KIcK – Künstliche Intelligenz contra Kindesmissbrauch

Von KOR Lars Oeffner, Kiel

 

1 Einleitung

 

Die in der Projektarbeit entwickelte künstliche Intelligenz ist mit einer Genauigkeit jenseits der 90% in der Lage, Bildmaterial in die Kategorien Kinderpornographie, Jugendpornographie, nicht strafbare Erwachsenenpornographie und sonstiges Bildmaterial einzuteilen.2

 

Dieses am 25.5.2021 veröffentlichte Statement des damaligen Justizministers von Nordrhein-Westfalen, Peter Biesenbach, ließ die Fachlichkeit aufhorchen, da sich bereits zu dieser Zeit mehrere Polizeibehörden mit dem Thema Einsatz von künstlicher Intelligenz3 (KI) im Deliktsfeld Kinderpornografie beschäftigten. Sollte in Nordrhein-Westfalen innerhalb des bei der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) angesiedelten und seit 2019 laufenden Forschungsprojekt in Kooperation mit Microsoft tatsächlich der Durchbruch gelungen sein? Insbesondere bezüglich der genannten Erfolgsquote war und ist durchaus Skepsis angesagt. Solche Angaben sind auch allein schon deshalb wenig aussagekräftig, weil sie sich in der Regel auf die Anzahl der korrekt klassifizierten Dateien, sog.e true positives4, beziehen. Eine diesbezüglich sehr hohe Quote ist zwar durchaus erfreulich, muss jedoch stets im Zusammenspiel mit den weiteren Parametern false positive5, false negative6 und true negative7 betrachtet werden. Eine KI, die zwar 90% an inkriminiertem Material erkennt, gleichzeitig aber eine Vielzahl an sonstigen, unverdächtigen Dateien ebenfalls als inkriminiert einsortiert (false positives), hilft nur bedingt weiter, weil die zu sichtenden Mengen an Bild- und Videomaterial für die Sachbearbeitung immer noch immens groß sind.


Folgendes Beispiel soll dies einmal verdeutlichen. Bei einem Beschuldigten werden im Rahmen der Durchsuchung zwei Smartphones, zwei Laptops und drei externe Festplatten sichergestellt. Die Geräte werden forensisch aufbereitet und es ergibt sich ein Datenbestand von zusammengenommen 400.000 Bild- und Videodateien, die unter dem bislang praktizierten Ansatz der sog. Vollauswertung8 grundsätzlich alle zu sichten wären. Unter der (theoretischen) Annahme, dass sich in dem Datenbestand nun 850 inkriminierte (insbesondere kinderpornografische) Dateien befinden, würde eine eingesetzte KI im Idealfall diese 850 Dateien identifizieren und entsprechend als inkriminiert klassifizieren (true positives). Diese KI würde also mit einer Genauigkeit von sogar 100% bewertet werden. Wenn diese KI dabei jedoch 100.000 weitere und unverdächtige Dateien ebenfalls als inkriminiert einstuft (false positives), ist der Sachbearbeitung kaum geholfen. In diesem Falle müssten nämlich zumindest die von der KI als inkriminiert eingestuften 100.850 Dateien gesichtet werden. Zwar hätte man in diesem zugegebenermaßen sehr fiktiven Beispiel alle strafrechtlich relevanten Dateien technisch herausgefiltert – jedoch wäre immer noch ein immenser zeitlicher Aufwand zu betreiben, um die 100.850 Dateien manuell zu sichten. Zudem ist durchaus fraglich, ob im Rahmen der (Schnell-)Sichtung dieser Vielzahl an Dateien auch die 850 inkriminierten Dateien tatsächlich alle entdeckt worden wären. Neben der Trefferquote (Recall) gibt es also weitere relevante und zu betrachtende Parameter, u.a. die Genauigkeit (Precision), die Sensitivität und die Spezifität, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.

 

 

2 Deutliche Fallsteigerungen


Angesichts der seit dem Jahr 2016 immensen Fallzahlensteigerung bezüglich der Straftatbestände nach §§184b, c StGB9 verwundern die vielfach national und international betriebenen Bestrebungen nach einem möglichen Einsatz einer KI zur Detektion von inkriminiertem Material im Deliktsfeld Kinder- und Jugendpornografie nicht wirklich. Die exponentielle Steigerung ist in allen Bundesländern festzustellen und stellt die Polizeibehörden aktuell vor immense Herausforderungen. Als hochproblematisch ist länderübergreifend festzustellen, dass das heute eingesetzte polizeiliche Fachpersonal bis auf wenige Ausnahmen kaum mitgewachsen ist, so dass mehr und mehr eine fallbezogene Haldenbildung festzustellen ist. In diesem Zusammenhang kommen erschwerend die zunehmenden Speicherkapazitäten von IT-Geräten hinzu, die sich regelmäßig vervielfachen. Wurden vor wenigen Jahren in einem entsprechenden Fall noch ein einziges Handy und eine einzelne Festplatte sichergestellt, sind es heutzutage nicht selten mehrere Handys, Festplatten und andere Speicherutensilien mit immensen Speicherkapazitäten. Auf diese Weise kommen je Fall durchaus Speichergrößen von mehreren Terrabyte mit einer Vielzahl an vor allem Bild- und Videodateien zusammen, die im Rahmen der eingangs dargestellten Vollauswertung – vor dem Hintergrund eines nie auszuschließenden bestehenden Risiko- oder Gefahrenüberhangs – allesamt gesichtet werden sollen. Hierunter ist zu verstehen, dass mögliche und durch die beschuldigte Person (aktuell) begangene Missbrauchshandlungen nicht ausgeschlossen werden können und die Polizei dies aus gefahrenabwehrrechtlichen Gründen stets überprüfen muss. Unstreitig ist, dass der Ansatz der Vollauswertung aus vorgenannten Gründen schon seit längerer Zeit nicht mehr leistbar ist, so dass zunehmend eine lediglich nur noch stichprobenartige Sichtung des forensisch aufbereiteten Datenmaterials erfolgen kann.


Nicht erst seit der zum 1.7.2021 vorgenommen Strafschärfung des §184b StGB10 haben sich korrespondierend zu den Fallzahlen auch die Anzahl der erlassenen Durchsuchungsbeschlüsse vervielfacht. In Schleswig-Holstein ist in den polizeilichen Lageberichten zunehmend die Begrifflichkeit „Action Day“ zu lesen. Darunter ist die schlagartige und gleichzeitige Vollstreckung zahlreicher Durchsuchungsbeschlüsse im Deliktsfeld Kinder- und Jugendpornografie11 zu verstehen, die unter Einbindung von Kräften verschiedener Dienststellen, teilweise innerhalb einer eigens aufgerufenen Besonderen Aufbauorganisation (BAO), erfolgt. Letztmalig fanden entsprechende Einsätze am 8.12.2022 statt, als durch Beamtinnen und Beamte der Bezirkskriminalinspektionen Kiel und Itzehoe insgesamt 53 Beschlüsse vollstreckt wurden. Dabei müssen die Verfahren nicht zwangsläufig miteinander in Verbindung stehen. Vielmehr werden auf Grund knapper personeller Ressourcen und oftmals sehr weiter Anfahrtswege12 Synergieeffekte genutzt, um möglichst effizient zu arbeiten. Infolgedessen stauen sich punktuell die sichergestellten Datenträger in den forensischen Dienststellen sowie die aufbereiteten und durch die Sachbearbeitung auszuwertenden Dateien auf den Ermittlungsdienststellen, was bezogen auf die Durchführung von „Action Days“ auch als durchaus nachteilig angesehen werden kann.

 

3 Projekt EagleEye


Nachdem sich vorbezeichnete Problemstellung nach und nach abzeichnete, wurde im Jahr 2020 bei der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe das Projekt EagleEye initiiert, innerhalb dessen zum einen ein Ersatz für die innerhalb der Sachbearbeitung bis dato genutzte Auswerteplattform „Uranos“13 identifiziert und zum anderen ein neuronales Netz zur Erkennung und Kategorisierung inkriminierten Bild- und Videomaterials entwickelt werden sollte. Während der ca. 11-monatigen Projektlaufzeit14 wurden im Hinblick auf die notwendige Ablösung der Auswerte- und Bearbeitungssoftware „Uranos“ sehr positive Erfahrungen mit der kommerziellen Software „Griffeye Analyze DI Pro“ des schwedischen Herstellers „Griffeye Technologies“ gemacht. Eine der wesentlichsten Stärken der Software besteht in der frei zugänglichen Programmierschnittstelle (API), die es zum einen Herstellern von Softwareprodukten ermöglicht, ihre Produkte direkt an Griffeye anzubinden und zum anderen aber auch die Anbindung (polizeilicher) eigenentwickelter Softwarelösungen zulässt. Auch die umfangreichen Supportleistungen, die vielen Zusatzprogramme, die vorhandenen und implementierbaren automatisierten und standardisierten Berichte und die enthaltene Hashwertedatenbank (Griffeye Intelligence Database), die auch netzwerkbasiert genutzt werden kann, überzeugten durchweg. Darüber hinaus steht mit „Griffeye Brain“ auch eine werkseigene KI zur Verfügung, die hinsichtlich inkriminierten Materials trainiert ist. Die KI ordnet das Bild- und Videomaterial dabei in die Kategorien „CSA15 High“ (hochrelevantes Material), „CSA Uncertain“ (unsicher im Hinblick auf die Relevanz) und „CSA Low“ (niedrige Wahrscheinlichkeit) ein. Diese Klassifizierung erfolgt anhand eines festgelegten Wahrscheinlichkeitsgrades, über den jede Bild- und Videodatei einer der genannten drei Kategorien zugeordnet wird.


Im Weiteren wurden im Projekt anhand eines zusammengestellten möglichst realitätsnahen Testdatensatzes verschiedene neuronale Netze16 getestet und dabei mit „EagleEye“ auch eine zuvor eigens aufgesetzte und trainierte KI getestet. Im Ergebnis lieferte die KI „Griffeye Brain“ die besten Ergebnisse, auch wenn diese seinerzeit gleichwohl noch nicht insoweit überzeugen konnten, als dass eine durch die Sachbearbeitung vorgenommene manuelle Ergebnissichtung ggf. hätte entfallen können. Dennoch waren die Ergebnisse insoweit überzeugend, als dass sich zweierlei Erkenntnisse verfestigten. Zum einen zeigte sich das Potential des Einsatzes einer KI im Deliktsfeld Kinder- und Jugendpornografie und zum anderen wurde erkannt, dass die polizeiliche KI-Eigenentwicklung „EagleEye“ zumindest mit dem kommerziellen Produkt „Griffeye Brain“ nicht konkurrenzfähig war. Angesichts der genannten Weltfirma mit einer ganzen Abteilung an beschäftigten Softwareentwicklerinnern und -entwicklern sowie KI-Spezialistinnen und -spezialisten erscheint dies auch wenig verwunderlich. Von der weiteren Entwicklung der KI „EagleEye“ wurde daraufhin abgesehen. Heute ist die Software „Griffeye Analyze DI Pro“ in Schleswig-Holstein sowie auch in mehreren weiteren Länderpolizeien flächendeckend im Einsatz.

 

4 Bundesweite Ansätze


Auch bundesweit kommt der Thematik weiterhin eine große Bedeutung zu. So ist der Einsatz einer KI zur Unterstützung der Sachbearbeitung im Deliktsfeld Kinder- und Jugendpornografie mit dem Projekt „Begleitung eingeschränkter Wirkbetrieb KIPO“ sowie dem Vorgängerprojekt „KI-unterstützte Erkennung kinderpornografischen Materials“ bis heute Bestandteil des Programms Polizei 20/2017. Dabei wurden im Rahmen einer Masterarbeit auch mehrere KI miteinander in einen leistungsbezogenen Abgleich gebracht, u.a. die im Rahmen der Projekte eigenentwickelte KI „KiPo-Analyzer“ (vormals „NiKI“) der Polizei Niedersachsen und „Griffeye Brain“18. Die Arbeit gibt einen sehr guten und fundierten Überblick über den möglichen Einsatz einer KI zur Detektion inkriminierten Materials und beinhaltet auch offene, durchaus noch zu klärende Frage- und Problemstellungen, die zunehmend relevant werden.


Des Weiteren ist die Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) Digitale Daten zu benennen. Diese wurde im Juni 2021 infolge eines auf der 214. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) getroffenen Beschlusses zum Thema „Bekämpfung von Kindesmissbrauch“ eingerichtet und sollte länderübergreifende Standards für Sicherstellungen von IT-Asservaten sowie zur Sicherung, Aufbereitung und Auswertung von digitalen Daten unter Berücksichtigung der kriminalistischen Auswerteanforderungen hinsichtlich Gefahrenabwehr und Strafverfolgung prüfen und entsprechende Empfehlungen aussprechen. Die BLAG, an der verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der Justiz und der Polizei, so auch aus Schleswig-Holstein, teilnahmen, legte am 28.7.2022 ihren Abschlussbericht vor, der mittlerweile im Rahmen der 218. IMK Anfang Dezember 2022 abgenommen worden ist. Zwar stand der Einsatz einer KI dabei nicht unmittelbar im Fokus und wird auch nur am Rande erwähnt, jedoch wurde deutlich, dass die Notwendigkeit erkannt worden ist, zum einen Standards hinsichtlich der Sicherung, forensischen Aufbereitung und kriminalistischen Auswertung digitaler Daten bezüglich des Deliktfeldes Kinderpornografie festzulegen; zum anderen aber auch, dass die umfassende und detaillierte Auswertung der Daten eines jeden einzelnen Ermittlungsverfahrens auf Grund der massiven Zunahme an Fallzahlen und digitalen Daten zukünftig nicht mehr gewährleistet ist. Letztlich besteht die zuletzt auch im Rahmen der 218. IMK bekräftigte dringende Empfehlung, die umfangreich erarbeiteten Standards und Empfehlungen zur bundesweiten, ressortübergreifenden Orientierung bereitzustellen und unter Einbeziehung ggf. vorhandener landesspezifischer Regelungen sowie im Einvernehmen mit der sachleitenden Staatsanwaltschaft anzuwenden.19

5 Umsetzung in Schleswig-Holstein


In Schleswig-Holstein wurde diese Empfehlung bereits aufgegriffen und befindet sich aktuell in der Umsetzung. Im Mai 2022 wurde gemäß Auftrag des Generalstaatsanwalts i.V. sowie des Direktors des LKA eine landesinterne Arbeitsgruppe eingerichtet, die entsprechende Standards und Leitlinien zur Optimierung von Arbeitsabläufen im Deliktsfeld Kinderpornografie beschreiben sollte, um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen sachgerecht begegnen zu können. Dabei sollten zusätzlich auch Fragen, die von der BLAG nicht thematisiert worden sind, betrachtet werden, u.a. Fragen zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, zur Einleitungsschwelle, zur Priorisierung von Verfahren, sowie zur Beschleunigung IT-forensischer Untersuchungen. Zukünftig wird ein jeder Fall nach §§184b, c StGB einer von acht Fallgruppen (FG) zugeordnet werden, ausgehend von der verursachenden bzw. tatverdächtigen Person. Während die FG 0 sich auf ein schuldunfähiges Kind als Verursacher bezieht, handelt es sich beispielsweise bei der FG 3 um einen erwachsenen Tatverdächtigen, jedoch ohne erkennbare Hinweise auf einen bestehenden Risikoüberhang20. Bezüglich der FG 6 liegt ein Anfangsverdacht eines sexuellen Missbrauchs von Kindern und/oder Jugendlichen vor. Entsprechend steigern sich auch die je nach FG zu treffenden Maßnahmen, bezogen auf die in nahezu allen Fällen regelmäßig stattfindende Durchsuchung, die forensische Aufbereitung der sichergestellten IT-Geräte und die kriminalistische Sichtung und Auswertung der Dateien. Die einzelnen Maßnahmen sind detailliert vorgegeben und sollen zum einen umzusetzende Mindeststandards vorgeben, zum anderen aber auch den Arbeitsumfang klar begrenzen, um der massiven Fallzahlensteigerung Herr zu werden.


Die Maßnahmen der kriminalistischen Sichtung und Auswertung orientieren sich dabei bezüglich der regelmäßig vorzunehmenden und meist sehr umfangreichen Bild- und Videoauswertung explizit an der in Schleswig-Holstein eingesetzten Software „Griffeye DI Analyze DI Pro“. Ein Bestandteil wird dabei auch der Einsatz der benannten KI „Griffeye Brain“ sein. Bezüglich der niedrig(er) priorisierten FG 1 bis 3 soll sich zukünftig die Auswertung der forensisch aufbereiteten Daten ausschließlich auf die Sichtung möglicher sog. Hashwerttreffer21, die Ergebnisse der KI (CSA High-Treffer) sowie die Sichtung der durch die Software markierten Verzeichnisse beschränken. Die letztgenannte Maßnahme folgt der Annahme, dass inkriminiertes Material von den Beschuldigten häufig zusammen, bzw. konzentriert in eher wenigen Ordnern auf IT-Geräten gespeichert wird. Infolgedessen sollen diejenigen gekennzeichneten Verzeichnisse, in denen als inkriminiert eingestuftes Material durch die Software gefunden worden ist, auch manuell gesichtet werden. Eine händische Sichtung des gesamten übrigen Bild- und Videodatenbestandes findet dagegen nicht mehr statt. Zwar besteht dabei stets die Gefahr, dass nicht alle inkriminierten Dateien gefunden werden, jedoch ist diesem Umstand auch auf andere Art und Weise nicht (mehr) zufriedenstellend zu begegnen. Abgesehen davon, dass es eine absolute Sicherheit in keinem Fall geben kann, ist eine händisch vorzunehmende Sichtung einer jeden Bild- und Videodatei aus vorgenannten Gründen nicht mehr darstellbar. In diesem Zusammenhang ist zudem ebenfalls von einer menschlich bedingten und mutmaßlich durchaus beträchtlichen Fehlerquote auszugehen, sofern man sich vorstellt, dass über Stunden und Tage hinweg durch die Sachbearbeitung entsprechendes Material mit anzunehmender unterschiedlicher Intensität (schnell-) gesichtet werden würde22. Die bisherigen Erfahrungen, u.a. auch die innerhalb des Projekts „EagleEye“ gesammelten Erkenntnisse zeigen, dass von einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit bezogen auf das Vorhandensein inkriminierten Materials auf einem Datenträger auszugehen ist, sofern keinerlei Hashwerttreffer vorliegen und auch die KI keine entsprechenden Ergebnisse aufweist.


Bezüglich der hoch priorisierten FG 4-7, bei der regelmäßig auch die Gefahr eines Risikoüberhangs besteht, stellt sich die vorzunehmende Auswertung als deutlich umfangreicher dar, wobei der Begriff der sog. Vollauswertung, der die händisch vorzunehmende Sichtung einer jeden Bild- und Videodatei meint, in Schleswig-Holstein explizit nicht mehr verwandt wird. Vielmehr wird eine sog. vollumfängliche Auswertung gemäß einem über die Software „Griffeye Analyze DI Pro“ selbst entwickelten und zukünftig auch jederzeit anpassbaren Workflow vorgegeben, der das stets vorhandene Risiko des Übersehens von inkriminiertem Material weitestgehend verringern soll. Auf diese Weise soll der mit steigender FG zunehmenden Gefahr des Übersehens eines möglichen andauernden Kindesmissbrauchs Rechnung getragen werden. Im Hinblick auf die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr ist dies auch alternativlos. Nicht unerwähnt bleiben sollen weitere, insbesondere bezüglich der FG 4 bis 7, vorgegebene Maßnahmen wie beispielsweise die Auswertung von Internetsuchverläufen und Suchbegriffen, Nutzerkonten, Chatverläufen, Email-Konten und die Überprüfung auf Anhaltspunkte hinsichtlich einer Fremd- und Eigenbesitzverschaffung sowie Verbreitungshandlungen.

 

6 Projekt KIcK


Der Einsatz einer KI stellt im Hinblick auf die stets vorzunehmende Auswertung somit einen wichtigen Baustein dar, auf den die Polizei sich angesichts der massiven Fallzahlensteigerung zunehmend verlassen werden muss. Dabei muss die eingesetzte KI jedoch in regelmäßigen Abständen auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft werden, um die Entscheidung über den weiteren Einsatz sachgerecht und auf fundierten und wissenschaftlichen Erkenntnissen fußend treffen zu können. Vor diesem Hintergrund wurde im LKA Kiel das Projekt KIcK (KI contra Kindesmissbrauch) initiiert, welches von der Landesregierung im Zuge des Digitalisierungssprintprogramms23 gefördert wird. Innerhalb des Projekts soll die Leistungsfähigkeit der in Schleswig-Holstein genutzten Software „Griffeye Analyze DI Pro“, bzw. der KI „Griffeye Brain“, hinsichtlich der Klassifikationsleistung, aufbauend auf den Erkenntnissen des 2020 durchgeführten Projekts „EagleEye“, wissenschaftlich untersucht werden und zudem ein sach- und fachgerechter Arbeitsablauf auf Ebene der Sachbearbeitung inklusive eines angepassten Hardwarekonzepts entwickelt werden. Geleitet wird das Projekt von Dr. Kai Brehmer, der seit April 2022 beim LKA Kiel als Projektleiter Künstliche Intelligenz24 angestellt ist. Über das Projekt soll der beschriebene und zukünftig vorgegebene Workflow, der zu nicht unwesentlichen Teilen den Einsatz der KI „Griffeye Brain“ vorsieht, wissenschaftlich begleitet und überprüft werden. Abgesehen davon darf sich eine wiederkehrende Überprüfung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit aber nicht nur auf die verwendete KI beziehen. Vielmehr ist allein schon auf Grund des technischen Fortschritts regelmäßig die gesamte eingesetzte Hard- und Software zu überprüfen, um den immensen Herausforderungen sachgerecht begegnen und die eingesetzten Kolleginnen und Kollegen bestmöglich unterstützen zu können. Für diese technisch durchaus anspruchsvolle Aufgabe, die in Schleswig-Holstein zukünftig als Aufgabe der Ansprechstelle Kinderpornografie im LKA Kiel verortet ist, sollte unbedingt eine feste Zuständigkeit bestimmt werden.

 

7 Zusammenfassende Bewertung


Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass der Einsatz einer KI bezüglich der Bearbeitung des Deliktsfelds der Kinder- und Jugendpornografie zunehmend alternativlos ist, dabei aber (noch) nicht das oftmals propagierte Allheilmittel darstellt. Angesichts der exponentiellen Fallzahlensteigerung ist eine Sichtung des regelmäßig massenhaft vorhandenen Bild- und Videomaterials allein durch den Menschen jedoch nicht mehr leistbar, schon gar nicht unter dem Ansatz der sog. Vollauswertung. Der Einsatz einer KI stellt dabei aber nur ein Hilfsmittel von mehreren dar und muss als Teil eines umfassenden Workflows unter Beachtung verschiedener und festzulegender Parameter bewertet und gesehen werden. Es bedarf diesbezüglich einer leistungsfähigen Auswertestruktur unter Nutzung aktueller und vor allem aktuell zu haltender Hard- und Software. Auf Grund der rasant voranschreitenden technologischen Entwicklung ist eine Begleitung und ständige Überprüfung der Prozesse unabdingbar. Die Leistungsfähigkeit einer KI wird – so zumindest nach hiesiger Überzeugung – weiter zunehmen, weshalb ein nach und nach verlässlicherer Einsatz als wahrscheinlich erachtet werden kann. Dabei sollte die KI zuverlässig vorrangig inkriminiertes Material klassifizieren können und nicht bloß hinsichtlich reiner Nacktheit, bzw. porno- oder nicht-pornografischem Material unterscheiden. Letztgenannter Ansatz erbringt keinen wesentlichen Mehrwert für die Sachbearbeitung, weil in vielen Fällen keine genügende Reduzierung der zu sichtenden Bild- und Videodateien erfolgt und viele der als pornografisch erkannten Dateien mangels Strafbarkeit keine Relevanz haben.


Abgesehen von dem Einsatz einer KI sollten aber auch weitere Ansätze geprüft und verfolgt werden, um eine sachgerechte Abarbeitung der Vielzahl an Fällen gewährleisten zu können. Neben der dringend notwendigen personellen Verstärkung zählen dazu u.a. Maßnahmen wie die mögliche Beauftragung externer Firmen 25 hinsichtlich der forensischen Aufbereitung und Auswertung von Datenträgern, die Vereinheitlichung und Optimierung von Workflows, die Begrenzung von Sicherungs- und Auswertemaßnahmen bei niedrig priorisierten Fällen, die möglichst ressourcenschonende Abarbeitung von diversionsgeeigneten Fällen26, die Überprüfung und ggf. vorzunehmende Anpassung struktureller und organisatorischer Aspekte sowie eine intensive Abstimmung mit den zuständigen Staatsanwaltschaften. In Schleswig-Holstein sind innerhalb der genannten landesinternen Arbeitsgruppe all diese Aspekte betrachtet worden, so dass die Hoffnung besteht, einigermaßen zukunftssicher aufgestellt zu sein. Betont sei an dieser Stelle aber nochmals, dass dies trotz der vorgenommenen Anpassungen ohne eine signifikante und kurzfristig vorzunehmende personelle Verstärkung absehbar nicht gelingen wird.


Abschließend sei darauf hingewiesen, dass dem Dienstherrn hinsichtlich des eingesetzten Personals eine besondere Verantwortung zukommt. Die tägliche Arbeit im Deliktsfeld der Kinder- und Jugendpornografie stellt unstreitig eine besondere und sehr fordernde psychische Belastung dar, die vor allem auf Grund der mittlerweile äußerst hohen Fallzahlen bei gleichzeitig nur unzureichend mitgewachsenem Personalschlüssel eine Mammutaufgabe darstellt. Hier ist neben der im vorliegenden Artikel behandelten bestmöglichen technischen Unterstützung auch eine ganzheitliche Betrachtung notwendig, innerhalb derer Konzepte u.a. zu psychosozialen Angeboten, zur Attraktivität des Tätigkeitsfeldes27, zur Personalgewinnung und -bindung und Fortbildung entwickelt werden und dem Fürsorgegedanken somit ein besonderes, aber auch unbedingt notwendiges Gewicht verleiht.


Bilder: Pixabay.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist als Kriminaloberrat im LKA Kiel tätig und leitet das Dezernat für Cybercrime und digitale Spuren, in dem auch die Ansprechstelle Kinderpornografie angesiedelt ist. Kontakt unter [email protected].
  2. Abgerufen am 4.12.2022 unter www.justiz.nrw/JM/Presse/reden/archiv/2021_01_Archiv/2021_05_25_Kuenstliche_Intelligenz/index.php.
  3. Auch als artifizielle Intelligenz (AI) bezeichnet.
  4. Anzahl des richtigerweise als inkriminiert erkanntes und kategorisiertes Material.
  5. Anzahl der fälschlicherweise als inkriminiert erkanntes und kategorisiertes Material.
  6. Anzahl der fälschlicherweise als nicht inkriminiert erkanntes und kategorisiertes Material.
  7. Anzahl der richtigerweise als nicht inkriminiert erkanntes und kategorisiertes Material.
  8. Damit ist die händische Sichtung einer jeden Datei bezogen auf Bild- und Videomaterial, welches auf den sichergestellten IT-Geräten gefunden wurde, gemeint.
  9. Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer (§ 184b StGB) sowie jugendpornografischer (§184c StGB) Inhalte.
  10. Seitdem handelt es sich bei dem Tatbestand des bis dato als Vergehen eingestuften §184b StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften) um ein Verbrechen. Aktuell bestehen auf Ebene der Justizministerinnen und -minister allerdings Überlegungen, diesen Schritt wieder rückgängig zu machen oder aber zukünftig einen minder schweren Fall vorzusehen.
  11. Nach §§184b, c StGB.
  12. Die Sachbearbeitung erfolgt in Schleswig-Holstein konzentriert in nur vier Ermittlungsgruppen Kinderpornografie in Kiel, Lübeck, Flensburg und Itzehoe mit entsprechend großem Zuständigkeitsbereich.
  13. Bei Uranos handelt es sich um eine von der Polizei Niedersachsen eigenentwickelte Software zur Bearbeitung von Bild- und Videomaterial im Deliktsbereich Kinderpornografie, die von mehreren Länderpolizeien, so auch in Schleswig-Holstein, genutzt worden ist, jedoch auf Grund der heute bestehenden Anforderungen und eines zunehmend auslaufenden Supports ersetzt werden musste. Mittlerweile bietet die Polizei Niedersachsen mit der Software „Tracebook KiPo“ ein Nachfolgeprodukt an.
  14. Hierzu liegt ein entsprechender interner Abschlussbericht der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe aus November 2020 vor.
  15. Steht für Child Sexual Abuse (Verdacht des Kindesmissbrauchs).
  16. U.a. wurde auch das Open Source Produkt „NudeNet“ des Herstellers GitHub getestet, welches recht zuverlässig zur Erkennung von reiner Nacktheit in Bildern eingesetzt werden kann. Es ist dabei jedoch nicht explizit auf kinderpornografische Inhalte trainiert.
  17. Grundlage des Programms bildet die „Saarbrückener Agenda“, die im Rahmen der Herbstkonferenz der Innenministerinnen und -minister der Länder und des Bundes am 30.11.2016 verabschiedet wurde. Der Kerngedanke besteht dabei darin, die von Eigenentwicklungen und Sonderlösungen durchzogene polizeiliche IT-Landschaft zu vereinheitlichen.
  18. Vgl. Möller, 2022, „Künstliche Intelligenz im Phänomenbereich Kinderpornografie - Eine vergleichende Betrachtung der bei den Polizeien verwendeten Technologien“.
  19. Vgl. Abschlussbericht der BLAG Digitale Daten, in der Version vom 23.8.2022.
  20. Dieser wäre beispielsweise bei Vorliegen einschlägiger Vorerkenntnisse und/oder einer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit mit Kindern und/oder Kindern im eigenen Haushalt anzunehmen, so dass die Gefahr einer Begehung (weiterer) anderer erheblicher Straftaten, insbesondere gegen die sexuelle Selbstbestimmung, vorliegen würde, vorrangig bislang nicht aufgedeckter und noch andauernder Missbrauchshandlungen.
  21. Gemeint ist bekanntes inkriminiertes Material, welches in speziellen Datenbanken gespeichert ist und anhand der sog. Hashwerte, die die Datei quasi wie ein Fingerabdruck einzigartig machen, softwarebasiert herausgefiltert werden kann.
  22. Die Leistungsfähigkeit einer KI mit der eines Menschen im Hinblick auf die Klassifizierung von inkriminiertem Material zu untersuchen, wäre im Übrigen ein sehr interessanter Forschungsansatz.
  23. Vgl. unter www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/themen/digitalisierung/digitalisierung-zukunftsthema/Digitalisierungsprogramm/digitalisierungsprogramm_node.html, abgerufen am 7.12.22.
  24. Die Landespolizei Schleswig-Holstein hat im Jahr 2022 begonnen, eine Forschungsstelle Künstliche Intelligenz aufzubauen. Diese ist aktuell mit zwei Stellen beim LKA Kiel hinterlegt. Ziel ist es, mögliche Anwendungsbereiche einer KI innerhalb der Polizei zu erforschen und nach Möglichkeit auch deren Einsatz zu prüfen und umzusetzen.
  25. Allerdings ist (auch) bei externen IT-Firmen mittlerweile von einer mehrmonatigen bis hin zu über einem Jahr andauernden Bearbeitungszeit auszugehen.
  26. In Schleswig-Holstein erfolgt seit 2022 die Sachbearbeitung von Strafsachen der §§184b, c StGB, in den kinder- oder jugendpornografische Inhalte in Messenger-Chatgruppen unter Jugendlichen/Heranwachsenden eingestellt worden sind, durch die schutzpolizeilichen Dienststellen vor Ort, sofern die zuständige Staatsanwaltschaft den Fall als diversionsgeeignet und mit geringen strafprozessualen Erfordernissen eingestuft hat. In der Regel kommt es in diesen Fällen auch nicht zu einer Durchsuchung.
  27. Erste Bundesländer zahlen beispielsweise eine (Erschwernis-)Zulage für die Tätigkeit im Deliktsbereich Kinder- und Jugendpornografie.