblich danach, ob tatverdächtige Kinder den Status eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erhalten können. Denn viele der strafprozessualen Maßnahmen, die für die Ermittlung einer Straftat erforderlich sind, sind an eben diese Eigenschaft geknüpft.

 

2.3.1 Beschuldigtenfähigkeit trotz Strafunmündigkeit?

Der Begriff des Beschuldigten ist nicht legaldefiniert. Aus diesem Grund wird teilweise vertreten, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens lediglich das Vorliegen eines Tatverdachtes erfordere. Nicht erforderlich sei hingegen, dass der Täter für deren Begehung auch bestraft werden könne. Dies resultiere aus dem Auftrag an die Polizei, Straftaten zu erforschen. Für junge Menschen sei gesetzlich lediglich vorgesehen, dass die Schuldfähigkeit im Strafverfahren ausgeschlossen sei, aber gerade keine Einschränkungen der Ermittlungstätigkeit der Polizei.


Des Weiteren habe der Gesetzgeber bewusst auf eine Definition des Beschuldigten verzichtet. Zwar werde dieser in § 157 StPO zum Zwecke der Definition des Angeschuldigten und des Angeklagten zugrunde gelegt, eine eigenständige Beschreibung des Beschuldigten aber fehle im Gesetz. Dies habe zur Folge, dass die Versuche einer Definition durch Literatur und Rechtsprechung vielfältig seien. In jedem Fall sei es höchst fraglich, den Status des Beschuldigten lediglich auf einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen. Denn bei Aufnahme einer Anzeige gegen eine bestimmte Person und die Eintragung in das JS‑Register erfolge die Statuszuweisung aus formalen Gründen und nicht auf Grundlage einer willentlichen Entscheidung.10


Die Rechtsprechung gehe davon aus, dass derjenige Beschuldigter sei, der tatbestandsmäßig gehandelt habe und der deswegen strafrechtlich verfolgt werde.11 Der Ermessensspielraum der Strafverfolgungsbehörde beziehe sich dabei lediglich darauf festzustellen, ob ausreichend Beweise vorliegen, um von einem konkreten Tatverdacht auszugehen.12 Die Schuldfähigkeit sei insoweit unerheblich. Vielmehr müsse der Grundsatz „Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit“13 gelten. Aus diesem werde ersichtlich, dass Schuld zwar eine Voraussetzung für die Bestrafung sei, aber gerade nicht für das Vorliegen einer Straftat. Dies sei relevant, da die Polizei zwar den Auftrag zur Erforschung von Straftaten habe, der Gesetzgeber den Begriff der Straftat bzw. Tat in der StPO uneinheitlich verwende und keine Legaldefinition geliefert habe. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass Straftaten mit Strafe bedrohtes, menschliches Verhalten seien. Die materiell-rechtliche Feststellung, ob Schuldunfähigkeit vorliege, obliege nicht den Strafverfolgungsbehörden, sondern genau wie in den Fällen des § 20 StGB14 dem Gericht.15 Es gebe gerade keinen Grundsatz, der das Einschreiten der Strafverfolgungsbehörde nur für die Fällen normiere, in denen die Schuldfähigkeit des Tatverdächtigen zweifelsfrei feststehe. Es sei wichtig, dass die Polizei tatverdächtige Kinder als Beschuldigte behandle und sie auch entsprechend belehre. Durch die Beschuldigtenbelehrung komme dem Kind auch ein ausreichender Schutz vor negativen Auswirkungen durch das Strafverfahren zu. Die Vorteile des Beschuldigtenstatus überwiegten jedoch, da so bspw. Tatzusammenhänge zu früheren Taten des Kindes aufgedeckt werden könnten.


Auf § 19 StGB müsse nur insoweit Rücksicht genommen werden, als dass er ein Hindernis für das gerichtliche Verfahren darstelle, mit der Folge, dass bei Feststellung des Alters durch das Gericht das Verfahren gegen das Kind nicht weiter betrieben werden dürfe.

2.3.2 Umfassende Sperrwirkung des § 19 StGB

Dieser Auffassung kann entgegengehalten werden, dass die aus dem Legalitätsgrundsatz des § 152 II StPO resultierende Pflicht der Strafverfolgungsbehörde einzuschreiten, sich auf alle verfolgbaren Straftaten beziehe. Eine Straftat im Sinne des § 152 II StPO erfordere auch die Sanktionierung mittels Strafe. Andernfalls hätte auf den Begriff der rechtswidrigen Tat, wie er in § 11 I Nr. 5 StGB legaldefiniert ist, zurückgegriffen werden müssen.


Eine Legaldefinition des Beschuldigtenbegriffs hingegen sei nicht erforderlich, da entscheidend sei, dass nur derjenige Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren sein könne, gegen den sich das Verfahren richtet. Hierfür reiche der Anfangsverdacht noch nicht aus, es müsse ein hinreichender Tatverdacht bestehen.16 Man könne aber ein tatverdächtiges Kind nicht einfach zu einem de facto Beschuldigten erklären, um das Ermittlungsverfahren gegen es betreiben zu können. Auf diesem Wege würde aus dem Ermittlungsverfahren ein Mittel zur Sanktionierung des Verhaltens des Kindes gemacht. Eine derartige Umgehung des gesetzlichen Schuldausschluss stellte aber ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen dar.


Ein Vergleich des § 19 StGB mit den schuldausschließenden Normen §§ 20, 323c StGB verbiete sich aufgrund des Umstandes, dass im Fall des Strafunmündigkeit eine Feststellung grundsätzlich auch ex ante möglich sei. Bei den Schuldausschließungsgründen wegen Krankheit oder Rausch sei dies aber erst nach einer gerichtlichen Bewertung möglich. Anders als bei Jugendlichen, deren geistige und seelische Reife vor Gericht festgestellt werden müsse, § 3 JGG, bedürfe es für die Feststellung der Strafunmündigkeit eines Kindes gerade nicht der richterlichen Beurteilung, so dass eine Gleichsetzung von § 19 StGB mit §§ 20, 323c StGB nicht möglich sei.Solange Zweifel an der Strafmündigkeit bestünden, kämen zudem aufgrund des fortbestehenden Aufklärungsbedarfs zulässiger Weise weitere Ermittlungsschritte zur Ausräumung dieser Zweifel in Betracht.17 § 19 StGB stelle somit ein Prozesshindernis dar, dessen Umfang sich nicht nur auf das gerichtliche Verfahren sondern auch auf das Ermittlungsverfahren erstrecke.18


Ein Verdächtiger werde durch einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörde zum Beschuldigten, wenn sich im Rahmen der Ermittlungen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat in Sinne des § 152 II StPO ergeben19 und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden muss (Legalitätsgrundsatz). Bei der Einleitung des förmlichen Verfahrens handle es sich gerade um die Realisierung dieser Willensbildung.20 Wegen der fehlenden Strafmündigkeit von Kindern könne ein solcher Wille der Strafverfolgungsbehörde aber gerade nicht gegen sie gebildet werden.21


In der Folge könnten Kinder zwar rechtswidrige Taten im Sinne des § 11 I Nr. 5 StGB begehen und dieser auch verdächtig sein, es liege aber wegen der fehlenden Verantwortlichkeit keine strafrechtlich verfolgbare Tat im Sinne des § 152 II StGB vor. Die Schuldunfähigkeitsvermutung des § 19 StGB stelle ein umfassendes Strafverfolgungshindernis dar, so dass die Strafverfolgungsbehörden keine Strafverfolgungskompetenz haben.22

 

2.3.3 Stellungnahme

Sowohl der Beschuldigtenstatus als auch einige Vorschriften der StPO knüpfen an das Vorliegen einer Straftat an. Eine Straftat liegt vor, wenn ein menschliches Verhalten im StGB oder einem anderen Gesetz als verboten beschrieben ist, keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind und der Täter schuldhaft gehandelt hat. Es genügt gerade nicht, dass lediglich der Straftatbestand erfüllt ist. Andernfalls würde der Schutzzweck des § 19 StGB ins Leere laufen. § 19 StGB ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und ist, wie auch die §§ 20, 323c StGB, Ausdruck des im Grundgesetz geltenden Schuldprinzips nulla poena sine culpa23 aus Art. 103 II GG, § 1 StGB. Das bedeutet, dass eine Strafe für die Verletzung einer Verbotsnorm nur verhängt werden kann, wenn die Tat dem Täter persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann. Anders als bei den §§ 20, 323c StGB ist es bei § 19 StGB jedoch nicht erforderlich, dass das Gericht von der Schuldunfähigkeit und -verminderung überzeugt ist. Die Schuldunfähigkeitsvermutung des § 19 StGB ist jedoch am Alter des Tatverdächtigen festgemacht und unwiderleglich.24 So legt auch die PDV 382 in Nr. 3.1.1 diesen Grundsatz als Ausgangslage für alle strafrechtliche Verfahren, an denen Kinder als Tatverdächtige beteiligt sind, zugrunde. Für Verfahren in Ordnungswidrigkeitenverfahren setzt sich dies mit der Feststellung der Unfähigkeit zum vorwerfbaren Handeln in Nr. 5.1 fort. Im Weiteren liegt das Augenmerk jedoch auf den strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Kindliches delinquentes Verhalten kann mangels Schuld nie eine Straftat sein. Da der Beschuldigtenstatus aber nur bei dem Verdacht des Vorliegens einer solchen zugewiesen werden kann, kann ein Kind in keinem denkbaren Fall Beschuldigter in einem Strafverfahren sein. Die Strafverfolgungsbehörde ist, sofern nur ein Kind als Tatverdächtiger in Betracht kommt, daher nicht befugt ein Ermittlungsverfahren gegen das Kind einzuleiten.25 Sofern wegen Unkenntnis über das Alter zunächst ein Verfahren eingeleitet wurde, wäre dieses unverzüglich einzustellen, sobald das Alter des Kindes feststeht.

2.4 Maßnahmen auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr

Streng zu unterscheiden von den repressiven Maßnahmen der StPO sind die landesrechtlich geregelten Ermächtigungsgrundlagen, die der Polizei die Möglichkeit zum Einschreiten zum Zwecke der Gefahrenabwehr einräumen. Aufgrund der Doppelfunktionalität einiger Vorschriften ist auf die strikte Trennung zwischen repressiven und präventiven Maßnahmen zu achten. Das Verbot der strafprozessualen Verfolgung darf nicht auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr umgangen werden.

 

3 Maßnahmen nach der StPO bei Kindern


Der Schutz vor Eingriffen durch den Staat, der Kindern im Strafverfahren zuteilwird, ist sehr weitreichend. Da Kinder nicht den Beschuldigtenstatus innehaben können, folgt daraus, dass sie ausschließlich in Verfahren, die gegen Dritte geführt werden, von Maßnahmen nach der StPO betroffen sein können.

3.1 Ermittlungsziele

Für die polizeiliche Arbeit im Zusammenhang mit Minderjährigen findet die PDV 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“ Anwendung.


Diese hält in Nr. 3.1.1 die zulässigen Ermittlungsziele für den Fall, dass der Verdacht der Begehung einer rechtswidrigen Tat durch ein Kind besteht, fest. Die Ermittlungen sind nur darauf auszurichten, ob

  • strafmündige Personen beteiligt sind,
  • Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflicht vorliegen,
  • vormundschaftsgerichtliche und behördliche Maßnahmen u.U. gegen die Erziehungsberechtigten anzuregen sind
  • die Identität zum Zwecke der Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche festzustellen ist.

Lediglich die ersten beiden Ziele der PDV sind für Ermittlungsverfahren relevant. Auf die Möglichkeiten, mit dem Fehlverhalten von Kindern auf anderem Wege als dem strafprozessualen umzugehen oder Ansprüche auf dem zivilrechtlichen Weg geltend zu machen, wird daher im Folgenden nicht eingegangen werden.

3.2 Grundsätzliches zum Umgang mit Kindern im Verfahren

Aufgrund des besonderen Schutzes, der Kindern in einem Ermittlungsverfahren zuteilwerden soll, werden durch die PDV 382 Nr. 3.2 einige allgemeine Grundsätze beschrieben, denen möglichst Rechnung zu tragen ist. So gilt die Regel, dass alle Ermittlungen, die ein Kind betreffen, tatzeitnah durchzuführen sind und möglichst durch einen Jugendsachbearbeiter erfolgen sollen. Außerdem müssen Kinder nach dem Abschluss der Maßnahme an einen Erziehungsberechtigten übergeben werden oder, sofern dies nicht möglich ist, dem Jugendamt zu überstellen. Sofern Kinder transportiert werden müssen, soll dies einzeln geschehen.

3.3 Vorladung und Belehrung

In einem Ermittlungsverfahren muss der Beschuldigte über seine Rechte belehrt und über die ihm vorgeworfene Tat in Kenntnis gesetzt werden. Kinder können aber, wie bereits festgestellt, keine Beschuldigten sein. In Ermittlungsverfahren, in denen eine Befragung des Kindes jedoch erforderlich ist, weil der Tatverdacht sich auf weitere, strafmündige Verdächtige erstreckt, ist es daher gemäß Nr. 3.4.1 als Zeuge vorzuladen, zu belehren und zu vernehmen.


Schwierig gestaltet sich dabei, dass die Rechte von Zeugen schwächer als die von Beschuldigten sind. Im Gegensatz zum Beschuldigten ist ein Zeuge grundsätzlich zur Aussage und zur Wahrheit verpflichtet. Müsste ein Kind also auf das Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) oder das Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) verwiesen werden, wenn es sich andernfalls selbst belasten würde?


Das Zeugnisverweigerungsrecht regelt den Personenkreis, der zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt, abschließend26 und bezieht sich gerade nicht auf die zur Aussage verpflichtete Person selbst.27 Zur Verweigerung des Zeugnisses wäre das Kind somit nicht berechtigt. Das Auskunftsverweigerungsrecht bietet lediglich die Möglichkeit, die Auskunft auf Fragen zu verweigern, mit denen der Zeuge sich oder einen nahen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen würde. Zu allen weiteren Fragen müsste das Kind Angaben machen und wäre auch nicht berechtigt, zu lügen, um sich selbst zu schützen.


Besteht also die Gefahr, dass das Kind zum Zeugen gegen sich selbst wird?28 Die Privilegierung des Beschuldigten bei der Aussageverweigerung rührt daher, dass im Strafrecht das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit gilt. Niemand muss sich selbst einer verfolgbaren Straftat belasten und auch Schweigen auf eine Frage darf nicht zum Nachteil des Befragten gewertet werden.29 Diese Gefahr besteht bei der Befragung eines Kindes nicht.30 Selbstwenn also der Tatverdacht durch die von ihm gemachten Angaben erhärtet würde, folgten daraus keine strafrechtlichen Konsequenzen. Damit greift der Sinn und Zweck des Prinzips der Selbstbelastungsfreiheit in dieser Konstellation nicht.31 Für das tatverdächtige Kind hat das zur Folge, dass es nur zur Verweigerung der Beantwortung von Fragen zur Tat berechtigt ist, wenn es sich aufgrund Verwandtschaft mit dem Beschuldigten in einer Konfliktlage nach § 52 StPO befände oder es einen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzte, § 55 StPO.


Dies entspricht auch den Handlungsanweisungen der PDV 382. Danach ist das Kind, wenn es mit dem Ziel der Ermittlung der Straftat weitergehend befragt werden soll, als Zeuge zu belehren und auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen, Nr. 3.4.1. Dabei ist wichtig, dass auch der Erziehungsberechtigte über dieses Recht des Kindes belehrt wird. Dieser hat jedoch gemäß Nr. 3.5.1 kein Recht, das Aussageverweigerungsrecht für das Kind auszuüben. Eine Vernehmung gegen den Willen des Kindes hat zu unterbleiben, Nr. 3.5.2.

3.4 Die Vernehmung

Seit der aktuellen Fassung der PDV 382 aus dem Jahr 1995 ist in Nr. 3.6.4 das Recht zur Anwesenheit bei der Vernehmung für Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter vorgesehen. Soll das Kind dennoch alleine vernommen werden, um eine Beeinflussung zu vermeiden, so dies nur möglich, wenn das Kind sich nicht mehr im Vorschulalter befindet und die Vernehmung in Abwesenheit der Erziehungsberechtigten in Absprache mit diesen erfolgt. Bei der Vernehmung sieht die PDV vor, dass nach Möglichkeit nur eine umfassende Vernehmung des Kindes erfolgt, da die mehrfache Vernehmung zu unzumutbaren Belastungen führe und auch Aussagen verfälscht werden könnten, Nr. 3.6.1.


(Fortsetzung des Beitrages folgt in der Ausgabe 4/2023)


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Anmerkungen

 

  1. Die Autorin hat Rechtswissenschaften studiert und war nach der Zweiten Juristischen Staatsprüfung zunächst als Rechtsanwältin tätig. 2015 ist sie zur Landespolizei Schleswig-Holstein gewechselt und dort heute als Kriminaloberkommissarin im Sachgebiet 223 (Finanzermittlungen, Geldwäsche, Vermögensabschöpfung) im Landeskriminalamt tätig. Grundlage des Fachaufsatzes ist ihre Bachelorarbeit im Rahmen des Studienganges „Polizeivollzugsdienst (B.A.)“. Der Rückgriff auf Inhalte der Arbeit erfolgt insoweit mit Zustimmung des Dekanats des Fachbereichs Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung sowie der betreuenden Lehrkraft.
  2. Rosenfelder, 2020, Wenn die Grundschule einen Sechsjährigen anzeigt, www.spiegel.de/panorama/bildung/berlin-wenn-die-grundschule-einen-sechsjaehrigen-anzeigt-a-5de783eb-6c45-4fb5-90e6-370b46bca290, abger. am 28.8.2022.
  3. PDV 382, 1995, Vorwort.
  4. Ostendorf, 2021, Jugendgerichtsgesetz, 11. Auflage, Grdl. z. §§ 1 u. 2, Rn. 10.
  5. Schoene, 1999, Können Kinder Beschuldigte sein?, in: DRiZ, S. 321-324 (321).
  6. Dölling, in: Brunner/Dölling, 2022, Jugendgerichtsgesetz, 14. Auflage, § 1 Rn. 19.
  7. BVerfGE 24, 119 (144).
  8. BVerfGE 105, 279 (299).
  9. BVerfGE 65, 1.
  10. Schoene, a.a.O., S. 321.
  11. BGHSt 10, 8 (12).
  12. BGHSt 37, 48.
  13. BGHSt 2, 200.
  14. Fischer, 2023, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 70. Auflage, § 20 Rn. 65.
  15. Schoene, a.a.O., S. 322.
  16. Heßler, 2003, Kinderdelinquenz und polizeiliches Handeln, in: JAmt, S. 398-401, S. 399.
  17. Walter, 1999, Zulässigkeit der Strafverfolgung von Kindern?, in: DRiZ, S. 325-326 (325).
  18. Frehsee, 1988, „Strafverfolgung“ von strafunmündigen Kindern, ZStW, S. 290-328 (296); Kintzi, 1997, Kinder als Tatverdächtige, in: DRiZ, S. 32-36 (33); Ostendorf, 1995, Jugendsachbearbeitung der Polizei unter besonderer Berücksichtigung der kriminalpolitischen Entwicklungen, in: DVJJ-Journal, S. 103-107 (107); Walter, a.a.O., S. 322.
  19. BGHSt 10, 8 (12); 37, 48 (51).
  20. BGH Urt. v. 30.12.2014, 2 StR 439/13.
  21. Holzmann, 2008, Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen Tatverdächtigen, S. 141.
  22. Heßler, a.a.O., S. 399; Kintzi, a.a.O., S. 32.
  23. BVerfGE 2, 194, 200; 9, 167, 169; 20, 323, 313; 23, 127, 132.
  24. Landeskriminalamt Niedersachsen, 2008, Richtlinie für Verfahren mit Kindern als Tatverdächtige (strafunmündige Kinder), Nr. 4.
  25. Holzmann, a.a.O., S. 143.
  26. Krey/Esser, 2011, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Auflage, § 30 Rn. 45ff.
  27. Frehsee, a.a.O., S. 301.
  28. Verrel, 2001, Kinderdelinquenz – ein strafprozessuales Tabu? In: NStZ, S. 284-290 (285).
  29. BVerfG NStZ 95, 555; BGHSt 32, 140, 144; BGHSt 38, 302 305.
  30. Frehsee, a.a.O., S. 301.
  31. Verrel, a.a.O., S. 285.