Die Rolle der Gewalt bei der Radikalisierung von Linksextremisten

Von Dr. Udo Baron, Hannover

 

1 Einleitung

 

 

Es ist der 6. Juli 2017, ein Tag vor Beginn des G20-Gipfeltreffens in Hamburg. Mit der „Welcome to Hell“ – Demonstration wird die „heiße“ Phase der Gipfelproteste eingeläutet. Das selbsterklärende Motto dieser Demonstration gibt auch zugleich deren Stoßrichtung vor: Unverkennbar geht es Teilen der etwa 12.000 Teilnehmern vor allem um die gewaltsame Auseinandersetzung mit der Polizei als Repräsentant des verhassten Systems. Bereits nach der Auftaktkundgebung am Fischmarkt im Stadtteil St. Pauli eskaliert die Lage, als sich der Aufzug u.a. mit etwa 1.000 vermummten und einen „Schwarzen Block“ bildenden Teilnehmenden in Bewegung setzt. Versuche der Polizei, dieses zu unterbinden, münden in die ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen der Gipfelproteste. Polizisten werden mit Holzlatten, Eisenstangen und Flaschen attackiert und mit Steinen beworfen. Nach dem Ende der Demonstration ziehen die Teilnehmer des „Schwarzen Blocks“ in Kleingruppen marodierend durch St. Pauli und Altona. Sie errichten Barrikaden, plündern und zerstören im Laufe der Nacht Geschäfte und stecken Autos in Brand. Zugleich wird mit den nächtlichen Krawallen der Übergang zum „Tag des Ungehorsams“, dem zentralen Tag für die Durchführung von Blockaden und Aktionen zu Beginn des Gipfeltreffens, bereitet.2


Am 7. Juli sollen Teile des Hamburger Hafens blockiert werden, um die Lieferwege zu verzögern bzw. zu unterbrechen. Im gesamten Innenstadtbereich kommt es immer wieder zu Angriffen auf Polizeibeamte und die Infrastruktur der Stadt sowie zu Versuchen, die Protokollstrecke der Gipfelteilnehmer zu blockieren. So wird die Station der Bundespolizei in Altona und das dortige Rathaus von Autonomen mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen. Zugleich nutzen Autonome die Situation, um in Altona mehr als 30 Autos an der Elbchaussee in Brand zu setzen und eine Filiale des schwedischen Möbelherstellers Ikea zu attackieren. Gegen 15.00 Uhr setzt die zweite Welle der Blockadeversuche mit dem Ziel ein, die Elbphilharmonie, in der am Abend für die Staatsgäste ein Konzert stattfinden sollte, zu blockieren. In deren Verlauf kommt es zu stundenlangen Straßenschlachten zwischen Autonomen und der Polizei im Umfeld der Landungsbrücken. Am Abend bricht eine Welle der Zerstörung über das Schanzenviertel herein, in deren Zuge Geschäfte geplündert, Autos angezündet und Anwohner durch Marodeure bedroht werden. Als die Polizei anrückt, stehen auf den Dächern Autonome, um sie mit Molotowcocktails, Metallkugeln, Eisenstangen und Gehwegplatten zu attackieren.3

 


Die „Rote Flora“ im Hamburger Schanzenviertel.


Die Ereignisse von Hamburg erschütterten die Republik, stellte doch die hohe Gewaltbereitbereitschaft der autonomen Szene vor und während des Gipfeltreffens und ihre dahinter sichtbar werdende Radikalisierung eine neue Dimension linksextremistischer Gewalt dar. Sie unterstreicht zugleich den zentralen Stellenwert, den die Gewalt, insbesondere für Autonome, einnimmt. Welchen Stellenwert hat die Gewalt tatsächlich für das autonome Spektrum? Welchen Gewaltbegriff haben Autonome? Was veranlasst Menschen, sich zu radikalisieren? Welche Rolle spielt die Gewalt bei der Radikalisierung von Autonomen. Was sind die auslösenden Momente für eine Radikalisierung in die Gewalt und in der Gewalt? Wie kann der Radikalisierung begegnet werden? Diesen Fragen will der folgende Beitrag nachgehen und dabei versuchen, entsprechende Antworten zu geben.

 

 

2 Autonome Gewalt


Autonome kennzeichnet ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft. Auch wenn nicht alle von ihnen selber Gewalt ausüben, so befürworten sie dennoch in der Regel den Einsatz von Gewalt. Als Militanter gilt daher nicht nur der aktiv Handelnde, sondern auch derjenige, der Gewalt in Kauf nimmt bzw. mit gewaltsamen Aktionen sympathisiert. Gewalt wird zudem als „Selbstbefreiung“ von verinnerlichten Herrschafts- und Gewaltverhältnissen aufgefasst und gehört aus diesem Grunde zu den Grundpfeilern des autonomen Selbstverständnisses. So heißt es in einen ihrer Statements: „Die Anwendung von Gewalt/revolutionärer Gewalt halten wir unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur für legitim, sondern auch für unverzichtbar. Wir werden uns nicht an den vom Staat vorgeschriebenen legalen Rahmen von Protest und Widerstand halten. Denn damit wären wir auch kontrollier-, berechen- und beherrschbar. […] Also – eine Absage an Gewalt wird es von uns nicht geben – nicht heute und auch nicht in Zukunft!!!!!“4


Die autonome Gewaltbereitschaft ist durchaus auch politisch zu verstehen, denn sie basiert auf einem klaren Feindbild, zu dessen tragenden Säulen der Staat und seine Repräsentanten sowie Rechtsextremisten bzw. diejenigen, die Linksextremisten dafür halten ebenso gehören wie mittlerweile auch der linksextremistischen Szene kritisch gegenüberstehende Wissenschaftler. Politisch motivierte Gewalt dient Autonomen als „Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft“, denn um die angestrebte herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten, muss zuvor der demokratische Rechtsstaat als Garant der bisherigen Ordnung beseitigt werden. Gewalt hat dabei für Autonome eine Außen- und eine Binnenwirkung. Nach außen dient sie u.a. dazu, öffentliche, insbesondere mediale Aufmerksamkeit, zu generieren und die eigenen Interessen durchzusetzen. Darüber hinaus hat sie zum Ziel, die Kosten für bestimmte politische Entscheidungen so in die Höhe zu treiben, dass diese, zumindest langfristig, politisch nicht mehr durchsetzbar sind. Zugleich wirkt die Gewalt nach innen integrations- und identitätsstiftend für die jeweiligen Bezugsgruppen, denn sie gibt ihren Akteuren ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ gegen den demokratischen Rechtsstaat. Die gewaltsame Auseinandersetzung mit der Polizei dient dabei als eine Art „Ritterschlag“ für den einzelnen Autonomen, denn sie fördert seine Glaubwürdigkeit, entschlossen und aktiv für die Ziele der autonomen Szene einzustehen. Durch ein solches Verhalten kann der einzelne Autonome seinen Aufstieg in den eigentlich nicht existenten Hierarchien innerhalb seiner Bezugsgruppe beschleunigen. Vor allem männlichen Autonome dient der Einsatz von Gewalt zudem dazu, sich gegenüber dem anderen Geschlecht zu profilieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Gewalt – wie auch im Rechtsextremismus und Islamismus – ästhetisiert und heroisiert wird. So stilisieren sich Autonome gerne in Videos, auf Fotos und Plakaten als „lonesome cowboy“ oder „lonesome streetfighter“ vor brennenden Barrikaden oder Autos und aufgerüsteten Polizeiketten. Dadurch unterstreichen sie zugleich die Faszination, die Gewalt auf sie ausübt. Autonome huldigen förmlich der Gewalt als Mittel von Macht und Stärke. Gewalt wird somit zum einem unverzichtbaren Lebensgefühl und zu einem Symbol für die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen. In manchen Situationen herrscht daher sogar eine regelrechte Gewaltbegeisterung, denn „es macht einfach Spaß, den Bullen eins in die Fresse zu hauen…“ wie es in einem ihrer Selbstzeugnisse heißt.5


Ihren Ausdruck findet autonome Gewalt in erster Linie in Massenmilitanz und klandestinen Aktionen. Massenmilitanz tritt dabei vornehmlich am Rande von Demonstrationen in Erscheinung. Konspirativ agierende Kleingruppen führen zudem Brand- und Sprengstoffanschläge vor allem gegen Luxus- und Firmenfahrzeuge, aber auch gegen öffentliche Einrichtungen wie Jobcenter, Polizeistationen und Behörden durch. Im Gegensatz zu den „klassischen“ Autonomen ist das Verhältnis postautonomer Gruppierungen wie der "Interventionistischen Linken" (IL) und dem Bündnis „…umsGanze!kommunistische Bündnis“ (uG) zur Gewalt widersprüchlicher. Einerseits distanzieren sie sich von der Anwendung von Gewalt als politisches Mittel. Andererseits betonen sie: „Unsere Mittel und Aktionsformen, defensive wie offensive, bestimmen wir also strategisch und taktisch in den jeweiligen Situationen, so wie wir sie verantworten können … Es geht uns darum, die kollektive Fähigkeit herzustellen, die Wahl der Mittel nach unseren Zielen selbst zu bestimmen“ wie die IL in ihrem Zwischenstandspapier festhält.6 Die Absicht, das demokratische Spektrum als potentiellen Bündnispartner nicht zu verlieren, dürfte für diese zweideutige Haltung ursächlich sein. Ihr Verhältnis zur Gewalt kann daher nur als taktisch bezeichnet werden, zumal sich die IL in ihren Papieren bislang nie eindeutig von der Gewalt als Lösungsmittel für politische Probleme distanziert hat.

 

3 Gewaltbegriff


Um die von Autonomen ausgehende Gewalt richtig einordnen und ihre Bedeutung für deren Radikalisierung verstehen zu können, muss man sich den für sie und die Postautonomen geltenden Gewaltbegriff vergegenwärtigen. In Anlehnung an den norwegischen Friedensforscher Johann Galtung liegt die Ursache für Gewalt in den „kapitalistischen Produktionsverhältnissen.“ Diese üben eine auf gesellschaftlichen Strukturen wie Werte, Normen, Institutionen und Machtverhältnissen basierende „strukturelle Gewalt“ auf ihre Bürger aus. Diese Gewalt ist systemimmanent, drückt sich durch Ungleichheit unterschwellig aus und hindert den Einzelnen daran, sich seinen Anlagen, Möglichkeiten und Wünschen entsprechend frei zu entfalten und verwirklichen zu können. Seine Selbstverwirklichung bleibt somit hinter der in einer Gesellschaft möglichen zurück.7 Mit dieser Interpretation wird auch zugleich das Täter-Opfer-Narrativ unmissverständlich definiert. Der Staat ist immer der Täter und der Autonome immer das Opfer. Da diese „Diktatur der Gewalt“ nach linksextremistischer Auffassung den kapitalistischen Systemen inhärent ist, leiten nicht nur Autonome bzw. Postautonome, sondern Linksextremisten im Allgemeinen daraus unter Berufung auf den Philosophen und Sozialwissenschaftler Herbert Marcuse ein Naturrecht von „unterdrückten“ Minderheiten auf Widerstand ab. Marcuse prägte dafür das Prinzip „Gegengewalt“. Es versteht sich ausschließlich als Reaktion auf die vermeintliche „Gewalt des Systems“ und somit als ein reaktives und dadurch legitimes Mittel, um die herrschende Gewalt aufzubrechen und Veränderungen herbeizuführen.8 Vor diesem Hintergrund lehnen Autonome auch das staatliche Gewaltmonopol ab, da sie selber entscheiden wollen, gegen wen sie wann und wie Gewalt anwenden.


Schon seit Jahrzehnten ist vor diesem Hintergrund in der autonomen Szene eine sog. Militanzdebatte virulent. In ihrem Kern dreht sie sich um die Anwendung von Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen. Zwar ist die gezielte Tötung von Menschen seit der Ermordung zweier Polizisten durch den Autonomen Andreas Eichler am 2. November 1987 aus einer Demonstration gegen die Erweiterung des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens um die Startbahn West heraus bislang innerhalb der linksextremistischen Szene nicht mehr vermittelbar. Dennoch versuchen immer wieder radikale Kreise innerhalb des autonomen Spektrums diesen Konsens zu kippen.9

 

4 Radikalisierung – Begriffsbestimmung und Ursachenforschung


Betrachtet man die Rolle der Gewalt in der linksextremistischen Szene, so stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Radikalisierung und Gewalt und eine mögliche Wechselwirkung zwischen beiden. Um sich dieser Frage anzunähern, gilt es, zunächst den Begriff „Radikalisierung“ näher zu definieren. Zwar existiert keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs, dennoch besteht Einigkeit darüber, dass die Radikalisierung ein dynamischer, individueller und multifaktorieller Prozess ist, der die zunehmende Annäherung einer Person an extremistische Einstellungen und Handlungen beschreibt. Aus diesem Grunde wird auch von Radikalisierungsprozessen gesprochen.10 Das Bundeskriminalamt definiert den Begriff „Radikalisierung“ als „die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel, bis hin zur Anwendung von Gewalt, zu befürworten, zu unterstützen und/oder einzusetzen.“11 Die Kampagne „Zivile Helden“ der Polizei beschreibt Radikalisierung wie folgt: „Eine Radikalisierung beschreibt den Prozess, in dem ein Einzelner oder eine ganze Gruppe extrem religiöse, soziale oder politische Einstellungen und Überzeugungen entwickelt oder übernimmt und gegebenenfalls eine dementsprechende Ideologie verinnerlicht.“12 Mit „Radikalisierung“ wird somit ein Prozess beschrieben, in dem ein Individuum oder eine Gruppe radikale oder extreme politische, soziale oder religiöse Einstellungen und Überzeugungen entwickelt bzw. übernimmt und sich gegebenenfalls eine dementsprechende Ideologie zu eigen macht.


Individuelle, soziale und gesellschaftliche Risikofaktoren wie Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung, schulische und berufliche Misserfolge, fehlende soziale Kontakte, ausbleibende Wertevermittlung, prekäre soziale Lebensumstände, Armut – dass alles kann dazu beitragen, dass Menschen anfällig werden für extremistische Ideologien und Organisationen. Wachsende soziale Ungleichheit, fehlende Anerkennung, ein ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden und fehlende Zukunftsperspektiven sind ebenso weitere Risikofaktoren für eine Radikalisierung wie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, insbesondere, wenn sie mit Gewalt verbunden sind. An vorderster Stelle stehen in diesem Zusammenhang Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Jugend, erlitten in erster Linie durch das soziale Umfeld wie Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte. Persönliche Bekanntschaften mit Extremisten bzw. mit Personen aus deren Umfeld können ferner zu einer Hinwendung in diese Milieus führen. Hinzu können mit fortgeschrittenem Lebensalter vor allem ein Gefühl einer unerträglichen Ungerechtigkeit auf dieser Welt und der innere Drang, dagegen aktiv werden zu müssen sowie Gewalterfahrungen in Zusammenhang mit dem Staat, seinen Institutionen und Repräsentanten kommen. Vor allem die Konfrontation mit der Polizei als Repräsentanten des Staates und Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols sowie mit dem politischen Gegner, insbesondere mit Rechtsextremisten, kann dabei zu einem Vertrauensverlust in Staat und Gesellschaft und deren Ansätze zur Problembewältigung führen. Gewaltverherrlichende Bilder, Filme und Games wie sie in der digitalen Welt zu jederzeit und an jedem Ort abrufbar sind, können durch ihre aufputschende Wirkung und zumeist eindimensionale Problemlösung die Radikalisierung in die Gewalt beschleunigen. Dienen sie doch der Bestätigung eigener Positionen und fungieren somit als Echokammern einer Radikalisierung in die Gewalt.


Einen typischen Radikalisierungsverlauf gibt es vor diesem Hintergrund nicht. In einem Radikalisierungsprozess nimmt vielmehr eine Person nach und nach eine radikale Haltung ein, d.h. sie bezieht sich auf Werte und Ansichten, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Kennzeichnend für eine Radikalisierung ist somit die Verknüpfung einer radikalen Ideologie mit der Entschlossenheit, sie auch in die Tat umzusetzen. Man hat es praktisch mit einer zweifachen Radikalität zu tun: zum einen mit einer extremistischen Ideologie und zum anderen mit einer extremistischen Gewalttat. Leider fehlen bislang weitgehend sozialwissenschaftliche Studien zum Linksextremismus, die der Auseinandersetzung mit dieser Thematik ein empirisches Fundament geben könnten.

 

5 Formen der Radikalisierung


Das Peace Research Institute Frankfurt und das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sehen in einer gemeinsamen Studie in der Radikalisierung „die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen.“ Vor diesem Hintergrund haben beide Institute gemeinsam drei Formen der Radikalisierung herausgearbeitet: Die Radikalisierung ohne Gewalt, die Radikalisierung in die Gewalt und die Radikalisierung in der Gewalt. Unter Radikalisierung ohne Gewalt fallen dabei alle Individuen und Kollektive, die auf gewaltfreiem Wege versuchen, gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. Die Radikalisierung in die Gewalt bildet das „klassische“ Verständnis von Radikalisierung ab, wenn ein Individuum oder ein Kollektiv zur Durchsetzung ihrer Ziele und Ideen bereit ist, Gewalt anzuwenden. Bei der Radikalisierung in der Gewalt handelt es sich um Individuen und Gruppen, die bereits Gewalt anwenden und sich nunmehr weiter radikalisiert haben bis hin zur Stufe des Terrorismus. Für eine Radikalisierung in der Gewalt sind vor allem gruppendynamische Prozesse von Bedeutung: die Isolation und das Bedrohungsgefühl innerhalb einer Bezugsgruppe führen zu starken Interdependenzen. Die Gruppe schließt sich nach außen ab und homogenisiert sich nach innen. Zudem entwickelt sie Narrative. Diese Gruppenerzählungen und -diskurse wie z.B. das Täter-Opfer Narrativ können dann identitätsstiftend und integrationsfördernd für die Bezugsgruppe wirken. Dem Einzelnen bietet sich dabei die Chance, sich durch die Anwendung von Gewalt als starker Arm der Gruppe zu präsentieren, als derjenige, der der Gruppe Schutz und Sicherheit gibt. Durch diese Rolle kann die eigene Bedeutung gesteigert und eine emotionale Befriedigung erreicht werden. Politische Ereignisse oder Entwicklungen, die als Zumutung und/oder Bedrohung empfunden werden, können schließlich das auslösende Moment für den Weg in den Extremismus bzw. in den Terrorismus und somit für eine Radikalisierung in die Gewalt bzw. in der Gewalt sein.


Die Einführung neuer Technologien hat die Radikalisierung in eine neue Dimension der Gewalt geführt. Mit der Erfindung des Dynamits, der Fotografie, des Films und in der jüngsten Zeit des Internets konnten Taten mit hohen Opferzahlen und Sachschäden überhaupt erst im erforderlichem Maße geplant und durchgeführt werden. Durch die Digitalisierung finden sie in Sekundenschnelle eine weltweite Verbreitung wie beispielsweise die Anschläge vom 9. September 2001 auf New York und Washington gezeigt haben. Auch wenn die autonome Szene eher technikkritisch eingestellt ist, kann davon ausgegangen werden, dass auch in diesem Phänomenbereich die Radikalisierung heutzutage weitgehend über die digitalen Medien erfolgt. Das Internet mit seinen einschlägigen Websites, Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sowie Messangerdiensten wie WhatsApp, Signal und Telegram dient dabei der globalen Vernetzung, Organisierung und Durchführung von Aktionen. Das World Wide Web bildet somit heutzutage die „Infrastruktur des sog. Widerstandes“.13 Vor allem dem Online-Portal Linksunten.indymedia.de kam dabei bis zu seinem Verbot durch den Bundesminister des Innern am 25. August 2017 eine zentrale Bedeutung zu. Hier konnten Diskussionen der autonomen Szene anonymisiert geführt werden, Anleitungen für die Begehung von Straftaten wie den Bau von Sprengsätzen verbreitet und Selbstbezichtigungsschreiben für Anschläge eingestellt werden. Seit dem Verbot von linksunten.indymedia.de hat die Mutterdomain de.indymedia.org. diese Funktion weitgehend übernommen. Die Medien der analogen Welt, etwa Publikationen wie die Szenemagazine „radikal“ oder „Interim“ haben dagegen in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung für die linksextremistische Szene verloren. Sie liefern zwar, sofern sie überhaupt noch erscheinen, u. a. Anleitungen zur praktischen Umsetzung von Gewalttaten, weshalb sie nahezu regelmäßig von den zuständigen Gerichten beschlagnahmt werden. Im Gegensatz zu den digitalen Medien sind sie heute aber von immer geringerer Bedeutung für die linksextremistische Szene.


Die Selbstradikalisierung stellt gegenwärtig die wohl größte Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat dar – und das gilt für alle Phänomenbereiche. Die Sicherheitsbehörden haben es dabei in der Regel mit einem autoradikalisierten Einzeltäter zu tun. Dieser sog. lonesome wolf bricht in der Regel alle Beziehungen zu seinem sozialen Umfeld ab und schottet sich ab. Seine rationale und emotionale (Selbst-)Radikalisierung erfolgt über die digitale und analoge Welt. Er radikalisiert sich zumeist unbemerkt von der Außenwelt vor allem über die Sozialen Netzwerke und saugt sich dort förmlich voll mit extremistischen Texten, Bildern, Filmen und Spielen. Befreien will er niemanden aus seiner sozialen Lage, kollektive Ziele verfolgt er eher nicht. Sein Handeln leitet vielmehr persönliche Rache- und Gewaltgelüste. Eine Anbindung an eine politische Szene gibt es meistens nicht.


Im Linksextremismus ist diese Art der Radikalisierung zwar bislang noch nicht üblich, da Taten bislang vermittelbar sein müssen. So liegt die letzte linksextremistisch motivierte Tat eines Einzeltäters im deutschsprachigen Raum mittlerweile mehr als 120 Jahre zurück. Der italienische Gelegenheitsarbeiter und Anarchist Luigi Lucheni tötete am 10. September 1898 die österreichisch-ungarische Kaiserin Elisabeth durch einen Stich mit einer spitzen Feile ins Herz. Er wollte einen Vertreter der „herrschenden Klasse“ töten und hatte sich dafür ursprünglich den italienischen Kaiser Umberto I ausgesucht. Da er aber kein Geld für eine Reise nach Rom hatte, nahm er den Herzog Philippe d’ Orléans ins Visier. Dieser änderte aber kurzfristig seine Reisepläne und erschien erst gar nicht in Genf. Aus diesem Grunde wählte er schließlich Elisabeth zu seinem Opfer. Mit dem Satz „Ich glaube an die Propaganda durch die Tat“ stilisierte er sich zum Anarchisten.14 Doch sollte man auch im Linksextremismus entsprechende Taten künftig nicht pauschal ausschließen.

 

6 Ausblick


Die Radikalisierung im Linksextremismus befindet sich in der Bundesrepublik, wenn auch regional in unterschiedlicher Ausprägung, auf einem hohen Niveau. Während das Aggressionsniveau steigt, sinkt die Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt in der autonomen Szene. So verzeichneten die linksextremistisch motivierten Gewalttaten bundesweit im Jahr 2020 neue Höchststände. Die Fallzahlen bei den Gewalttaten stiegen um 45,06% von 1.052 im Jahr 2019 auf 1.526 im Jahre 2020.15 Auch die Intensität und Professionalität der Taten hat zugenommen wie beispielsweise der Angriff auf eine Immobilienmaklerin in Leipzig und zuvor bereits die Gewalt beim G20-Gipfel von Hamburg beispielhaft zeigen. Die Zahlen belegen eine wachsende Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene und eine sich dort vollziehende zunehmende Radikalisierung, die ihren Ausdruck u.a. in einer Zunahme klandestin agierender Kleingruppen findet. Diese legen kaum mehr Wert auf die Vermittelbarkeit ihrer Taten. Vielmehr schotten sie sich von der übrigen linksextremistischen Szene bewusst ab und greifen gezielt ihre politischen Gegner an. Dabei nehmen sie auch den Tod ihrer Opfer billigend in Kauf. Jüngstes Beispiel für diese Entwicklung ist die Serie von äußerst brutalen Übergriffen in Sachsen und Thüringen auf einschlägig bekannte Rechtsextremisten, weswegen die Leipzigerin Lina E. und drei weitere Personen zurzeit in Dresden vor Gericht stehen.16


Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung könnten verschiedene auslösende Momente zu einer weiteren Radikalisierung im Linksextremismus und dadurch zu einer zunehmenden Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene führen. Eine reale oder auch nur empfundene Zuspitzung der politischen, sozialen und ökonomischen Widersprüche in den demokratischen Rechtsstaaten wäre eine solche Möglichkeit. Sollte beispielsweise die Kluft zwischen Arm und Reich vor allem im Zuge der Coronapandemie weiter zunehmen, so könnte das extremistische Einstellungen bis hin zur Gewalt befeuern und zu einer weiteren Radikalisierung beitragen. Szenerelevante Großereignisse, sofern sie im Sinne des linksextremistischen Spektrums verlaufen wie z.B. der G20-Gipfel von Hamburg, könnten eine euphorisierende Wirkung auf die linksextremistische Szene ausüben. Ein stark ausgeprägtes avantgardistisches Denken in Teilen der linksextremistischen Szene könnte wiederum die Annahme verstärken, man sei im Besitz der Wahrheit und dürfe daraus das Recht ableiten, zu entscheiden, wer oder was gut oder böse ist und mit welchen Mitteln es bekämpft werden darf.


Besondere Gefahr mit Blick auf eine weitere Radikalisierung im Linksextremismus könnte von einer tödlich verlaufenden Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder der Polizei ausgehen, wodurch der sog. Märtyrereffekt zum Tragen käme. Ähnlich wie es nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten und Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit Karl-Heinz Kurras nach dem 2. Juni 1967 der Fall war, könnte ein solches Ereignis auch heute mobilisierend und radikalisierend auf die linksextremistische Szene wirken. Umgekehrt bestünde die Gefahr, dass der Tod eines Rechtsextremisten, hervorgerufen durch linksextremistische Gewalt, die rechtsextremistische Szene weiter radikalisieren könnte. Die Überfälle von Lina E. und ihrer Gruppe auf Rechtsextremisten haben gegenwärtig das Potenzial, einer entsprechenden Entwicklung den Weg zu bereiten. Verleihen ihre Taten doch den betroffenen Rechtsextremisten einen Opferstatus, mit dem diese zu modernen Märtyrern der rechtsextremistischen Szene werden. Dadurch hervorgerufene Gegenaktionen von Rechtsextremisten könnten wiederum eine Spirale der Vergeltung mit unabsehbaren Folgen der Radikalisierung in der Gewalt in Gang setzen. Die im „Spiegel“ zitierte Äußerung eines Rechtsextremisten, „Wenn der Erste von uns tot auf der Straße liegen bleibt … dann Gnade euch Gott“, lässt Schlimmes in dieser Hinsicht befürchten.17 Zugleich hat Lina E. spätestens seit ihrer Festnahme im November 2020 aufgrund ihrer Taten bereits einen Märtyrerstatus erlangt, der eine weitere Radikalisierung der linksextremistischen Szene forcieren könnte.


Die Beispiele zeigen auf, dass die Radikalisierung zumeist ein schleichender Prozess ist. Aufgrund eines auslösenden Moments kann sie plötzlich und unmittelbar an Dynamik gewinnen und in exzessive Gewalt münden. Radikalisierung und Gewalt verhalten sich dabei wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig bedingen.


Um einer weiteren Radikalisierung vorzubeugen, bedarf es konzeptioneller Überlegungen für eine effiziente Deradikalisierung. An dieser Stelle ist die Präventionsarbeit gefordert. Sie muss auch für den Linksextremismus nach Wegen suchen, um die Spirale der Radikalisierung vor allem in die und in der Gewalt möglichst frühzeitig Einhalt zu gebieten. Mit Konzepten beispielsweise zur Demokratieförderung und gewaltfreien Konfliktlösung kann sie zur Identifizierung mit der Demokratie und zur gewaltfreien Konfliktlösung beitragen und so die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Radikalisierung in alle Formen der Gewalt aufgehalten und – möglicherwiese – in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Vor allem manchem jungen Menschen könnte so der Weg in die Gewaltspirale mit unabsehbaren Folgen für seine weitere Entwicklung erspart bleiben.


Obwohl auch der Linksextremismus durch eine zunehmende Radikalisierung seiner Akteure, die oftmals in exzessiver Gewalt ihren Ausdruck findet, auf sich aufmerksam macht, sind empirische Forschungsarbeiten zum Thema immer noch weitgehend Mangelware.18 Im Gegensatz beispielsweise zum bereits gut erforschten Rechtsextremismus, fehlen zum Linksextremismus vertiefte wissenschaftliche Studien. Aus diesem Grunde sind die Sicherheitsbehörden und die Präventionsarbeit bei diesem Phänomenbereich weitgehend auf ihr Erfahrungswissen angewiesen. Sozialwissenschaftliche Fragen wie z.B. nach der Sozialstruktur von Linksextremisten und ihrem Umfeld, den Motiven für ihr politisches Engagement und den Ursachen für ihre Radikalisierung in die bzw. in der Gewalt bleiben somit weitgehend unbeantwortet. Möglicherweise könnte das beim Bundesamt für Verfassungsschutz im Aufbau befindliche Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF) langfristig dazu beitragen, an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen. Schließlich soll es zu seinen Aufgaben gehören, gemeinsam mit Universitäten und anderen (außeruniversitären) Forschungseinrichtungen die „Analysekompetenzen des Verfassungsschutzes zu stärken.“19 Generell gilt es, den Status quo auf diesem Gebiet zu verändern und Gelder und Personal auch für die wissenschaftliche Erforschung des Linksextremismus zur Verfügung zu stellen. Nur so lässt sich die Radikalisierung im Linksextremismus frühzeitig erkennen, richtig einordnen und präventiv ebenso wie repressiv auf sie reagieren. Nur so haben die Sicherheitsbehörden und die Präventionsarbeit künftig eine Chance, gemeinsam einer möglichen Eskalationsspirale rechtzeitig Einhalt zu gebieten.


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Anmerkungen

 

  1. Dr. Udo Baron ist seit 2008 als Referent für den Bereich Linksextremismus und seit 2021 auch für den Bereich Extremismus mit Auslandsbezug im Niedersächsischen Verfassungsschutz zuständig.
  2. Vgl. Udo Baron, Autonome Militanz und G20-Gipfel, in: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2018/2019, hrsg. v. Martin H. W. Möllers, Robert Chr. van Ooyen, Baden-Baden 2019, S. 149–158, hier: S. 155.
  3. Vgl. Frank Pergande, Die bittere Erfahrung des Schanzenviertels, in: Frankfurter Allgemeine Zei-tung vom 21.7.2017, S. 3.
  4. O.V., „Legal, Illegal, Scheißegal!!! Aber lieber wie ein Fisch im Wasser als einsam und vertrocknet am Flußrand“, in: Interim vom August 1995, S. 12 (Hervorhebung im Original).
  5. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin/Hamburg/Göttingen 3. Auflage 2003, S. 148.
  6. Interventionistische Linke(IL), IL im Aufbruch-ein Zwischenstandspapier, www.interventionistische-linke.org/positionen/il-im-aufbruch-ein-zwischenstandspapier, Stand: 6.8.2020.
  7. Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1982.
  8. Vgl. Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966, S.127.
  9. Vgl. Frank Bachner, Die Toten von der Startbahn West (2. November 2017), in: www.tagesspiegel.de/gesellschaft/protest-in-frankfurt-vor-30-jahren-die-toten-von-der-startbahn-west/20514626.html (Stand: 9.9.2021).
  10. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx), Radikalisierung und Deradikalisierung, in: www.bag-relex.de/wissen/radikalisierung-deradikalisierung/ (Stand: 30.8.2021).
  11. Bundeskriminalamt, Radikalisierung, in: www.bka.de/DE/IhreSicherheit/RichtigesVerhalten/Radikalisierung/radikalisierung.html (gelesen am 28.12.2020.
  12. Zivile Helden für mehr Zivilcourage, Was versteht man unter Radikalisierung?, in: www.zivile-helden.de/radikalisierung/zivilcourage-gegen-radikalisierung/ (Stand: 30.8.2021).
  13. Stefan Goertz/Martina Goertz-Neumann, Politisch motivierte Kriminalität. Radikalisierung und Extremismus, 2. Auflage Heidelberg 2021, S. 179.
  14. Vgl. Katja Iken, Eine Kaiserin wird ermordet und läuft einfach weiter (10. September 2018), in: www.spiegel.de/geschichte/mord-an-kaiserin-sisi-1898-luigi-lucheni-stach-mit-der-feile-zu-a-1226403.html (Stand: 7.9.2021).
  15. Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/Bundeskriminalamt, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2020. Bundesweite Fallzahlen (4.5.2020), in: www.bmi.bund.de (Stand: 2.9.2021).
  16. Vgl. Roland Wittek, Gewalttätige Rächer, in: Der Spiegel Nr. 36 v. 4. September 2021, S. 62-63. Die Gruppe um Lina E. soll zwischen 2018 und 2020 in Thüringen und Sachsen mehrere Rechtsextremisten ausgespäht und ihnen dann massive Verletzungen zugefügt haben.
  17. Vgl. Roland Wittek, Gewalttätige Rächer, in: Der Spiegel Nr. 36 v. 4. September 2021, S. 62-63.
  18. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Studie von Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie. Frankfurt am Main 2015. Allerdings ist der empirische Abschnitt ihrer Arbeit sehr überschaubar und bietet einer Vertiefung der Materie kaum Raum.
  19. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF), in: www.verfassungsschutz.de/DE/verfassungsschutz/auftrag/zusammenarbeit-im-in-und-ausland/zentrum-fuer-analyse-und-forschung-zaf/zentrum-fuer-analyse-und-forschung-zaf_node.html (Stand: 8.9.2021).