Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden


 

I Materielles Strafrecht

 

§§ 113, 114, 223 Abs. 2, 22, 23 StGB – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte Körperverletzung; hier: Tateinheit, keine Gesetzeskonkurrenz. Ein Streifenteam (B und C) war zur Schlichtung eines Streits zwischen zwölf Bewohnern eines Flüchtlingswohnheims gerufen worden. Einer der daran Beteiligten war der Angeklagte (A). Als dieser in Anwesenheit der Polizisten mit seinem beschuhten Fuß in Verletzungsabsicht nach einem vermeintlichen Kontrahenten (R) trat, zog ihn der B nach hinten, um weitere Übergriffe zu verhindern. Sofort beschimpfte der A ihn und trat mehrfach mit bedingtem Körperverletzungsvorsatz in Richtung seiner Beine, um sich zu befreien und weiter auf den R einwirken zu können. Als ihm kein Treffer gelang, weil B ausgewichen war, trat er wütend ziel- und wahllos um sich, um die neben ihm stehenden Polizeibeamten zu verletzen. B versuchte zunächst vergeblich, den A nach unten zu drücken, was dieser mit seiner Gegenwehr verhinderte. Erst durch Hilfestellung des C gelang es, den A zu Boden zu bringen. Dort trat dieser mit Körperverletzungsvorsatz in Richtung beider Polizeibeamter. Sie fixierten ihn mithilfe eines weiteren Beamten schließlich am Boden, so dass er seine Gegenwehr einstellte. Verletzungen erlitten die Beamten nicht.

Der A wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen der Taten gegen B und C zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren verurteilt. §§ 113, 114 und 223 Abs. 2 StGB standen dabei in Tateinheit. Keines der Delikte trat zurück (wegen Spezialität, Subsidiarität oder Konsumtion), da jeder Straftatbestand eine andere Schutzrichtung habe. § 223 StGB schützt die körperliche Unversehrtheit einer Person. Dagegen dient § 113 StGB in erster Linie dem Schutz der Autorität staatlicher Vollstreckungsakte und damit dem Schutz des Gewaltmonopols des Staates; darüber hinaus schützt er auch die Personen, die zur Vollstreckung berufen sind. § 114 StGB dient dagegen vor allen Dingen dem individuellen Schutz von Vollstreckungsbeamten während ihres Dienstes und schützt damit nur mittelbar das überindividuelle Interesse an der Dienstausübung. Nach § 114 StGB ist ein Vollstreckungsbeamter nicht nur vor Angriffen gegen seine körperliche Unversehrtheit geschützt, sondern auch vor allen anderen mit feindseligem Willen unmittelbar auf seinen Körper zielenden Handlungen. Hinweis: Bringen Sie zwingend alle Paragraphen zur Anzeige! (BGH, Beschl. v. 11.6.2020 – 5 StR 157/20)


§§ 201, 205 StGB – Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes; hier: Vertraulichkeit einer Polizeikontrolle. Am Rande einer Demonstration ging die unbeteiligte Filmerin (A) her und filmte die verbale Auseinandersetzung zwischen einer Polizeibeamtin (P) und einer Demonstrationsteilnehmerin (D). Hierzu hielt A ihr Handy zunächst ca. 15 bis 20 cm vor das Gesicht der Polizeibeamten und zeichnete dies auf. Das gesamte von der A gefertigte Video hat eine Länge von 8 Minuten 46 Sekunden. Das maßgebliche Gespräch mit der D befindet sich im Abschnitt 5.14 Minuten bis 6.37 Minuten. Das Mobiltelefon der A samt SIM-Karte wurde anschließend sichergestellt bzw. beschlagnahmt.

Der Tatbestand des § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist erfüllt. Es handelt sich insbesondere bei den Worten der P und der D um ein nichtöffentlich gesprochenes Wort. Unerheblich ist, dass es sich hierbei um Worte anlässlich Diensthandlungen auf öffentlichem Verkehrsgrund handelte. Die D wurde von den Polizeibeamten extra zur Seite genommen, die restliche Demonstration war weitergezogen. Im Übrigen waren die Worte ausschließlich an D und nicht an die Allgemeinheit gerichtet. Die zwischen der P und D gewechselten Worte waren für andere Personen nicht bestimmt. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass unmittelbar neben der D eine weitere Person stand. Dies macht die zwischen den Beteiligten gesprochenen Worte nicht zu Öffentlichen im Sinne der genannten Strafvorschrift. Die Tat wird im Übrigen auch dann verfolgt, wenn nur eine Geschädigte, hier die P, Strafantrag gestellt hat. (LG München, Urt. v. 11.2.2019 – 25 Ns 116 Js 165870/17)


§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Mobiltelefon als gefährliches Werkzeug. Ein Schlag mit einem in der flachen Hand gehaltenen Mobiltelefon in das Gesicht des Opfers stellt grundsätzlich keine Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar, da hiermit nach Beschaffenheit und Art seiner Benutzung eine Eignung zur Herbeiführung erheblicher Körperverletzungen nicht festzustellen ist. Anderes kann gelten, wenn der Schlag mit einer Ecke oder Kante des Telefons ausgeführt wurde. Auch dass es bei dem Schlag mit dem Mobiltelefon zu einer inneren Platzwunde an der Lippe kam, trägt für sich genommen nicht die Feststellung, dass das Mobiltelefon nach der konkreten Art seines Einsatzes zur Verursachung erheblicher Verletzungen geeignet war. Anderes kann gelten auf der Grundlage gesonderter Feststellungen zum konkreten Umfang und zum Heilungsverlauf der Verletzung. (OLG Bremen, Urt. v. 27.11.2019 – 1 Ss 44/19)


§ 242 StGB – Diebstahl; hier: Diebstahl aus Mülleimern, sog. Containern. Herrenlos und damit nicht „fremd“ im Sinne des § 242 StGB sind Sachen, an denen Eigentum entweder nie bestanden hat oder bei denen der Eigentümer in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten, den Besitz an der Sache aufgibt, § 959 BGB (sog. Dereliktion). Der Verzichtswille braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden, er kann sich auch aus dem nach außen erkennbaren Verhalten des Eigentümers ergeben, z.B. durch Wegwerfen einer Sache. Ob insbesondere aus der Besitzaufgabe ohne weiteres auch auf einen Eigentumsverzicht geschlossen werden kann, hängt jedoch von den Umständen des Einzelfalles ab.

Werden die von einem Supermarktbetreiber für nicht mehr verkehrsfähig gehaltenen Lebensmittel in einem verschlossenen Container auf dem Grundstück der Firma im Zulieferbereich gelagert und stehen sie dort zur Abholung durch ein Entsorgungsunternehmen bereit, handelt es sich um fremde (bewegliche) Sachen im Sinne von § 242 Abs. 1 StGB. Die Wertlosigkeit einer Sache als solche gewährt Dritten nicht das Recht zur Wegnahme. Ein Dereliktionswille des Supermarktbetreibers liegt nicht vor, weil er zum einen durch das Absperren des Containers erkennbar gemacht hat, dass er die Lebensmittel nicht dem Zugriff beliebiger Dritter anheimgeben wollte, und weil zum anderen ein Verzichtswille, der zur Herrenlosigkeit der Sache führt, dann nicht vorliegt, wenn der Eigentümer das Eigentum nur zugunsten einer anderen Person (oder Organisation) aufgeben will (hier: zugunsten des Entsorgungsunternehmens). (BayObLG, Beschl. v. 2.10.2019 – 105 StRR 1013/19)


§§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB – Diebstahl mit Waffen; hier Seitenschneider als (kein) gefährliches Werkzeug. Am 11.11.2017 entwendete der A in den Geschäftsräumen der Firma TK MAXX ein Paar Turnschuhe sowie eine Damenuhr im Gesamtwert von 54,98 Ä, um die Waren ohne zu bezahlen für sich zu behalten. Mittels eines mitgeführten Seitenschneiders entfernte der A die Warensicherung von den Turnschuhen.

Ein 73 Gramm schwerer Seitenschneider mit einer Gesamtlänge von ca. 11,5 cm, wovon 8,5 cm auf die gummierten Griffe entfallen, und einer Klingenlänge von 1,4 cm, wobei die Klingen aufgrund einer Feder zwischen den Zangenschenkeln grundsätzlich mit einer Spannweite von ca. 1 cm teilweise geöffnet sind, bei Auseinanderdrücken der Zangenschenkel eine maximale Spannweite von 2 cm erreichen und in geschlossenem Zustand eine abgerundete Spitze bilden, ist kein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB. (OLG Nürnberg, Urt. v. 15.10.2018 – 1 OLG 8 Ss 183/18)

 

II Prozessuales Strafrecht

 


§§ 102, 105 StPO – Wohnungsdurchsuchung; hier: (Kein) kriminalistischer Erfahrungssatz bei Eigenkonsum. Der B fuhr zweimal mit seinem Pkw unter Amphetamineinfluss. Eine durchgeführte Durchsuchung des Pkw verlief negativ. Ein gegen B wegen dieser Vorfälle geführtes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Nachdem er erneut beim Fahren unter Amphetamineinfluss angetroffen wurde, beantragte die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung seiner Wohnung, weil B nach eigenen Angaben jedes Mal Cannabis und darüber hinaus – tatsächlich belegt – Amphetamine konsumiert habe. Der Ermittlungsrichter lehnte den Antrag ab.

Es lag kein Verdacht im Sinne des § 102 StPO vor, der auf konkreten Tatsachen beruht. Vielmehr stelle sich das Ergebnis der Ermittlungen als bloße Vermutung dar, dass der B Betäubungsmittel in seiner Wohnung verwahre. Es wurden bei keiner einzigen Verkehrskontrolle Betäubungsmittel aufgefunden. Es gibt keinen kriminalistischen Erfahrungssatz, dass bei Eigenkonsum eine plausible Vermutung formuliert werden kann, dass der Beschuldigte Betäubungsmittel besitzt. (LG Mainz, Beschl. v. 23.9.2019 – 3 Qs 57/19)


§§ 102, 105 StPO – Wohnungsdurchsuchung; hier: Voraussetzungen eines Anfangsverdachts der Geldwäsche. Eine Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts der Geldwäsche setzt voraus, dass ein Anfangsverdacht nicht nur für die Geldwäschehandlung vorliegt, sondern auch für das Herrühren des Vermögensgegenstands aus einer Katalogvortat im Sinne von § 261 Abs. 1 S. 2 StGB gegeben ist („doppelter Anfangsverdacht“). Für den eine Durchsuchungsanordnung tragenden Anfangsverdacht der Geldwäsche ist zunächst erforderlich, dass konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer bestimmten Geldwäschehandlung bestehen. Zusätzlich müssen nachvollziehbare Anhaltspunkte vorhanden sein, die die Begehung einer der in § 261 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Vortaten möglich erscheinen lassen. Dabei ist als Ausfluss des Wohnungsgrundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG die mögliche Katalogtat zu konkretisieren, ohne dass allerdings erforderlich ist, die Geldwäschevortat bereits in ihren Einzelheiten zu kennen. (BVerfG, Beschl. v. 31.1.2020 – 2 BvR 2992/14)


§ 112 Abs. 2 Nrn. 2, 3 StPO – Voraussetzungen der Untersuchungshaft, Haftgründe; hier: Begründungstiefe bezüglich dringenden Tatverdachts. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft muss dem Spannungsverhältnis zwischen der durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten persönlichen Freiheit des Einzelnen und einer wirksamen Strafverfolgung unter maßgeblicher Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Rechnung getragen werden. Der dringende Tatverdacht muss sich auf konkrete Anhaltspunkte stützen und liegt nur dann vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat. Die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verletzt Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG, wenn in dem Beschluss dem Beschuldigten kein konkreter Tatbeitrag oder – sollte passives Verhalten für eine Beihilfehandlung ausreichend sein – ein entsprechender Vorsatz zugeordnet wird, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nicht zwischen den einzelnen Beschuldigten und den ihnen vorgeworfenen Taten differenziert wird. Erforderlich ist die Darlegung einer konkreten Tatbeteiligung eines jeden einzelnen Beschuldigten. Es genügt insoweit auch nicht, wenn die Sachverhaltswürdigung pauschal – und daher nicht näher nachvollziehbar – damit begründet wird, dass sie sich mit „ausreichender Deutlichkeit“ aus den vorliegenden Beweismitteln (hier: Videoaufzeichnung, Zeugenaussagen) ergebe und daneben auf eine rein gruppenbezogene „Gesamtbetrachtung“ abgestellt wurde. (BVerfG, Beschl. v. 9.3.2020 – 2 BvR 103/20)

 

III Sonstiges


Einen sehr gelungenen ersten Überblick über das „Neue Sexualstrafrecht“ bietet ein Aufsatz von Prof. Dr. Elisa Hoven in der NStZ 10/2020, S. 578 - 586. Zum „Elektronischen Taschendiebstahl“ bei Kleinstbetragszahlungen finden Sie einen lesenswerten Beitrag von Dr. Stefan Christoph / Dr. Verena Dorn-Haag in der NStZ 12/2020, S. 697 – 703. Mit der Einziehung von Kraftfahrzeugen bei Straftaten nach § 315d StGB beschäftigt sich eine Abhandlung von Alexander Bleckat in der NStZ 12/2020, S. 715 – 717. Prof. Dr. Fredrik Roggan merkt im StV 5/2020, S. 328 - 332 zur Strafbarkeit des Filmens von Polizeieinsätzen – seine Überlegungen zur Auslegung des Tatbestands von § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB an(s.o. unter I Materielles Strafrecht)an.