Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

I Materielles Strafrecht

 

§ 223 StGB – Körperverletzung; hier: Schütteln eines Säuglings. Im Anschluss an eine Impfung war ein Säugling zuerst ruhig und schläfrig, begann aber später zu weinen und zu quengeln. Schließlich wurde der A hektisch. In Unkenntnis der möglichen Folgen packte er den Säugling im Bereich des Beckens und riss ihn nach oben, um ihn an seine Schulter zu drücken. Dadurch fiel dessen Kopf zuerst nach hinten und dann nach vorn gegen die Schulter des A. Dies verursachte ein „Schütteltrauma“. Das Schreien des Säuglings verstummte zunächst nicht; kurze Zeit später erschlaffte sein Körper. Er reagierte dann nur noch auf mechanische Reize mit schrillem Schreien und es stellten sich Krämpfe ein. Es wurden umfangreiche Verletzungen diagnostiziert.

Die Tatsache, dass ruckartige Bewegungen eines Säuglings ohne Abstützen des Kopfes zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung führen können, ist allgemein bekannt. Auch der für Fälle der Verursachung eines Schütteltraumas bei Säuglingen oder Kleinkindern typische affektive Erregungszustand führt im Allgemeinen nicht dazu, dass die Gefährlichkeit der Handlung nicht ins Bewusstsein des Täters dringt. Ob der A, wie festgestellt, nur einmal (durch Hochreißen), oder aber, wie angeklagt, mehrfach (im Sinne eines Schüttelns) gewaltsam auf den Säugling eingewirkt hat, rechtfertigt vor allem die Abgrenzung zwischen direktem und bedingtem Verletzungsvorsatz, aber nicht die generelle Verneinung eines für das Grunddelikt maßgeblichen Körperverletzungsvorsatzes. (BGH, Urt. v. 16.12.2020 − 2 StR 209/20)


§§ 240, 22, 23 StGB – Versuchte Nötigung; hier gegenüber einem Polizeibeamten. Der A parkte verkehrsordnungswidrig und entgegnete dem aufnehmenden Zeugen POK: „Sie sind ja ein ganz schlauer Oberkommissar“. Zudem äußerte er wahrheitswidrig den Leiter des zuständigen Abschnittes zu kennen und dass er „von diesem hören werde“. Er wollte damit den Zeugen einschüchtern und erreichen, dass dieser die Anzeige gegen ihn unterließ. Sein Ziel weiterverfolgend rief A auf der Wache des Abschnitts an und äußerte gegenüber dem Wachhabender, er solle auf seinen Kollegen einwirken. Schließlich schickte A dem POK eine SMS auf das Diensthandy sinngemäß mit folgendem Inhalt: Lieber POK, es wäre sehr freundlich, wenn Sie der Verhältnismäßigkeit bei der Aufnahme von VK-Owis an Radwegen eine Chance geben würden! Hierbei benutzte A bewusst die persönliche Anrede und die Telefonnummer des Diensthandys, mithin Interna, um den Anschein zu verstärken, dass er tatsächlich den Dienststellenleiter kannte. Dies gelang ihm auch, wobei letztlich nicht geklärt werden konnte, wie A an die dienstliche Telefonnummer des POK gelangen konnte. Da der POK sein berufliches Fortkommen trotz der behaupteten Bekanntschaft des A mit dem Dienststellenleiter nicht gefährdet sah, erstattete er die Anzeige.

Die Drohung mit einer „gewöhnlichen“ Dienstaufsichtsbeschwerde ist kein empfindliches Übel im Sinne des § 240 StGB. Die zuvor beschriebenen, mithin erforderlichen Feststellungen sind für eine Verurteilung wegen versuchter Nötigung bei Drohung mit „Konsequenzen von höherer Stelle“ gegenüber einem Polizeibeamten als zumindest notwendig zu erachten. (KG Berlin, Urt. v. 18.3.2021 – (3) 121 Ss 14/21 (10/21))


§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Wohnungseinbruchdiebstahl; hier: Gemischt genutztes Anwesen. Der Begriff der Wohnung umfasst auch typischerweise dem Wohnen zuzuordnende Räume, wenn sie mit dem Wohnbereich unmittelbar verbunden sind, wie etwa Kellerräume eines Einfamilienhauses, nicht dagegen Geschäfts- oder Ladenlokale. Bricht der Täter bei einem gemischt genutzten Anwesen in einen ausschließlich zu betrieblichen Zwecken genutzten Raum ein und gelangt von dort ungehindert in den Wohnbereich des Tatopfers, um auch dort zu stehlen, kann darin nur dann ein Wohnungseinbruch gesehen werden, wenn der Geschäftsraum so in den Wohnbereich integriert ist, dass beide eine in sich geschlossene Einheit bilden.

Der Wortlaut des § 244 Abs.1 Nr. 3, Abs. 4 StGB verbietet nämlich eine Bestrafung wegen (Privat-)Wohnungseinbruchsdiebstahls, wenn der Täter bei gemischt genutzten Gebäuden zunächst in die Betriebsräumlichkeiten einbricht und von dort ungehindert in den Wohnbereich gelangt, um (auch) dort zu stehlen. (BGH, Beschl. v. 24.3.2021 – 6 StR 46/21)


§§ 281 Abs. 1 S. 1, 269 Abs. 1 StGB – Missbrauch von Ausweispapieren, Fälschung beweiserheblicher Daten. Der Begriff des Gebrauchens ist nach Auffassung des BGH in § 281 Abs. 1 S. 1 StGB wie in § 267 Abs. 1 StGB auszulegen. Auch durch Vorlage der Kopie oder durch elektronische Übersendung des Bildes eines echten Ausweises zur Identitätstäuschung kann ein Ausweispapier im Sinne von § 281 Abs. 1 S. 1 StGB zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht werden. § 269 Abs. 1 StGB unterfallen nicht nur Veränderungen an einem bestehenden eBay-Konto, sondern auch die Einrichtung eines eBay-Kontos unter falschen Personalien. (BGH, Beschl. v. Beschl. v. 21.7.2020 − 5 StR 146/19)

 

 

II Prozessuales Strafrecht

 

§ 94 StPO – Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen zu Beweiszwecken; hier: Potenzielle Beweisbedeutung. Ein Gegenstand hat potenzielle Beweisbedeutung, wenn in einer ex-ante-Sicht die nicht fernliegende Möglichkeit besteht, ihn im Verfahren zu Untersuchungszwecken in irgendeiner Weise zu verwenden. In welcher Weise der Gegenstand Beweisbedeutung haben kann, braucht zum Zeitpunkt der Sicherstellung noch nicht festzustehen.

Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte kann es ausreichend sein, von den sichergestellten Gegenständen Lichtbilder zu verwenden, soweit eine kriminaltechnische Untersuchung der Gegenstände nicht erforderlich erscheint. (BGH, Beschl. v. 14.6.2018 - StB 13/18)


§ 110 Abs. 3 StPO – Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien; hier: Zugriff auf Internetseiten des Beschuldigten im Internet. Beim Beschuldigten (B) durchsuchte die Polizei wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung. Das Handy des B wurde am Durchsuchungstag vor Ort mit dem UFED Physical Analyzer gesichert. Dabei werden unter anderem auch die auf dem Gerät gespeicherten Zugangsdaten zu Online- und Clouddiensten ausgelesen und in einem sogenannten Account-Package dem IT-Prüfer zur Verfügung gestellt. Dieses Package kann sodann mit einem anderen Tool, dem UFED Cloud Analyzer, eingelesen werden. In den nächsten Tagen bemerkte B, dass von einer fremden IP-Adresse auf seine Konten bei Facebook, Google und LinkedIn zugegriffen wurde. Wie sich herausstellte, versuchte der Cloud Analyzer, sich mit dem Internet zu verbinden und online mithilfe der Zugangsdaten weitere, online gespeicherte Daten abzurufen.

Das LG Koblenz sieht hierin eine zulässige Maßnahme in Form einer Online-Sichtung gem. § 110 Abs. 3 StPO und hält für den Zugriff auf die (wohl) im Ausland gespeicherten Daten kein Rechtshilfeersuchen für notwendig. (LG Koblenz, Beschl. v. 24.8.2021 – 4 Qs 59/21)


§ 119 StPO – Haftgrundbezogene Beschränkungen während der Untersuchungshaft; hier: Durchsuchung, Fesselung, Spuckschutz und Vermummung. Der vollziehbar ausreisepflichtig türkische Staatsangehörige (K) wurde aus der Untersuchungshaft heraus durch das SEK zur Gerichtsverhandlung (Verdacht des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in elf Fällen in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen) verbracht. Nach dem Ende der Verhandlung betraten zwei Beamte des SEK die Zelle des K, um den Rücktransport in die JVA vorzubereiten. Die Beamten trugen hierbei Sturmhauben. Die persönlichen Sachen K´s wurden untersucht und – in unbekleidetem Zustand – seine natürlichen Körperöffnungen, Achselhöhlen und Kniekehlen in Augenschein genommen. Ein Arzt war nicht anwesend. Dem K wurden Hand- und Fußfesseln angelegt, die mittels Feuerwehrgurt am Körper fixiert wurden. Die Beamten setzten ihm eine Spuckhaube und eine Schlafbrille auf. Zusätzlich wurde ihm ein Gehörschutz angelegt. Der K verhielt sich während dieser Maßnahme kooperativ.

Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen sich als schwerwiegender Eingriff in die Intimsphäre und damit in das durch Art. 2 Abs.1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht dar und berühren zudem die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Das gilt in besonderem Maße, wenn sie mit der Nachschau im Bereich von normalerweise bedeckten Körperöffnungen verbunden sind. Derartige körperliche Durchsuchungen können durch die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt sein, sie dürfen aber nur in schonender Weise und nicht routinemäßig, unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles, durchgeführt werden. Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalles abzuwägen. (VG Braunschweig, Urt. v. 2.12.2020 – 5 A 65/20)


§ 158 StGB – Strafanzeige, Strafantrag; hier: Strafantrag bei einer „Internet-Wache“ der Polizei. Ein über eine sog. Online-Wache gestellter Antrag erfüllt nicht das Schriftformerfordernis und ist unwirksam. Denn es würde die Schutzfunktion des Schriftformerfordernisses in § 158 Abs. 2 StPO aufgegeben, wenn ein „nur online“ gestellten Strafantrag bei einer „Internet-Wache“ der Polizei genügen würde. (AG Auerbach, Beschl. v. 26.1.2021 – 3 Cs 500 Js 24368/20)


§§ 163b Abs. 1, 163c StPO – Maßnahmen/Freiheitsentziehung zur Identitätsfeststellung; hier: Zuerst strafprozessuale und danach präventive Ausrichtung der Maßnahme. Am 9.2.2019 gegen 7:26 Uhr versuchte der B, gemeinsam mit weiteren Personen auf dem Gelände des Tagebaus G. einen Braunkohlebagger zu besetzen. Gegen 9:07 Uhr wurde die Gruppe zur Identitätsfeststellung nach §§ 163b Abs. 1, 163c StPO in Gewahrsam genommen. Eine Identifizierung des B war (zunächst) nicht möglich, da er sich weigerte, Angaben zu seiner Person zu machen, er keine Ausweispapiere bei sich führte und seine Fingerkuppen verklebt waren. Er lehnte es ab, die Fingerkuppen zur Abnahme von Fingerabdrücken mit dem Lösungsmittel Aceton reinigen zu lassen. Gegen 18:45 Uhr erfolgte am selben Tag die richterliche Anhörung. Sodann wurde eine Freiheitsentziehung des namentlich noch nicht bekannten B auf Grund des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) zum Zweck der Feststellung seiner Identität für zulässig erklärt und die Fortdauer des Gewahrsams bis längstens 14.2.2019 12:00 Uhr angeordnet. Die Ingewahrsamnahme wurde damit begründet, dass es der Polizei ohne Feststellung der Identität des B nicht möglich wäre, ein Aufenthaltsverbot nach § 34 Abs. 2 PolG NRW auszusprechen. Bei unterlassener Identifizierung sei ein erneutes Eindringen in das Tagebaugebiet zu erwarten, was durch die Erteilung eines polizeilichen Aufenthaltsverbotes im Rahmen der Gefahrenabwehr verhindert werden solle. Nach Vorlage des Führerscheins durch dritte Personen konnte die Identität des B ermittelt werden und er wurde am 11.2.2019 um 12:45 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen.

Zwar regeln §§ 163b und 163c StPO die Befugnis zur Identitätsfeststellung zum Zwecke der Strafverfolgung einschließlich damit verbundener Freiheitsentziehung abschließend, sodass insofern ein Rückgriff auf weiterreichende polizeiliche Ermächtigungen nicht möglich ist. Die polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen bleiben dagegen aber anwendbar, soweit präventive Zwecke außerhalb des Strafverfahrens verfolgt werden. So, dass eine zunächst nach StPO angeordnete Gewahrsamnahme anschließen auch auf gefahrenabwehrrechtliche Grundlagen gestützt werden kann, wenn dies eben solchen Zwecken dient. (BGH, Beschl. v. 17.12.2020 – 3 ZB 8/19)

 

 

III Sonstiges


Ein betrunkener Kraftfahrer wurde im Auto sitzend von der Polizei angetroffen und griff noch vor Ort im Zuge von Maßnahmen zur Feststellung der Alkoholkonzentration alsbald die Polizei tätlich an. Ein Strafbefehl wegen Wiederstandes wurde am 7.7.2020 rechtskräftig, ein Urteil wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr erging am 23.7.2020.

Mit Beschluss vom 1.7.2021 (1 Rv 13 Ss 421/21) stellte das OLG Stuttgart per Beschluss fest, dass die Sanktionierung einer Trunkenheitsfahrt wegen des Doppelverfolgungsverbotes dann nicht möglich ist, wenn der tätliche Angriff auf Polizeibeamte bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.