Polizeien und Kinderschutz

Herausforderungen bei der Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren


Von Josefine Barbaric, Salach1

 

1 Einleitung

 

Kinderschutz ist im besten Fall ein Standard und nicht nur ein Ziel. Tatsächlich ist mir dieser Satz mal in einer Fortbildungsveranstaltung für Mitarbeitende des institutionellen Hilfesystems in Mecklenburg-Vorpommern in den Sinn gekommen. Erst Tage später begriff ich, wie weitreichend seine Bedeutung dem Grunde nach ist. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt ist in Deutschland bei Weitem kein Standard – nicht mal ein flächendeckendes Ziel. Obwohl gerade Kinder eine besonders vulnerable Personengruppe in unserer Gesellschaft darstellen und sie dadurch besonders schutzbedürftig sind. Doch die jährliche Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt deutlich, dass gerade Kinder häufig Opfer von Gewalt, insbesondere von sexuell motivierten Gewalttaten werden.2 Dies wiederum zeigt deutlich, dass wirksame und nachhaltige Präventionsmaßnahmen zur Aufklärung und zum Schutz für Kinder vor Gewalt, insbesondere vor sexualisierter Gewalt flächendeckend fehlen. Genau hier versagt der Kinderschutz bereits seit vielen Jahren. Und seit vielen Jahren appelliere ich genau deshalb an Politik und Gesellschaft diesen Missstand zu korrigieren. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt wird im besten Fall getragen von einer angemessenen moralischen Haltung, auch bei den Polizeien.

Und wenn die Gesellschaft das Kind nicht vor dieser perfiden und in allen Maßen destruktiven Gewalt hat schützen können, dann ist es ihre Verantwortung, alles dafür zu tun, dass das Verbrechen an dem Kind sichtbar gemacht wird, und die Täterperson die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommt. Selbstverständlich müssen alle Ressourcen und Kapazitäten für ein kindgerechtes Ermittlungs- und Strafverfahren zur Verfügung gestellt werden. Alles andere ist beschämend.

Und die bundesweite Lage ist beschämend. Und falls Sie sich nun genau an dieser Stelle fragen sollten, wer die Verfasserin überhaupt ist, dass sie sich eine solch kritische Meinung anmaßt, so sollten Sie wissen, dass ich Gewalt, insbesondere sexualisierter Gewalt selbst in meiner Kindheit und Jugendzeit erlebt habe. Das liegt nunmehr 34 Jahre zurück und ich schaue in die Gegenwart und frage mich, was nun hat sich seither für den Schutz für Kinder vor Gewalt, insbesondere vor sexualisierter Gewalt tatsächlich zum Guten verändert? Die Antwort ist bedauerlicherweise so überschaubar, wie die Maßnahmen selbst: nichts! Seien Sie also versichert: ich weiß, worüber ich schreibe.

 

2 Chefsache, auch an der Basis?


Der sexuelle Kindesmissbrauch wurde 2019 vom nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul (CDU) zur Chefsache erklärt.3 Eine vorbildliche und zugleich stringente Haltung, die man im politischen Raum ja sonst eher vermisst. Doch was bringt es, wenn diese notwendige moralische Einstellung nicht etwa an der Basis ankommt, bspw. bei den Mitarbeitenden der Strafverfolgungsbehörden, wozu ich die Polizeien und Staatsanwaltschaften zähle. Ich möchte hierzu gerne ein Beispiel aus NRW anführen. Ganz regelmäßig reichen wir über unseren Verein Beschwerde für hilfesuchende Eltern und ihre von sexuellem Missbrauch betroffenen Kinder bei den zuständigen Staatsanwaltschaften ein, da zu beobachten ist, dass Verfahren in den Deliktbereichen § 176 bis § 184 StGB regelmäßig durch Staatsanwaltschaften nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.

 

3 Ein Beispiel aus NRW

 

Es handelt sich hierbei um Fälle aus dem gesamten Bundesgebiet, viele allerdings aus NRW. So habe ich in meiner Funktion als Vorständin von „Nein, lass das! e.V.“ in einem besonders absurden Fall Herrn Innenminister Reul (CDU) und Herrn Justizminister Biesenbach (CDU) über die Vorgehensweise der zuständigen Polizei und Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt. Begründeter Verdacht § 176a StGB eines 3-jährigen Jungen in einer Kindertageseinrichtung in NRW durch einen festangestellten Mitarbeiter. Das Ermittlungsverfahren wurde, wie oben beschrieben, von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt. Das Kind erzählte so gut es eben konnte seinen Eltern von den „Spielen“ des Logopäden. Die Eltern nahmen die Erzählungen ihres Kindes ernst und wandten sich an die Polizei. Eine Anzeige würde sich nicht lohnen, da es zu wenig Beweise gäbe, erklärte man den Eltern auf dem Polizeirevier. Die Eltern blieben jedoch hartnäckig und bestanden darauf, dass die Anzeige aufgenommen wird. Es wurde ihnen im weiteren Verlauf eine Kriminalbeamtin zugewiesen, die von beiden Elternteilen als wenig kooperativ, motiviert und zugewandt beschrieben wurde, weshalb die Eltern sich an den Vorgesetzten wandten. Auch in diesem Gespräch fühlten sich die Eltern mit ihrem Anliegen nicht angemessen ernst genommen. Die Mutter bspw. fragte auf mein Anraten hin, warum nicht noch andere Kinder aus dieser Gruppe befragt wurden, um abzuklären ob möglicherweise noch weitere Kinder betroffen sind. „Ob einen nicht vollwertigen Zeugen oder zehn, spielt am Ende auch keine Rolle.“ Daraufhin habe ich, auf Wunsch der Eltern, mit diesem LKA-Beamten telefoniert. Er bestätigte diese von ihm getätigte Aussage und es war ihm sichtlich unangenehm.

Erinnern Sie sich noch an den letzten Satz des ersten Abschnitts meiner Einleitung? An dieser Stelle möchte ich gerne an eine gemeinsame Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 mit Rainer Becker, Polizeidirektor a.D., und Dr. Verena Kolbe, Fachärztin für Rechtsmedizin, für die Gewerkschaft der Polizei (GdP) erinnern, die in Anlehnung an genau solche Rückmeldungen und Erfahrungen entstanden ist.

 

4 Diese Checkliste kann beim Helfen helfen

4.1 Machen

Eine sofortige „Sicherstellung“ des Tatortes sowie eine kriminaltechnische Untersuchung auf eventuelle Spuren. Informatorische Befragungen an den möglichen Tatorten durchführen, um sich einen allgemeinen Überblick über den möglichen Tathergang und die in Frage kommenden Täter machen zu können und um gegebenenfalls weitere betroffene Kinder identifizieren zu können. Auf Suggestivfragen verzichten. Die Gefahr der Manipulation sollte sowohl beim Kind als auch dem anzeigenden Erwachsenen ausgeschlossen sein. Der „Vorgang“ sollte stets ernst genommen werden. Unter Umständen ist der ermittelnde Beamte die einzige Instanz, die helfen kann. Kinder können den sexuellen Missbrauch nicht allein beenden. Sie sind auf die Hilfe von begleitenden erwachsenen Menschen und der Polizei angewiesen. Auch dem anzeigenden Erwachsenen fällt es häufig enorm schwer, sich zu entscheiden, die Polizei einzuschalten.

 


Kind nach Misshandlung.

 



Im Gespräch sollte keinesfalls ein Generalverdacht gegen den begleitenden Erwachsenen erhoben werden. Zum Beispiel wegen des Verdachts auf eine sogenannte Bindungsintoleranz. Das verunsichert nur unnötig. Bei dem Gefühl eigener Unsicherheit sollte eine Kollegin oder ein Kollege hinzugezogen werden. Auch eine Anfrage bei einer spezialisierten Beratungsstelle für Betroffene von sexueller Gewalt ist hilfreich. Zudem braucht es eine vertraute und warme Gesprächsatmosphäre für die Befragung des betroffenen Kindes und des anzeigenden Erwachsenen. Natürlich können auch anzeigende Erwachsene selbst verunsichert oder vielleicht traumatisiert sein.

Also: sensibel und ruhig vorgehen. Signale, dass man den Aussagen des Kindes sowie der Begleitperson Glauben schenkt, sollten zu jeder Zeit gesendet werden.4Unsere Beschwerde wurde an die zuständige Oberstaatsanwältin zur Prüfung weitergegeben. Mit einem abschließenden Schreiben an unseren Verein versuchte man nun, die Einstellung des Verfahrens zu begründen. Um den Unsinn zu verdeutlichen, erlaube ich mir, zwei Passagen aus diesem Schreiben zu zitieren:

„Das bloße Zeigen des Geschlechtsteils gegenüber einem Kind allein begründet einen hinreichenden Tatverdacht wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 des Strafgesetzbuches - StGB) nicht, da eine sexuelle Handlung im Sinne der Vorschrift nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen Bezug zu Sexualität aufweisen muss. Ist die Handlung als solche nicht offensichtlich sexuell, kommt es auf die objektiven Rahmenbedingungen aus der Sicht des Beobachters an, der alle Einzelheiten des Geschehens wahrnimmt (zu vgl. Homle in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2021, § 184h Rn. 3 m.w.N.). Handlungen, die äußerlich neutral sind und keinerlei Hinweis auf das Geschlechtliche enthalten, sind daher auch dann keine sexuelle Handlung, wenn sie einem sexuellen Motiv entspringen (zu vgl. Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 184h Rn. 6 m.w.N.). Können die äußeren Umstände einer mutmaßlichen Tatbegehung – wie hier – nicht näher eruiert werden, ist ein hinreichender Tatverdacht insoweit nicht zu begründen.“

 


Vernachlässigtes Kind.


Offen gesprochen, da hat wohl jemand nicht gut aufgepasst, denn sexueller Missbrauch beginnt häufig mit dem Zeigen der eigenen Genitalien durch die Täterpersonen (Exhibitionismus). Das Kind gab, seinen Eltern gegenüber, kindgerechte und gewichtige Anhaltspunkte. Doch das Kind wurde zu keiner Zeit, weder durch die zuständige Polizei noch durch die Staatsanwaltschaft (Ermittlungsrichter), angehört. Und das wurde wie folgt von der Oberstaatsanwaltschaft begründet:

„Von seltenen Ausnahmefallen abgesehen, dürften Kinder erst ab einem Alter von etwa vier Jahren überhaupt als Zeugen in Betracht kommen (zu vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. 2017 Rn. 1411 m.w.N.). Soweit schon Dreijährige zu Erlebnisberichten und zur Beantwortung altersgerechter Fragen in der Lage sein sollen (ebd.), muss jedenfalls eine Beeinflussung durch Dritte, die zur Verfälschung eigener Wahrnehmungen des Kindes und insoweit zur Beeinflussung seiner Aussage geeignet sind, ausgeschlossen bzw. jedenfalls nachvollzogen werden können. Dies ist hier nicht möglich.“

Ein Beispiel: Wenn ein 3-jähriges Kind regelmäßig den Penis des Vaters, Onkels, Opas, Ersatzvaters oder Bruders in den Mund nehmen muss, möglicherweise bis zur vollständigen Ejakulation der Täterperson, dann sind wir im Bereich des schweren sexuellen Missbrauchs an einem Kind (§ 176c StGB), was seit 1. Juli 2021 einen Verbrechenstatbestand darstellt. Doch wie kann dieses Verbrechen an dem Kind nun sichtbar gemacht und aufgeklärt werden?Sind äußere Verletzungsspuren zu erkennen? Die Antwort ist überschaubar: nein! Was bleibt, sind unter Umständen einzig und allein Hinweise durch Aussagen, die das Kind bestenfalls alters- und entwicklungsspezifisch geben kann. Doch im hier geschilderten Fall hat es weder die zuständige Polizei, sowie die Staatsanwaltschaft noch die überprüfende Oberstaatsanwaltschaft in NRW interessiert. Das ist auch kein tragischer Einzelfall, weshalb ich in diesem Beitrag auch auf eine weit verbreitete und grundsätzliche ignorante und misstrauische Haltung des Strafverfolgungssystems kindlichen betroffenen Zeugen gegenüber eingehen möchte.

4.2 Wie aussagetüchtig sind kindliche Zeugen?

Seit vielen Jahren eine zähe und kontroversgeführte Diskussion zwischen Ermittlungsbehörden, Juristen und Psychologen. Offen gesprochen, ich kann es nicht mehr hören. Man weiß heute: Je mehr sich ein Kind sprachlich ausdrücken kann, umso mehr ist es in der Lage, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, zu verallgemeinern und zu ordnen und zu erinnern. Kurzum: Es kommt auf die individuelle Entwicklungsreife eines Kindes an, wie gut es sich an Ereignisse erinnern und sie wiedergeben kann. Weshalb solche Pauschalisierungen nur wenig zur Aufdeckung solcher Verbrechen beitragen. Im Gegenteil! Es entsteht der Eindruck, man wolle sich nicht die Mühe machen.

4.3 Sexueller Kindesmissbrauch – Chefsache auch an der Basis?

Die Fachwelt ist sich einig, dass gerade im Deliktbereich des sog. sexuellen Kindesmissbrauchs ein enorm hohes Dunkelfeld existiert. Perfide Verbrechen, die im Verborgenen stattfinden, zwischen Täterperson und betroffenem Kind, ohne Publikum, ohne Zeugen. So wirkt es schon grotesk, dass Täterpersonen das Blaue vom Himmel lügen dürfen, nicht mal persönlich zum Vernehmungstermin erscheinen müssen, hingegen ein betroffenes und möglicherweise schwer traumatisiertes Kind den Ermittlungsbehörden und dem gesamten Rechtssystem beweisen muss, dass ein Mensch eine Täterperson ist. Sollte es nicht eher umgekehrt sein? Sollte es nicht im Interesse unserer Gesellschaft sein, sicherzustellen, dass von einem Menschen keine Gefahr für andere Menschen, vor allem für Kinder ausgeht?

Viele Hürden für ein betroffenes Kind, finden Sie nicht auch? Genau deshalb braucht es gut geschulte und sensible Ermittlungsbeamte/innen und ein gutes und verlässliches Zusammenspiel der Strafverfolgungsbehörden.

Nun sprechen Kinder nicht grundsätzlich über sexuelle Übergriffe/sexualisierte Gewalt. Es müssen günstige Rahmenbedingungen zusammenwirken, damit ein Kind sich offenbaren kann. Die Chancen hierfür sind gut, wenn die Täterperson nicht aus dem engsten familiären Umfeld kommt, und das Kind gut an seine Eltern gebunden ist und ihnen vertraut. Weitere wichtige Voraussetzungen hierfür sind zudem, dass die Eltern gut auf ihr Kind eingehen und es zum Sprechen aktivieren können. Es ist von elementarer Bedeutung, dass sich das betroffene Kind beschützt fühlt und sich drauf verlassen kann, ernst genommen zu werden. Widersinnig, dass oben genannten Eltern nicht selten unterstellt wird, sie hätten ihre Kinder durch eine mögliche Suggestiv-Befragung beeinflusst. Nicht selten jedoch werden betroffene Kinder in der Vernehmung durch Ermittlungsbeamte/innen selbst suggestiv beeinflusst: „Bist Du Dir sicher, dass Du Dir das nicht nur einbildest?“ „Das hat der XY bestimmt nicht mit Absicht gemacht.“ „Meinst Du nicht auch, dass war ein Versehen?“

Tadelnswerte Unwissenheit, Kenntnislosigkeit oder einfach nur Gedankenlosigkeit – es ist in hohem Maße abträglich, denn solch eine unprofessionelle Herangehensweise wird immer zur zusätzlichen Belastung für die ohnehin schon belasteten und betroffenen Kinder und ihre schützenden Eltern/Bezugspersonen.

Was bringt es demnach, wenn denjenigen, die maßgeblich dazu beitragen können, einem betroffenen Kind und seinen schützenden Bezugspersonen ein Gefühl von ehrlicher Bereitschaft zu vermitteln, ganz regelmäßig genau das Gegenteil davon tun. Wie kann das sein? Möglicherweise aus einem Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit heraus, weil die notwendigen Qualifikationen und die damit einhergehenden Handlungssicherheiten fehlen. Hinzu kommt ein bedrückender Personalnotstand, auch bei den Polizeien bundesweit und flächendeckend, der zu Überlastung einzelner Beamten/Beamtinnen führt.

Das aber darf nicht zum Problem für von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern werden. Dem Grunde nach sollte man niemanden mehr daran erinnern müssen, welchen Stellenwert der sog. sexuelle Kindesmissbrauch mittlerweile in unserer Gesellschaft erlangt hat. Ein Verbrechensbereich, der seit vielen Jahren massiv ansteigt und sich zudem durch ein enorm hohes Dunkelfeld auszeichnet. Der nordrheinwestfälische Innenminister Herbert Reul trat bereits im Februar dieses Jahres mit der Veröffentlichung der Fallzahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für Nordrhein-Westfalen an die Öffentlichkeit. Ein Großteil der Straftaten seien enorm zurückgegangen und auf einem so niedrigen Niveau wie zuletzt in den 1980er Jahren. Doch der sog. sexuelle Kindesmissbrauch und der Deliktbereich der sog. Kinderpornografie seien so hoch wie noch nie.

Wenn Sie mich fragen, dann lässt das tief blicken und der Umstand, dass die Zahlen von Jahr zu Jahr, bundesweit ansteigen, ist nicht einzig und allein darauf zurückzuführen, dass der Ermittlungsdruck erhöht werden konnte und damit mehr Fälle aus dem Dunkelfeld aufgedeckt werden konnten. Laut Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), kann seit Jahren nur etwa jeder zehnte Hinweis ausländischer Provider überhaupt ausermittelt werden. Die Causa „Verkehrsdatenspeicherung“, die lange ausgesessen wurde und nun unsinnigerweise durch „Quick-Freeze“ ersetzt werden soll. Ich fasse an dieser Stelle zusammen: Hohes Dunkelfeld, schlechte personelle Ausstattungen der Polizeien und Staatsanwaltschaften bundesweit, insbesondere der Polizeien in Baden-Württemberg, die auf Bundesebene das traurige Schlusslicht abbilden.

 

5 Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren


Der Nationale Rat, der sich aus unterschiedlichen Vertreterinnen/Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft, Fachpraxis sowie aus Mitgliedern des Betroffenenrates der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zusammensetzt, hat sich im Dezember 2019 konstituiert, mit dem Ziel, den Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu stärken. Im Juli 2021 wurde hierzu ein Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren herausgegeben.5 Da heißt es zu kindgerechten Kriterien für die Polizei wie folgt:

  • Besondere Schutzbedürftigkeit beachten: Ist die Zeugin oder der Zeuge zugleich die oder der Verletzte, so führe ich die sie oder ihn betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen stets unter Berücksichtigung ihrer oder seiner besonderen Schutzbedürftigkeit durch, § 48a Abs. 1 StPO.
  • Beschleunigungsgebot: Während des gesamten Verfahrens achte ich auf das Beschleunigungsgebot: Bei Taten zum Nachteil einer oder eines minderjährigen Verletzten führe ich die sie oder ihn betreffenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen besonders beschleunigt durch, soweit dies unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der oder des Zeugen sowie der Art und Umstände der Straftat zu ihrem oder seinem Schutz oder zur Vermeidung von Beweisverlusten geboten ist, § 48a Abs. 2 StPO.
  • Kindgerechte Information und psychosoziale und rechtliche Begleitung des Kindes im Verfahren: Im Rahmen der Vernehmung/Anhörung von Kindern belehre ich die Betroffenen in angemessener, kindgerechter Form. Ich kenne die rechtlichen und sozialpädagogischen Unterstützungsmöglichkeiten für Minderjährige und kann sie den Sorgeberechtigten und den Minderjährigen gut und in einfacher Sprache vermitteln; insbesondere ist mir bekannt, wie die psychosoziale Prozessbegleitung arbeitet und in welchen Fällen sie obligatorisch oder fakultativ den verletzten Minderjährigen beigeordnet werden kann. Ich kenne die länderspezifischen Besonderheiten. In geeigneten Fällen gebe ich den Betroffenen z. B. die Broschüre „Ich habe Rechte“ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz mit.
  • Im Weiteren werden folgende kindgerechte Kriterien für die Staatsanwaltschaften vorgestellt:
  • Polizeien und Kinderschutz: Die Polizei jedenfalls ist die erste Instanz der Strafverfolgungsbehörde die mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern und ihren Elternteilen/Bezugspersonen in Kontakt kommt. Weshalb ihr eine herausragend große Bedeutung und Verantwortung zufällt. Es braucht dringend angemessene Studieninhalte für Polizeianwärterinnen/Anwärter und verpflichtende Fortbildungen fertiger Polizeibeamtinnen/Beamte.

 

6 Zum Abschluss


Zudem spreche ich mich seit vielen Jahren für Kinderschutzbeauftragte in jeder größeren Polizeiwache in Deutschland aus. Polizeibeamtinnen/Beamte, die eine angemessene Zusatzqualifikation absolviert haben und die wissen, warum der oben vorgestellte Praxisleitfaden unbedingt verbindlich angewendet werden muss. Für mich zeigt sich regelmäßig, dass gerade bei den Polizeien und Staatsanwaltschaften eklatante und schwerwiegende Fehler gemacht werden, die sich im weiteren Verlauf enorm belastend auf die betroffenen kindlichen Zeugen und ihre schützenden und begleitenden Elternteile/Bezugspersonen auswirken und die am Ende möglicherweise dazu führen können, dass Verfahren eingestellt werden. Sie geben mir sicher Recht, wenn ich schreibe, dass hierdurch niemanden geholfen wird. Noch schlimmer: Täterpersonen können unbemerkt weitere Verbrechen an weiteren Kindern begehen. Je jünger die Kinder, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften eingestellt werden, kleine Kinder, denen die Aussagetüchtigkeit ja ohnehin vollständig abgesprochen wird.

Ich komme nun zum Schluss und möchte trotz aller Verbitterung zuversichtlich nach vorne schauen und drauf hoffen, dass mein Beitrag von Ihnen, den Leser/innen dieser Zeitschrift nicht als stumpfsinniges Fingerpointing abgetan wird, sondern vielmehr als Ansporn und Motivation die eigene moralische Haltung und Arbeitsweise zu hinterfragen und möglicherweise zu korrigieren, um damit einen wichtigen Beitrag für eine flächendeckende Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren zu gewährleisten. Der Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, doch die Polizeien in Deutschland können viel dazu beitragen, dass Kinderschutz im Ermittlungsverfahren ein Standard wird und nicht nur ein Ziel bleibt. Vielen Dank!


Bildrechte: ProPK.

 

Anmerkungen

 

  1. Josefine Barbaric ist Referentin „Sexueller Missbrauch an Kindern“, Trainerin für Gewaltprävention, Buchautorin und Vorstand „Nein, lass das! e.V.“
  2. Polizeiliche Kriminalstatistik „Kindliche Gewaltopfer in Deutschland“, 2021.
  3. www.im.nrw/kampf-gegen-kindesmissbrauch-300-euro-erschwerniszulage-0.
  4. Gewerkschaft der Polizei, Bundesvorstand, www.gdp.de, 31. März 2020.
  5. Praxisleitfaden Nationaler Rat.