Ein Weg durch zwei Systeme

Eine Karriere in der Kriminalpolizei


Von KHK a.D. Rolf Strehler, Aschersleben

 

Zunächst möchte ich unserer Fachzeitschrift „Die Kriminalpolizei“, herzlich zum 40. Geburtstag gratulieren. Es ist mir eine Ehre, dass ich mich zum wiederholten Mal zum Kreis der Autoren zählen darf. Dieser Beitrag soll rückblickend den Weg durch eine kriminalpolizeiliche Karriere im „Land der Frühaufsteher“1, beschreiben. Die kleine Zeitreise beginnt im Jahr 1980 und endet im November 20172. Sie führt durch die spannenden und rasant verlaufenen Evolutionsprozesse der Polizei in Sachsen-Anhalt, einem sog. „neuen“ Bundesland. Die Einflüsse und Auswirkungen dieser Entwicklungen auf einen persönlichen Lebenslauf in der Landespolizei sollen dabei im Mittelpunkt stehen. Der Fokus wird auf meine prägenden Verwendungen, einerseits als Fachlehrer an einer Polizeischule und andererseits auf verschiedenen Dienstposten in der Kriminalpolizei gerichtet sein. Um dem Thema gerecht zu werden, seien mir zunächst einige Gedanken auf die ersten Etappen meines Lebenslaufes und auf die Polizeikarriere in der zusammengebrochenen DDR, gestattet.

 

 

1 Bis 1990: Angehöriger der Deutschen Volkspolizei


Die 37 Jahre meiner persönlichen Laufbahn verliefen in zwei grundsätzlichen Etappen. Die ersten 10 Jahre war ich Angehöriger der Deutschen Volkspolizei. Ich bin mir bewusst, dass man einige Bemerkungen über diese Zeit von mir erwarten darf, wenngleich hier nur grundlegende Überlegungen Platz finden können. Als Sohn eines Polizisten war ich 1980 in die Transportpolizei3 eingetreten. Als 23-jähriger Dienstanfänger wollte ich Kriminalist werden. Damals hätte ich mir niemals vorstellen können, dass die DDR nach nur zehn Jahren im Desaster untergehen würde. Am 9. November 1989, meinem 32. Geburtstag, fiel die Berliner Mauer. Gewaltlos! Ein revolutionärer Aufbruch, der, mit unaufhaltsamer Wucht, letztlich zum Untergang des politischen Systems der DDR und in die deutsche Einheit führte, war entflammt. Für die erste meiner beiden Laufbahnetappen war das Ende besiegelt. Durch diese tiefgreifenden Zäsuren hatte auch die „Deutsche Volkspolizei“ ihre Existenzberechtigung verloren. Damit war auch die Abwicklung meiner damaligen Dienststelle, die ehemalige „Offiziersschule des Ministeriums des Innern der DDR“ in Aschersleben, verbunden. Die Konsequenzen waren tiefgreifend. Die Liegenschaft der Schule und das verbliebene Personal wurden nur noch verwaltet und alle noch laufenden Lehrgänge abgebrochen. Zahlreiche Funktionen im Verwaltungsbereich standen zur Disposition. Es folgte eine ungewisse Zeit zwischen rasant verlaufenden politischen Entwicklungen. Unsere persönlichen Lebensfundamente waren aus dem Gleichgewicht geraten. Die Angehörigen der Volkspolizei der DDR standen plötzlich vor einer Situation, auf die sie nicht vorbereitet gewesen waren. Auch ich musste Entscheidungen treffen, die sehr stark vom Verlauf des Vereinigungsprozesses abhängig waren. Wie geht es weiter? Bleibst du bei der Polizei? Was wird aus Deiner Familie? Damals war noch nicht abzusehen, dass es für mich zu einem Start in eine neue Etappe kommen würde. Der Übergang in mein zweites Lebenssystem war mehr als nur ein gewaltiger Paradigmenwechsel. Er gestaltete sich als ein kompletter Neuanfang.

 

2 Lehrer an der Polizeischule Aschersleben4


Von 1982 bis 1984 studierte ich in einer Spezialklasse für zukünftige Kriminalisten, an der Offiziersschule in Aschersleben, der späteren Landespolizeischule Sachsen-Anhalt. Ich schloss das Studium mit dem obligatorischen Titel „Staatswissenschaftler“ und dem Dienstgrad „Leutnant der Kriminalpolizei“5 ab. Bereits im 3. Semester hatte ich das Angebot angenommen, als sog. Lehrassistent für Strafrecht/Strafverfahrensrecht, an der Schule zu verbleiben. Voraussetzung für die Zuweisung eines entsprechenden Dienstpostens als Fachlehrer war allerdings ein Hochschulstudium. Um in die höhere Laufbahn6 aufzusteigen, absolvierte ich deshalb, neben meiner dienstlichen Tätigkeit als Lehrkraft und Klassenleiter, ein 6-jähriges juristisches Fernstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin.7


Nach etwa zwei Studienjahren (um 1985/86) begannen die Krisenerscheinungen in Staat und Gesellschaft unübersehbar zu werden. Wir jungen Lehrkräfte verspürten eine zunehmend tiefe Verunsicherung. Es war offensichtlich, dass bei Partei und Regierung auf die Öffnungspolitik Gorbatschows keine Zustimmung zu erwarten war. Besonders durch die Montagsdemonstrationen hatte sich der Druck auf die politische Entwicklung in einem atemberaubenden Tempo aufgebaut. Zum Glück haben alle Seiten, auch die Einsatzzüge der Polizeischule Aschersleben, in Leipzig die Nerven behalten, so dass dieser Prozess gewaltlos verlaufen ist. Viel Zeit zum Nachdenken blieb uns damals nicht. Plötzlich, im Alter von 33 Jahren, fand ich mich in einer nebulösen persönlichen und beruflichen Warteschleife wieder. Ich hatte mein Fernstudium abgeschlossen und am 5.7.1990 meine Urkunde als „Diplom-Jurist“ erhalten. Mein Weg zur Uni führte durch das Stadtzentrum von Berlin und war von Straßenhändlern gesäumt, die bereits Reliquien des untergegangenen „Arbeiter- und Bauern-Staates“ feilboten. Die Befürchtung, dass man die Humboldt-Universität und damit auch mein Studium ohne Abschluss abwickeln könnte, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Eine neue Ungewissheit machte sich indes breit. Welchen Wert wird dieser Abschluss haben? Die Sorge um die eigene berufliche Zukunft war bis zum Prozess der Verbeamtung ein ständiger Begleiter.


In dieser Phase der Ungewissheit und offener Fragen traf ich die Entscheidung, einen Neustart in der Polizei zu wagen. Ich verblieb also an der Polizeischule und fing an, mich auf die neue Zeit vorzubereiten. Zunächst Übergangsweise im Angestelltenverhältnis wurde ich 1991 zum Kriminalkommissar z.A. ernannt. Nach dreijähriger Probezeit wurde ich Beamter auf Lebenszeit des Landes Sachsen-Anhalt. Somit war mein Übergang in ein völlig anderes System „de facto“ gelungen und „de jure“ besiegelt. Einer zweiten kriminalpolizeilichen Karriere, zunächst als Lehrkraft, stand nichts mehr im Wege.

 

3 Die Suche nach Verwendungsbreite


Ich hatte im Verlaufe meiner aktiven Dienstzeit oft die Forderung nach „Verwendungsbreite der Beamten“ vernommen. Gemeint war wohl weniger die Spezialisierung und Motivation für bestimmte Fachbereiche, als vielmehr die Fähigkeit, überall eingesetzt werden zu können. Ich verstehe darunter eher ein solides allgemeines Fachwissen, um vielseitig kompetent zu sein. Der „Universalkriminalist“ wird aber bei hochkomplexen Verfahren oder bei Spezialkenntnissen erfordernden Sachverhalten schnell an seine Grenzen stoßen. Das galt auch schon, als Internet und Digitalisierung noch nicht die Welt verändert hatten. Spezialisierung und Verwendungsbreite müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Da die Schule eine Art theoretische Insel darstellt, ist es aus meiner Sicht gerade für einen Polizeilehrer unerlässlich, starke Impulse aus der polizeilichen Praxis zu erhalten. Darin habe ich ein dominierendes Motiv für die meisten meiner Verwendungswechsel gesehen. Ein erfolgreiches Comeback an der Polizeischule auf der Basis umfassender und selbst erlebter praktischer Erfahrungen war das langfristige Ziel. Allerdings kam einiges anders, als es in meinem persönlichen Planentwurf vorgesehen gewesen war.


Die entscheidende Zäsur meiner Zeitreise ist der historische Tag der Deutschen Einheit. Alles war irgendwie auf „Reset“ gestellt, wir warteten ungeduldig und gespannt auf richtungsweisende Signale und Aktionen. Dann traf die Nachricht ein, dass die Polizeischule in einer neuen Form fortbestehen würde. Aus der ehemaligen zentralen Einrichtung würde die Landespolizeischule des Landes Sachsen-Anhalt hervorgehen. Ich hätte mir damals gut vorstellen können, dass die Einrichtung eine gemeinsame Schule für alle fünf Länder des Beitrittsgebietes werden könnte. Das stand jedoch offenbar nie ernsthaft auf der Tagesordnung. Somit hatte ich eine erste entscheidende Lektion gelernt. Polizei ist Ländersache! Meine beruflichen und gewerkschaftlichen Erfahrungen sollten mich jedoch in den Folgejahren auch zu einer weiteren Erkenntnis führen. Das föderalistische System mit der jeweils eigenen Landespolizei hat zwar historisch begründete Ursachen, weist jedoch auch einige gewichtige Nachteile auf.


Eines war völlig klar, auf dem Territorium aller „neuen“ Bundesländer, also auch in Sachsen-Anhalt, musste die Innere Sicherheit durch eine funktionierende Polizei gewährleistet werden. Man überprüfte also den vorhandenen Personalbestand auf „Altlasten“, die eine Übernahme in die Landespolizei ausschließen würden. Ein Teil wurde deshalb „gegauckt“8, während einer beträchtlichen Anzahl ehemaliger Volkspolizisten die Chance auf einen Neuanfang geboten wurde. Der Aufbau einer neuen Polizei hatte begonnen. Auf die Polizeischule kamen gleichzeitig gewaltige Aufgaben zu, wovon einige unverzüglich angepackt werden mussten.

 

 

4 Beschulung von „Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft“


Basierend auf den einschlägigen Rechtsgrundlagen ging aus dem „Einigungsvertrag“, zwingend hervor, dass der Status „Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft“9 nur an diejenigen Polizisten mit Vollzugsaufgaben vergeben werden darf, die eine gültige Ausbildung nachweisen konnten. Im Wesentlichen waren damit die entsprechende Befähigung und Ermächtigung zur Wahrnehmung besonderer Anordnungskompetenzen gemeint. Also entwickelten wir schnellstmöglich ein System von Tageslehrgängen, um sicherzustellen, dass alle Polizisten im Vollzugsdienst in die polizeilichen und strafprozessualen Eingriffsrechte eingewiesen werden konnten und somit handlungsfähig wurden. Als Lektor und Autor für die Beschulungsunterlagen war ich unmittelbar an diesem Prozess beteiligt. Es galt zu berücksichtigen, dass viele „neue“ Rechtsnormen und die „alten“, also die bisher bei uns geltenden, sich auf den ersten Blick sehr stark ähnelten. Das galt auch für Eingriffsrechte. Die juristisch relevanten Unterschiede und die rechtsstaatlichen Hintergründe mussten unmissverständlich dargestellt werden, was nicht so ganz einfach war. Am Ende der Veranstaltungen wurden die Kenntnisse der Teilnehmer mittels „Multiple-Choice-Verfahren“ geprüft und Zertifikate ausgestellt. Das war eine äußerst spannende Zeit, getragen von einer unglaublichen Dynamik!

 

5 Anpassungsfortbildung


Unabhängig davon war es dringend notwendig, den übernommenen Polizeibeschäftigten des Landes die Intuition des Grundgesetzes sowie die polizeirelevanten Gesetze zu vermitteln. An der ehemaligen Polizeischule in Aschersleben erschien eine Gruppe Beamter aus dem benachbarten Niedersachsen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, dem gesamten Personalbestand einer kompletten Landespolizei schnellstens Rechts- und Handlungssicherheit zu vermitteln. Neben optimistischer Aufbruchsstimmung, schwangen auch auf beiden Seiten Vorurteile und Misstrauen mit. Man raufte sich aber zusammen und lernte sich gegenseitig zu respektieren. Der Abbau der unsichtbaren Mauer in den Köpfen hatte erst angefangen.

 


Campus der Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt.


In einem Basislehrgang wurden Lehrkräfte, darunter auch ich, zu Multiplikatoren ausgebildet. Nachdem das abgeschlossen war, wurden zwei Fachbereiche, jeweils für den gehobenen und den mittleren Dienst, aufgebaut. In einem Zeitraum von etwa drei Jahren war der gesamten Polizei Sachsen-Anhalts ein tragfähiges Basiswissen für rechtsstaatliches Handeln zu vermitteln. Insbesondere Polizeirecht, Staats- und Verfassungsrecht, Strafrecht/Strafprozessrecht, Verkehrsrecht sowie Beamtenrecht waren die Schwerpunktfächer. Die Lehrgänge waren vergleichbar mit einer polizeilichen Grundausbildung und endeten mit einer entscheidenden schriftlichen Abschlussprüfung. Nachdem ich meine Prüfung erfolgreich bestanden hatte, durfte ich mich Multiplikator nennen und wurde Leiter einer Lehrgruppe für den mittleren Dienst. Die spannende Mission „Anpassungsfortbildung“, die wir unter vorgehaltener Hand „Umerziehung“ genannt hatten, nahm ihren Lauf. Nach ca. 2,5 Jahren hatten wir lückenlos die gesamte Polizei des Landes auf ein akzeptables fachlich-rechtliches Grundniveau geführt. Mir war es vorbehalten, im letzten Lehrgang die verbliebenen „Restanten“ zu beschulen. Bei dem Gedanken, dass ich einem großen Prozentsatz der Polizeiangehörigen rechtliches Rüstzeug für ihren Dienst vermitteln durfte, schwang schon ein wenig Stolz mit. Es gab aber natürlich auch noch andere Hürden zu nehmen.

 

6 Ortsgruppe der „Gewerkschaft der Deutschen Volkspolizei“


Eine spezielle Polizeigewerkschaft hatte in der DDR nicht existiert. Wir hielten es jedoch für dringend notwendig uns zu organisieren, um unsere Interessen zu vertreten. Es ging damals u.a. um solche fundamentalen Dinge wie die Anerkennung unserer Abschlüsse, Vordienstzeiten oder die unmittelbare Sicherung von Arbeitsplätzen. Wir hatten deshalb an der Polizeischule eine Ortsgruppe der „Gewerkschaft der Deutschen Volkspolizei“ gegründet, die sich für eine relativ kurze Übergangszeit um unsere Sorgen gekümmert hat, bevor wir uns zumeist der Gewerkschaft der Polizei (GdP) angeschlossen haben. Ich hatte mich damals auf der Gründungsveranstaltung für Einigkeit und Sachlichkeit eingesetzt. Bei den ersten Personalratswahlen trat ich für die GdP-Liste an. Wir gewannen die meisten Stimmen, was für mich das vorläufige Ende meiner Zeit als Lehrer bedeutete. Ich wurde Personalratsvorsitzender der Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt, mit 100% Freistellung, was angesichts der vielen unklaren Problemstellungen auch nötig war. Wir waren damals selbständiger Personalrat, mit allen Mitbestimmungsrechten ausgestattet, was sich für uns wie ein Sprung in kaltes Wasser anfühlte. „Learning by doing“ war das Gebot der Stunde. Völlig unerfahren im Personalvertretungsrecht und im Öffentlichen Dienstrecht stellten wir uns der Verantwortung und haben viele Sachverhalte zu einem guten Ergebnis gebracht. Darunter waren Mitbestimmungsfälle zu zahlreichen Einzelschicksalen und existenziell grundlegende Entscheidungen zu bestimmten Beschäftigtengruppen, die wir zu bewältigen hatten. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Dienststelle war ein spannendes Feld, mit vielen neuen Erfahrungen – für beide Seiten. Es ist uns damals auch weitestgehend gelungen, mit den Vertretern der DPolG und des BDK fair zusammenzuarbeiten und ich habe es in den vielen Jahren bis zu meiner Pensionierung niemals verstanden, warum es eine Konkurrenz geben muss.


Nach Abschluss der Anpassungsfortbildung entwickelte sich die Schule in den Folgejahren zur heutigen Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt. Hier werden die Laufbahngruppen I und II ausgebildet sowie die Fortbildung zentral organisiert. Auch der Auswahldienst ist hier angesiedelt. Ich war für etwa ein Jahr Leiter des Bereiches Grundausbildung (m.D.). Der große Anteil an Bewerberinnen für den Polizeidienst und die Tatsache, dass auch minderjährige Anwärter und Anwärterinnen unmittelbar nach Abschluss ihrer Schulzeit in der Ausbildung waren, stellten uns täglich vor anspruchsvolle Aufgaben, die wir so noch nicht kannten.


Im Zeitraum 2006/2007 wurde die Schule grundlegend umorganisiert, um für die Anforderungen der nächsten Jahre aufgestellt zu sein. Der Lehrbereich Grundausbildung war davon insofern betroffen, dass er einem anderen Bereich zugeordnet wurde. Mein Dienstposten war dadurch weggefallen. Für mich ergab sich, neben anderen Alternativen, die Option ein Praktikum in der Kriminalpolizei zu absolvieren. Da ich ohnehin die Absicht hatte, Praxisluft zu schnuppern und meine kriminalpolizeilichen Kompetenzen auf eine sichere Basis zu stellen, nutzte ich die diese Veränderungschance.

 

7 Mein Weg in die Kriminalpolizei


Die Polizei Sachsen-Anhalt war damals in fünf Direktionen (PD) gegliedert. Ich wurde auf eigenen Wunsch in die PD Halberstadt10 versetzt. Dies passierte zu einer Zeit, da Einsatzblätter noch von Hand geschrieben wurden und Computer mit ihren monströsen Monitoren noch geheimnisvolle Maschinen waren. Handarbeit mit Schreibmaschinen war noch angesagt. Ein landesweit vernetztes System der Informationserfassung und Vorgangsbearbeitung war Zukunftsmusik. Ich landete im Zentralen Kriminaldienst, im 1. Fachkommissariat (FK). Zu meinen Hauptgebieten gehörten die PKS, die Kriminalaktenhaltung sowie die Operative Informationsverarbeitung und -auswertung. Riesige Drucker spuckten ellenlange und für mich unverständliche Datensätze aus, die es dennoch zu interpretieren galt. Viel Zeit der Einarbeitung hatte ich allerdings nicht, da ich nach kurzer Zeit den Kommissariatsleiter für viele Monate ersetzen musste. Dennoch dauerte es eine Weile, bis ich genügend Einblick in die Materie gewonnen hatte. Der Wechsel vom Fachlehrer in die kriminalpolizeiliche Praxis hatte zwar mit trockener Statistik begonnen, er wurde dennoch zu einer gewaltigen, spannenden Umstellung. Die Einblicke in die Welt der PKS und polizeilichen Datenverarbeitung haben meinen kriminalistischen Horizont sehr erweitert. Beispielsweise lernte ich, die nebulös-sensible Kausalbeziehung zwischen Aufklärungsquote und Personalstärke zu verstehen. Zahlen, egal wie sie entstanden sind, dienten als Entscheidungsgrundlage. Diese spannende Erkenntnis sollte mir im Verlauf meiner Karriere helfen, den Hintergrund scheinbar unverständlicher Personal- und Strukturmaßnahmen der Polizeiführung zu erahnen. Das galt auch für den Einfluss statistischer Eckzahlen auf eigene Entscheidungen. Da ich in vielen Bereichen praktische Erfahrungen sammeln wollte, die ich ggf. später, nach einer möglichen Rückkehr an die Polizeischule, nutzen könnte, wechselte ich in das 3. FK. Damit war ich in der „richtigen“ Kriminalpolizei angekommen. Ich bearbeitete Ermittlungsvorgänge, vornehmlich im Bereich der Raub- und Erpressungsdelikte, Bandenkriminalität und schwere Fälle der Eigentumskriminalität. Erschwerend war für mich, dass ich während der Jahre des Aufbaus und der Anpassungsfortbildung kaum etwas von der realen Entwicklung im Vollzugsdienst mitbekommen hatte. Der Unterschied zwischen Schultheorie und realer polizeilicher Praxis ist nicht zu unterschätzen. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich mich sicher und angekommen fühlte.


Im Jahr 2001 wurde mir die Leitung einer temporären Ermittlungsgruppe übertragen. Die Fokussierung auf einen Vorgang und der enge Kontakt zum LKA waren für mich wichtige Erkenntnisquellen. Ich hatte teilweise Zugang zu den damals modernsten Ermittlungs- und Auswertungsmethoden. In diese Zeit fiel auch der erste DNA-Treffer meiner Karriere, der direkt zum Täter führte. Nicht zuletzt die Intensität und Komplexität in diesem Ermittlungsverfahren haben dazu beigetragen, dass ich mir zutraute, Leitungsfunktionen in der Kriminalpolizei zu übernehmen. Die beabsichtigte Rückkehr in meine frühere Verwendung trat damit in den Hintergrund. Ich fühlte mich zunehmend wohl in der Praxis, wenngleich in der näheren Zukunft weder mit beständigen Polizeistrukturen noch mit einem kalkulierbaren Karriereverlauf zu rechnen war.

 

8 Gewerkschaftsarbeit im Fachausschuss Kriminalpolizei


Daneben arbeitete ich lange als Vorsitzender des Fachausschusses Kriminalpolizei bei dem Geschäftsführenden Landesbezirksvorstand (GLBV) der GdP. In dieser Funktion war ich naturgemäß bei den gewerkschaftlich bedeutungsvollen Problemen innerhalb der Polizei, insbesondere der Kriminalpolizei, involviert. Wir spürten, dass uns eine lange Phase bevorstand, geprägt von zahlreichen Veränderungen der Polizeistruktur. Nach jeder Landtagswahl wechselte der Innenminister, was grundsätzlich eine Strukturreform bedeutete. Diese Eingriffe in das funktionierende polizeiliche Getriebe, zielten im Wesentlichen auf „Verschlankung“. Kostenreduzierung, Personalabbau, Einstellungsstopp, Beförderungsstau und mehrfache Herabstufung ganzer Dienststellen waren einige Symptome dieser Entwicklung. Aus der polizeilich-sicherheitspolitischen Situation war die Notwendigkeit zu derartig einschneidenden Veränderungen meines Erachtens nicht zu rechtfertigen. Man hat es dennoch getan, ohne dem Widerspruch und den sachlichen Argumenten der (leider uneinigen) Polizeigewerkschaften ernsthaft Gehör zu schenken. Unser Fachausschuss Kriminalpolizei hatte einige mahnende Thesenpapiere erarbeitet.


Leider gab es sowohl in „meiner“ GdP als auch bei der Konkurrenz zu viele Hardliner, die nicht bereit waren, ihre Positionen aufzugeben. Ich halte das für einen entscheidenden Grund, warum wir es nicht geschafft haben, „einige besonders dicke Bretter zu bohren“ und schmerzhafte Einschnitte zu verhindern. Die Polizei wurde regelmäßig radikalen Umbrüchen ausgesetzt. Es wurde besonders am Personal gespart, koste es was es wolle. Darin und nicht in strategisch-polizeilichen Erwägungen lag aus meiner Sicht der Hauptgrund für sämtliche Umwälzungen in der Polizei, die der Dienstherr „liebevoll“ Strukturreformen nannte.


Diese Veränderungen im Rhythmus der Wahlperioden bedeuteten für viele Polizeibeamte einschneidende Konsequenzen. Man war wiederholt gezwungen, sich um Dienstposten in neuen Strukturen zu bewerben. Das führte z.B. dazu, dass ausgewiesene Fachleute in der Kriminalpolizei, in der Hoffnung irgendwann befördert zu werden, sich auf völlig sachfremde Dienstposten beworben haben, was einen großen Kompetenzverlust zur Folge hatte. In diesem Prozess wechselte ich vom Zentralen Kriminaldienst der PD auf die Ebene Polizeirevier. Ich wurde 2003 Sachgebietsleiter im Kriminaldienst des zusammengeführten Polizeireviers Aschersleben-Staßfurt. Im Jahr 2008, in Folge der nächsten Strukturreform, wurden Aschersleben und Staßfurt – beide ehemals eigenständige Reviere – wieder getrennt und nunmehr in zwei Polizeikommissariate verwandelt. Dieser gefühlte Abstieg hatte natürlich Auswirkungen auf den Etat. Ich wurde für fünf Jahre Leiter Kriminaldienst im Kommissariat Staßfurt. Ungeachtet der Personalknappheit blieb der Erfolgsdruck dennoch hoch, die vorgegebenen Kennzahlen mussten erreicht werden und Kreativität war gefragt- In dieser Zeit lernte ich, wie wichtig es ist, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fair zu behandeln und vertrauensvoll im Team zusammenzuarbeiten. Dies war nicht einfach, da wir uns seit Jahren in einem Beförderungsstau befanden, dessen Auswirkungen auf die Motivation unübersehbar waren. Den „Verdacht“, das Beurteilungssystem könnte damit in einem Zusammenhang stehen, bin ich nie losgeworden. Nach der nächsten Landtagswahl trat eine erneute Strukturreform in Kraft. Die beiden Polizeireviere der ehemaligen Kreisstädte Aschersleben und Staßfurt wurden nunmehr, für mich völlig unverständlich, ersatzlos als selbständige Dienststellen abgewickelt. Sie teilten das Schicksal weiterer Dienststellen, die über viele Jahrzehnte Revierstatus hatten. Mein Dienstposten, Leiter Kriminalpolizei, ging dabei mit unter. So schlossen sich im Jahr 2014 unfreiwillig mein allgemeiner beruflicher Lebenskreis und meine Beamtenkarriere.

 

9 Rückkehr an die Polizeischule


Ich holte also meinen alten Plan, noch einmal Lehrer an der Polizeischule zu werden, wieder ins Blickfeld. Da gerade dringend Lehrkräfte gebraucht wurden, stimmte man einer Versetzung zu. Mein Comeback wurde doch noch Realität. Für die letzten drei Jahre bis zur Pensionierung unterrichtete ich als Fachlehrer „Kriminalistik“. Diese Zeit war von einer „Wiederaufrüstung“ der Personalstärken in der Polizei gekennzeichnet, was auch dringend erforderlich war. Man stelle sich einen Fußballverein vor, der über viele Jahre keinen Nachwuchs generiert hatte und nun, mit einer überalterten Mannschaft und gerade einmal sieben einsatzfähigen Spielern, dem unvermeidlichen Abstieg entgegenstürzt. Nun steuert man gegen und ist froh über jeden jungen Spieler. Ob die Zugänge wirklich über siegversprechende Tugenden verfügen, wird sich zeigen. Inwieweit die „Vereinsstruktur“ den zukünftigen Anforderungen nachhaltig genügen kann, ist eine weitere Frage, die sich stellt. Alte und erfahrene Teamplayer sind inzwischen abgedankt und können das Geschehen nur noch aus einer skeptischen Distanz verfolgen.

 

10 Hilfe, ich werde pensioniert


Im Frühjahr 2017 kam meine Pensionierung unaufhaltsam näher. Der Unterricht machte mir Spaß, ich fühlte mich fit. Auch der morgendliche Blick in meinen Spiegel gaukelte mir regelmäßig ein positives Feedback vor. Also unterbreitete ich der Polizeischule das Angebot, noch ein bis zwei Jahre anzuhängen. Obwohl man jede Lehrkraft brauchte und mein Antrag befürwortet wurde, bekam ich einen ablehnenden Bescheid aus dem Innenministerium. So erging es meines Wissens allen Beamten des Jahrganges 1957, die eine Verlängerung ihrer Dienstzeit beantragt hatten.


Am 30.11.2017, um 23.59 Uhr, trat ich beamtenrechtlich in den Ruhestand. Der Karriereweg durch zwei Systeme hatte sich geschlossen. Als Honorarlehrkraft erteilte ich jedoch weiterhin Unterricht! Im November 2020, wegen der beispiellosen Pandemie-Krise, sah ich mich jedoch gezwungen, diese Tätigkeit endgültig zu beenden. Niemand ist eben allein Schmied seines Glückes, vielmehr hängt ein persönlicher Lebensweg auch von Zufällen und äußeren Umständen ab, die man nur bedingt oder gar nicht beeinflussen kann. Das spürt man besonders, wenn man von einem System in ein anderes wechselt.


Ein Polizeiseelsorger aus Niedersachsen sagte 1990, in der Phase der politischen und persönlichen Orientierungsfindung, einen sehr klugen Satz zu mir, der mir damals sehr geholfen hat und den ich mit den Jahren immer besser verstanden habe. Er lautet sinngemäß: „Junger Mann, Sie müssen lernen, aus den vielen Übeln des Lebens das für sie geringste herauszufinden. Auf den Idealfall werden sie niemals treffen.“ Recht hat er gehabt!


Bildrechte: Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt.

 

Anmerkungen

 

  1. Mit diesem Slogan hatte das Land Sachsen-Anhalt lange Zeit für sich geworben.
  2. Eintritt des Autors in den Ruhestand.
  3. Die Transportpolizei wurde nach der deutschen Vereinigung ersatzlos aufgelöst. Die Aufgaben gingen an den Bundesgrenzschutz über. Die Zuständigkeitsbereiche waren deckungsgleich mit den Reichsbahndirektionen.
  4. Die Offiziersschule des Ministeriums des Innern „Wilhelm Pieck“ war die zentrale Ausbildungsstätte für zukünftige Offiziere der Deutschen Volkspolizei (vergleichbar mit dem gehobenen Dienst).
  5. Vergleichbar mit „Kommissar“ (gehobener Dienst, in LSA Laufbahngruppe II).
  6. Entspricht dem „höheren Dienst“.
  7. Der Abschluss „Diplom-Jurist“ wurde im „Einigungsvertrag“ dem Ersten Juristischen Staatsexamen gleichgestellt.
  8. Dieser Begriff wurde hinter vorgehaltener Hand verwendet. Er steht für die Entlassung wegen nachgewiesener Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) und geht auf den ehemaligen Beauftragten für die „Stasiunterlagen“ und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck zurück.
  9. Das war die damalige Bezeichnung für „Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft“.
  10. Der Zuständigkeitsbereich erfasste die sachsen-anhaltinische Harzregion.