Kinder im Ermittlungsverfahren

Möglichkeiten und Grenzen der Vornahme strafprozessualer Maßnahmen (Teil 2)

 

Von KOK`in Ass. jur. Julia Luther, Kiel1

 

3.5 Maßnahmen zur Identifizierung

Unproblematisch ist bei unverdächtigen Kindern, die beispielsweise als Zeugen in Betracht kommen, die Feststellung der Identität gemäß § 163b II StPO möglich.2 Wie aber verhält es sich mit Kindern, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind? Der Wortlaut des § 163b I StPO erfordert lediglich den Verdacht der Tatbegehung. Daraus kann geschlossen werden, dass grundsätzlich die Identitätsfeststellung eines Kindes nach dieser Norm zumindest dann möglich sein könnte, wenn das genaue Alter ungeklärt ist3 oder es sich zumindest nicht offensichtlich um eine Person unter 14 Jahren handelt4. Solange Unklarheit über die Strafmündigkeit besteht, handelt die Polizei zulässiger Weise mit dem Ziel, einen verfolgbaren Tatverdächtigen zu ermitteln. Zu diesem Zweck muss es dann eben auch möglich sein, alle Maßnahmen zu ergreifen, die der Altersermittlung dienen.5 Sie sind jedoch sofort einzustellen, sobald sich herausstellt, dass es sich um ein Kind handelt.

3.6 Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen

Beim Umgang mit tatverdächtigen Kindern stellt sich die Frage nach Eingriffsmöglichkeiten zum einen im Zusammenhang mit der Festhaltemöglichkeit im Rahmen der Identitätsfeststellung nach § 163b I StPO und zum anderen bei der vorläufigen Festnahme nach § 127 StPO.


Die herrschende Meinung vertritt den Standpunkt, dass es sich bei der „frischen Tat“ im Sinne des § 127 I StPO um eine Straftat handeln müsse und der Zweck der Festnahme ausschließlich der Sicherung des Strafverfahrens gegen den Tatverdächtigen diene. Da Kinder aber in keinem Fall der Strafverfolgung zugeführt werden können, könne auch ihre Festnahme auf der Grundlage des § 127 I 1 StPO nicht zulässig sein.6 Dies wird auch durch die PDV 382 gestützt, die ebenfalls keine Festnahme eines Kindes auf Grundlage des § 127 StPO nennt. Der Rechtsfrieden wird durch den Ausschluss der Jedermann-Festnahme nicht über die Maße belastet, da gemäß § 163b I 2 StPO der Polizei das Festhalten einer tatverdächtigen Person für die Dauer der Identitätsfeststellung möglich ist. Die Maßnahme ist jedoch nur zulässig, solange nicht klar ist, dass es sich um ein Kind handelt.


Die PDV 382 sieht in Nr. 6.1.1 eine Identitätsfeststellung bei Kindern nur auf Grundlage von § 163b II StPO als möglich an. Bei dieser Handlungsanweisung handelt es sich um die logische Konsequenz aus dem oben ausgeführten Vorgehen zur Feststellung der Identität. Bei Kenntnis über die Strafunmündigkeit kann gegen das tatverdächtige Kind nur noch auf Grundlage des § 163b II StPO vorgegangen werden.7

 

3.7 Körperliche Untersuchung und Spurensicherung

Die StPO regelt sowohl die körperliche Untersuchung von Beschuldigten, § 81a StPO, als auch von Dritten, § 81c StPO. Unter Berücksichtigung der vorherigen Aussagen zum Umgang mit tatverdächtigen Kindern läge es nahe, dass der fehlenden Beschuldigtenstatus der Anwendung des § 81a StPO bei Strafunmündigen entgegenstände. Die PDV 382 sieht jedoch ein Abweichen von diesem Grundsatz in Ausnahmefällen vor. Nach Nr. 7.1.1 ist die Untersuchung nach § 81a StPO auch bei Kindern möglich, wenn bei schwerwiegenden Straftaten die Strafmündigkeit anders, also beispielsweise mittel erkennungsdienstlicher Behandlung, nicht festgestellt werden kann. Die Maßnahme darf in einem solchen Fall aber nur zur Altersbestimmung herangezogen werden. Sofern das Alter nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, gilt der Grundsatz in dubio pro reo, das heißt, im Zweifelsfall muss zugunsten des Tatverdächtigen davon ausgegangen werden, dass es sich um ein Kind handelt.8 In allen anderen Fällen ist die körperliche Untersuchung von Kindern nur nach den §§ 81c, 81d StPO möglich, PDV 382 Nr. 7.1.1. Die Untersuchung ist statthaft, wenn festgestellt werden muss, ob sich in oder am Körper eine bestimmte Spur oder die Folgen einer Straftat befinden.9 Dabei ist wichtig, dass Kinder die Untersuchung verweigern können, wenn ihnen das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zusteht, Nr. 7.2.1. Grundsätzlich sind die Erziehungsberechtigten über das Ergebnis der Untersuchung zu benachrichtigen, Nr. 7.4.

3.8 Die erkennungsdienstliche Behandlung

Erkennungsdienstliche Maßnahmen an Kindern sind gemäß der PDV 382 Nr. 9.1.2 nur zum Zwecke der Identitätsfeststellung an Kontrollstellen nach § 111 I 2, III StPO und zum Zwecke der Aufklärung von Straftaten gemäß § 163b II StPO grundsätzlich zulässig. Dies darf nach Nr. 9.1.3 jedoch nicht gegen den Willen des Kindes passieren.

3.9 Die Durchsuchung

In Abgrenzung zur körperlichen Untersuchung, die stets die Untersuchung des entkleideten Körpers beschreibt10, bezieht sich die Durchsuchung auf Räume, Sachen sowie bekleidete Personen11.


3.9.1 Durchsuchungen bei Verdächtigen und Unverdächtigen


Zweck der Durchsuchung beim Verdächtigen nach § 102 StPO ist zum einen das Ergreifen des Verdächtigen12 sowie das Auffinden von Beweismitteln und Spuren13. Im Sinne dieser Norm bedeutet dies, dass der Tatverdacht noch nicht soweit erhärtet sein muss, dass bereits von einem Beschuldigten gesprochen werden kann.14 Die Maßnahme dient jedoch der Führung des Ermittlungsverfahrens und gegebenenfalls der Konkretisierung des Tatvorwurfs.15 Bei Kindern steht der Realisierung dieses Zweckes das Prozesshindernis des § 19 StGB entgegen. Die Durchsuchung nach § 102 StPO bei Kindern ist somit unzulässig.16 Ein entsprechender Hinweis ergeht auch durch die PDV 382 in Nr. 8.1.1. Die Durchsuchung kann für Zwecke der Strafverfolgung laut PDV jedoch nach § 103 I 1 StPO erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um die Verfolgung des Kindes handeln kann. Wenn ausschließlich dieses als Täter in Betracht kommt, so ist auch die Durchsuchung nach beim Unverdächtigen.17 Bei einer Durchsuchung bei einem Kind ist zu beachten, dass diese in Anwesenheit eines Erziehungsberechtigten erfolgen soll, PDV 382 Nr. 8.2.1. Sofern ein Dritter im Sinne von § 106 StPO hinzugezogen wird, soll gemäß Nr. 8.2.3 zum Schutz der Interessen des Kindes nach Möglichkeit auf die Hinzuziehung von Mitbewohnern, Nachbarn oder Bekannten verzichtet werden.


3.9.2 Durchsuchung zur Beschlagnahme zur Sicherung der Einziehung oder Unbrauchbarmachung


Ein weiterer durch die PDV gedeckter Durchsuchungsgrund ist die Durchsuchung zur Beschlagnahme zur Sicherung der Einziehung oder Unbrauchbarmachung gemäß § 111b StPO. Dabei ist nun zunächst festzustellen, dass die Vorschrift des § 111b StPO mit Wirkung zum 1.7.2017 neugefasst wurde,18 die Anweisung der PDV jedoch unverändert geblieben ist. Aus diesem Grund ist zunächst zu prüfen, ob durch die Neufassung Probleme bei der Anwendung auf Kinder entstehen können.


3.9.2.1 Alte Rechtslage


Die Sicherstellung nach § 111b StPO wurde erst mit der Neufassung der PDV 382 im Jahr 1995 mitaufgenommen. Davor waren Durchsuchungen nur nach § 103 StPO sowie an Kontrollstellen und zur Identitätsfeststellung möglich. Durch § 111b a.F. StPO wurde die Sicherstellung für Verfall, Einziehung und Gewinnabschöpfung geregelt und knüpfte damit an die Voraussetzungen der Regelungen zu Verfall und Einziehung des StGB an.19 Der Verfall nach § 73 StGB a.F. knüpfte in diesem Zusammenhang an das Vorliegen einer rechtswidrigen, nicht notwendigerweise schuldhaften Tat an.20 In Absatz 3 war geregelt, dass im Falle der Abwehr von Gefahren keine schuldhafte Begehung der Tat erforderlich war.21 Dennoch gab es Stimmen, die die Anwendbarkeit des § 111b StPO a.F. unter Verweis auf das Prozesshindernis des § 19 StGB für unzulässig erachteten, da dies ein Verbot jede Form von strafrechtlichen Rechtsfolgen nach sich zöge.22 Da jedoch gemäß § 76a II StPO eine eigenständige Einziehung anzuordnen war, wenn rechtliche Gründe einer Verurteilung entgegenstanden, erscheint eine solche Einschränkung nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen zu sein.23 Die Anwendbarkeit des § 111b StPO a.F., die durch die PDV 382 gestützt wurde, war aufgrund der Voraussetzungen für Einziehung und Verfall nach dem StGB auf Kinder möglich.


3.9.2.2 Reform der Regeln über die Vermögensabschöpfung


Die zum 1.7.2017 in Kraft getretenen Vorschriften über die Vermögensabschöpfung24 betrafen nicht nur § 111b StPO, sondern alle im Zusammenhang stehenden Normen des StGB und der StPO. Durch die Reform sollte das Recht vereinfacht und zweckmäßiger gestaltet werden. Ziel sollte sein, dass die Möglichkeiten der Vermögensabschöpfung maximiert werden25 bei gleichzeitiger Grundgesetzkonformität26. Dabei ist festzustellen, dass die Regelungen über den Verfall durch die Reform abgeschafft und mit den Regeln über die Einziehung zusammengeführt wurden. Der Verfall findet sich nun als „Einziehung von Taterträgen“ im Gesetz wieder, § 73 StGB n.F.27 Eine für die Anwendung auf Kinder relevante inhaltliche Änderung hat die Vorschrift jedoch nicht erfahren. Insbesondere findet die Vorschrift weiterhin ohne Berücksichtigung der Schuldhaftigkeit der Begehung Anwendung. In der Neufassung des § 74 StGB wurde der Absatz 3, der bislang die Sicherungseinziehung bei Schuldunfähigkeit regelte, gestrichen. Inhaltlich findet sich die Sicherungseinziehung aber in § 74b StGB wieder.28


3.9.2.3 Stellungnahme


Die Anpassungen der Regelungen zur Vermögensabschöpfung haben keine Auswirkungen auf das Verfahren im Umgang mit tatverdächtigen Kindern. Daher war es auch nicht erforderlich, Anpassungen in der PDV 8.1.1 vorzunehmen. Die Handlungsanweisung in ihrer Fassung von 1995 findet weiterhin Anwendung.29


3.9.3 Durchsuchungen an Kontrollstellen und zur Identitätsfeststellung


Kinder dürfen zudem an Kontrollstellen gemäß § 111 StPO und zum Zwecke der Identitätsfeststellung im Rahmen der Aufklärung von Straftaten gemäß § 163b II StPO durchsucht werden.


3.9.4 Die körperliche Durchsuchung


Im Rahmen einer Durchsuchung nach § 103 StPO können nicht nur Räumlichkeiten und Sachen, sondern auch Personen durchsucht werden.30 Bei einer körperlichen Durchsuchung eines Kindes ist in besonderer Weise darauf zu achten, dass es nicht vor anderen bloßgestellt wird, PDV 382 Nr. 8.3.1, und dem Grundsatz der Durchführung durch eine Person gleichen Geschlechts gemäß § 81d StPO genügt wird.

 


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4 Der Umgang mit Kriminalität von Kindern


Die Polizei dokumentiert im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens alle Maßnahmen und Handlungen. Das bedeutet, dass auch in Bezug auf Kinder polizeiliche Dokumentationen erfolgen. Dies dient dem oben in den Ermittlungszielen genannten Zweck, vormundschaftsgerichtliche und behördliche Maßnahmen gegen die Erziehungsberechtigten anzuregen. In diesem Rahmen werden beispielsweise Schreiben an das Jugendamt gefertigt, um dieses über den Verdacht der Kindeswohlgefährdung zu informieren, wenn die Polizei Kenntnis erlangt, dass ein Kind von seinen Erziehungsberechtigten zur Begehung von Straftaten angehalten wird.

4.1 Zuständigkeit der Familiengerichte

Wenngleich die Strafverfolgungsbehörden bei intensiver Auffälligkeit eines Kindes wenig Handlungsspielraum zur Einwirkung auf das Kind haben, so ist der Staat dennoch nicht handlungsunfähig. Die Zuständigkeit liegt dann bei den Familiengerichten, die bei Gefährdung des Kindeswohls gemäß §§ 1666, 1666a, 1631 BGB tätig werden können. Im Extremfall besteht auch beispielsweise die Möglichkeit der Heimunterbringung nach § 1631b BGB.

4.2 Gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen

Nicht näher beleuchtet wurden in den bisherigen Ausführungen die Möglichkeiten der Polizei auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr gegen Kinder tätig zu werden. Häufig ist gerade im Umgang mit Kindern ein Handeln mit dem Ziel der Gefahrenabwehr angezeigt. Die Maßnahmen hierfür sind jedoch nicht in der StPO, sondern den entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften geregelt. Diese dienen der Prävention von Straftaten bzw. der Verhinderung von Schäden. Ihnen fehlt daher der repressive Charakter des Strafrechts, so dass die Kinder hier keinen staatlichen Schutz im Sinne des Schuldausschlusses benötigen.

4.3 Gewährung des Datenschutzes bei Rückgriff auf Erkenntnisse aus dem Kindesalter

Im Zusammenhang mit den durch die Polizei gewonnenen und unter Umständen an das Jugendamt weitergeleiteten Erkenntnisse über die Begehung von Straftaten durch ein Kind treten weitere Fragestellungen zu tage. Inwieweit dürfen diese Erkenntnisse in einem späteren jugendgerichtlichen Verfahren Berücksichtigung finden? Liefe eine solche Weitergabe der Daten nicht dem Schutzgedanken, der ein Kind vor Bestrafung für kindliches, nicht schuldhaftes Verhalten bewahren soll, zuwider?


Denn auf polizeiliche Erkenntnisse kann in einem späteren jugendstrafrechtlichen Verfahren relativ einfach zugergriffen werden. Sofern diese nicht bereits durch den Sachbearbeiter bei der Polizei Einzug in die Ermittlungsakte erhalten haben, erfährt das Gericht in der Regel über die Jugendgerichtshilfe die Umstände der Kindheit des dann Jugendlichen. Es ist gemäß § 43 JGG Aufgabe des Gerichts, die Entwicklung des Jugendlichen zu erforschen und die Jugendgerichtshilfe hat es nach § 38 II 2 JGG hierbei zu unterstützen. So ist es jedenfalls nicht unüblich oder unwahrscheinlich, dass Erkenntnisse über die Begehung von Straftaten im Kindesalter Berücksichtigung finden.31 Es stellt sich daher mit einer gewissen Berechtigung die Frage, ob ein solcher Umgang mit den zuvor erlangten Daten zulässig ist. Denn so würden die zum Zeitpunkt der Strafunmündigkeit erhobenen Daten nachträglich repressiv gegen das Kind eingesetzt werden.32 Für die Tätigkeit des Jugendamtes als Jugendgerichtshilfe sieht § 61 III SGB VIII allerdings ausdrücklich vor, dass der Datenschutz der Arbeit nach dem JGG nicht entgegensteht.33 Darüber hinaus hat die allgemeine Jugendhilfe gemäß § 69 I Nr. 1 SGB X, §§ 64, 65 SGB VIII ein Mitteilungsrecht an die Jugendgerichtshilfe.34 Dieses Vorgehen widerspricht nicht dem Gedanken der Nichtverfolgbarkeit kindlichen Verhaltens. Sowohl das Jugendgericht als auch die Jugendstaatsanwaltschaft sind zur eigenständigen Ermittlung der Persönlichkeit des Jugendlichen anzustellen. In diesem Rahmen haben sie die Möglichkeit, umfassende Einsicht in die Akten der verschiedenen Institutionen einzuholen oder Berichte anzufordern.35 Da das Jugendstrafrecht ein Erziehungsstrafrecht ist, hat es in erster Linie einen spezialpräventiven, keinen repressiven Charakter.36

 

5 Schlussbetrachtung


Der Schutz des Kindes hat Vorrang vor der Strafverfolgung. Dieses Prinzip zieht sich, ausgehend von § 19 StGB, durch das gesamte Straf- und Strafverfahrensrecht. Trotz der Einschränkungen, die infolge der Strafunmündigkeit von Kindern bei den Möglichkeiten der Durchführung von strafprozessualen Maßnahmen vorliegen, ist die Polizei nicht handlungsunfähig, wenn sie mit der Begehung von Straftaten durch Kinder konfrontiert wird. Dabei gilt stets der Grundsatz, dass Kinder in einem Ermittlungsverfahren keinen Beschuldigtenstatus einnehmen können und somit kein Verfahren gegen das Kind selbst betrieben werden kann. Der teilweise vertretenen Auffassung, ein Kind solle im Rahmen von Ermittlungen gleich einem Beschuldigten behandelt werden, ist eine klare Absage zu erteilen. Im Ergebnis käme damit dem Ermittlungsverfahren die Aufgabe der Repression zu. Wie bereits oben festgestellt, würde dies zu einer Aushöhlung des Prinzips der Schuldunfähigkeit von Kindern führen, um unter Ausschluss des gerichtlichen Verfahrens das Ermittlungsverfahren führen zu können. Es gibt keinen stichhaltigen Grund, der ein solches Vorgehen rechtfertigte.



Selbstverständlich ist das Einschreiten auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe an eine gewisse Eingreifschwelle gebunden. Es macht aber auch keinen Sinn, das was aus kriminologischer Sicht allgemein bekannt ist, nämlich, dass Kinder- und Jugendkriminalität ubiquitär und episodenhaft ist, bei jeder Bagatellhandlung staatlich zu bewerten. Es gehört zur normalen Entwicklung junger Menschen dazu, dass sie im Laufe des Älterwerdens Grenzen austesten. Es muss hingenommen werden, dass der Gesetzgeber Kinder von der Strafmündigkeit ausgenommen hat. Es handelt sich hierbei nicht um eine regelungswidrige Lücke im Gesetz sondern ist vielmehr Ausdruck der Fürsorgepflicht des Staates und der Gesellschaft gegenüber Kindern.


Die Polizei kann auf tatverdächtige Kinder als Zeugen zurückgreifen, wenn es weitere Beteiligte an der Straftat gibt, gegen die ein Ermittlungsverfahren geführt und auf diesem Weg die Aufklärung der Tat betrieben werden kann. Außerdem kann sie auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr tätig werden und es stehen die Regelungen zur Kinder- und Jugendhilfe bereit. Um in schwerwiegenden Fällen unter Hinzuziehung des Familiengerichtes intervenieren zu können, darf davon ausgegangen werden, dass die Polizei mit Hilfe der PDV 382 gut gerüstet ist, um auch bei tatverdächtigen Kindern adäquat zu reagieren.


Die Berliner Polizei hat, als sie den Sechsjährigen als Beschuldigten vorlud, sicher eine Grenze überschritten. Das gegen den Jungen eingeleitete Verfahren diente repressiven Zwecken, Ermittlungen zur Identitätsfeststellung waren nicht erforderlich. Das Übergehen der dem Kindeswohl dienenden gesetzlichen Schutznormen ist keine Lappalie. Vielmehr kommen hier seitens der ermittelnden Beamten eine Strafbarkeit wegen Verfolgung Unschuldiger, § 344 I 1 StGB, in Betracht. Abschließend kann daher festgestellt werden, dass die PDV 382 in ihrer aktuellen Fassung, obgleich sie seit mehr als 25 Jahren unverändert geblieben ist, eine nützliche Handlungsanweisung für den Dienstalltag liefert. Sie kann einem Kind Belastungen durch unzulässige strafprozessuale Maßnahmen und dem Ermittler eine Menge Ärger ersparen.


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Anmerkungen

 

  1. Zum 1. Teil des Beitrages und zu der Autorin vgl. Die Kriminalpolizei 3/2023, S. 27-30.
  2. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen, 2023, 66. Auflage, § 163b Rn. 4.
  3. Verrel, a.a.O., S. 285; Bottke, 1995, Berücksichtigung kinderdelinquenten Vorverhaltens, in: Kriminalistik und Strafrecht: Festschrift für Friedrich Geerds zum 70. Geburtstag, S. 263-291 (278).
  4. Köhler, a.a.O., § 163b Rn. 4.
  5. Verrel, a.a.O., S. 285.
  6. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 127 Rn. 3a, 8; Frehsee, a.a.O., S. 303; Kintzi, 1997, S. 34.
  7. Schmitt, a.a.O., Einl. Rn 20, 21 und § 163b Rn.17; Verrel, 2001, S. 286.
  8. Dölling, a.a.O., § 1 Rn. 23; Müller, 2017, Zum Freiburger Mordfall: Altersfeststellung und Anwendung des Jugendstrafrechts, community.beck.de/2017/02/23/zum-freiburger-mordfall-altersfeststellung-und-anwendung-des-jugendstrafrechts, abger. am 21.11.2022.
  9. Schmitt, a.a.O., § 81c Rn. 11.
  10. Schmitt, a.a.O., § 81a Rn. 10; § 81c Rn 16.
  11. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 7ff.
  12. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 11, 12.
  13. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 13.
  14. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 3.
  15. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 3.
  16. Köhler, a.a.O., § 102 Rn. 4.
  17. Köhler, a.a.O., § 103 Rn. 1.
  18. Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, BGBl. I 2017, S. 872, 1094.
  19. Verrel, a.a.O., S. 285.
  20. Verrel, a.a.O., S. 285.
  21. Fischer, a.a.O., § 74 Rn. 13.
  22. Ostendorf, 2021, a.a.O., § 1 Rn. 4.
  23. Verrel, a.a.O., S. 285.
  24. Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, BGBl. I 2017, S. 872, 1094.
  25. Meißner, 2017, Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung – ein Ehrgeizprojekt oder: Höher, schneller, weiter… das neue Abschöpfungsrecht aus Sicht des Strafverteidigers, in: KriPZ, kripoz.de/2017/07/17/die-reform-der-strafrechtlichen-vermoegensabschoepfung-ein-ehrgeizprojekt-oder-hoeher-schneller-weiter-das-neue-abschoepfungsrecht-aus-sicht-des-strafverteidigers/, abger. am 21.11.2022.
  26. BVerfG 2 BvR 794/95.
  27. BT-Drs. 2016, S. 48.
  28. BT-Drs. 2016, S. 74.
  29. Dölling, a.a.O., § 1 Rn 26.
  30. Hauschild, in: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, 2022, 2. Auflage, Band 1, § 103 Rn. 4.
  31. Bottke, a.a.O., S. 289.
  32. Frehsee, a.a.O., S. 316.
  33. Verrel, a.a.O., S. 288.
  34. Ostendorf, 2021, a.a.O., § 43 Rn. 14.
  35. Dölling, a.a.O., § 43 Rn. 14; Ostendorf, 2021, a.a.O., Grdl. zu §§ 1 und 2, Rn. 7.
  36. Dölling, a.a.O., § 2 Rn. 1.