Vereinnahmung der Pandemie?

Apokalyptik und Verschwörungstheorien im Salafismus und Jihadismus


Von Jassin Zeggaf M.A., Wiesbaden1

 

1 Einführung

 

Neben wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verunsicherungen sorgt die Corona-Krise für eine rasante Verbreitung von Verschwörungstheorien in unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung, beispielsweise erkennbar an Teilen der sog. Hygienedemos. Hiervon betroffen sind auch die salafistische und jihadistische Szene, die trotz mangelnder theologischer Grundlagen bis zu einem gewissen Grad Verschwörungsnarrative mit apokalyptischen Szenarien in Verbindung bringen. Beobachtbar ist das Phänomen der Verschwörungstheorien, insbesondere in seiner antisemitischen Ausprägung, vor allem im Rechtsextremismus und im Islamismus.2 Neben möglichen Erklärungsansätzen für chaotische und unsichere Ereignisse dienen solche Theorien vor allem der Durchsetzung politischer Programmatiken und sind daher nicht zu unterschätzen. Im Mittelpunkt von Verschwörungstheorien steht in den meisten Fällen eine stark vereinfachte Weltsicht, die komplexe Sachverhalte und verschiedene Gruppen von Menschen in binäre Kategorien einordnet. Häufig gehen solche Ansätze auch mit der Konstruktion von Eigen- und Fremdkategorien einher, welche in Form politischer Narrative vermittelt werden. Eine polemisierende Rhetorik soll einerseits den Wert der Eigengruppe überhöhen und andererseits eine stilisierte Fremdgruppe abwerten. Als Fremdgruppe fungierten in der Vergangenheit meist bestimmte dämonisiert dargestellte gesellschaftliche Minderheiten wie Juden, vermeintliche Hexen, Muslime oder Illuminaten.3 Auch in der Propaganda des sog. Islamischen Staats (IS) nehmen verschwörungstheoretische Inhalte und messianische Vorstellungen eine zentrale Rolle ein. Auch wenn es derzeit nicht nach einer systematischen Instrumentalisierung der Pandemie durch die salafistisch-jihadistische Szene aussieht, entwickelten sich dort bisher zwei Interpretationsansätze der Ereignisse: eine verschwörungstheoretisch-apokalyptische Auffassung und ein pragmatischer Umgang mit den Ereignissen.

 

 

2 Ansatz I: Verschwörungstheoretisch-apokalyptische Auffassung


Ein weit verbreitetes Narrativ ist, dass es sich beim Corona-Virus um eine Strafe Gottes handelt. Diese treffe die Feinde des Islams, die durch jahrelange Verfolgung, Diskriminierung und Bekämpfung der Muslime weltweit den Zorn Gottes auf sich gezogen hätten. Anhänger dieser Theorie kritisieren auch den aus ihrer Sicht weit verbreiteten gesellschaftlichen Unglauben und rufen zu einer religiösen Rückbesinnung auf den Islam auf. Oft mitinbegriffen in dieser Deutung sind verschwörungstheoretische Ansätze, die davon ausgehen, dass nicht alle politischen Hintergründe der Umstände der Pandemie bekannt und öffentlich seien. Explizit genannte Schuldzuweisungen wurden bisher jedoch noch nicht beobachtet. Diese Ansicht wird durch bestimmte im salafistischen Spektrum bekannte Prediger und YouTube-Kanäle wie Abul Baraa4, Botschaft des Islams5, der Islam verbindet6 und Abdellatif Rouali7 vertreten. Insbesondere der Frankfurter und salafistische Prediger Rouali bezieht in seine Deutung apokalyptische Narrative mit ein. In seinem Video mit dem Titel „Zeichen der Stunde“ betont er, dass es noch nie vorkam, dass Mekka komplett leer gewesen sei und es sich deshalb um ein Zeichen des Jüngsten Gerichts handeln könnte.8


Der IS warnte erst vor Reisen nach Europa und bezog sich auf eine Überlieferung, laut welcher der Prophet Muhammad empfohlen habe, von einer Epidemie betroffene Regionen zu meiden bzw. sie nicht zu verlassen, falls man sich dort aufhalte. Später interpretierte die Terrororganisation das Virus als eine göttliche Bestrafung der „Kreuzzügler“ und sah sich in seiner Weltsicht bestärkt. Teilweise gab es auch Überlegungen das Virus als Biowaffe einzusetzen. In einer späteren Audio-Botschaft des IS-Sprechers Abu Hamza al-Qurashi wurden IS-Anhänger und Sympathisanten zusätzlich zum Kampf gegen die „Kreuzzügler“ mobilisiert.9 Diese Propagandastrategie stellt kein Novum beim IS dar. Beispielsweise nutzt die Terrormiliz gezielt die schwarze Flagge mit dem Prophetensiegel. Truppen unter diesem Banner sollen laut Überlieferungstradition mit der Einnahme Jerusalems den ersten Schritt zum Ende der Welt einläuten.10 Die Benennung seines Propagandamagazins nach der syrischen Stadt Dabiq ist ebenfalls symbolisch zu deuten, da es sich um den Ort handeln soll, an welchem die Muslime einen apokalyptischen Kampf gegen die „Römer“, d.h. in diesem Kontext die USA und die europäischen Staaten, führen werden.11 Diese Ansätze sind durchaus als gefährlich einzuordnen, da sie insbesondere desillusionierte Jugendliche weltweit ansprechen und teilweise auch mobilisieren.12

 

3 Ansatz II: Pragmatisch-sachlicher Umgang mit dem Virus


Eine alternative Interpretation der Ereignisse geht von der Gefahr des Virus aus und nimmt diese ernst. Auch hier taucht teilweise das Narrativ der göttlichen Strafe auf, welches jedoch deutlich im Hintergrund steht. Vordergründig ist hier der sachliche Umgang mit COVID-19 und der Aufruf zur Eindämmung der Krankheit, falls dies möglich ist. Hervorzuheben ist, dass Verschwörungstheorien vermieden und teilweise auch öffentlich abgelehnt werden bei der Einordnung der Ereignisse.


Diesen Ansatz vertreten im salafistischen Spektrum vor allem die salafistischen Prediger Pierre Vogel13, Bernhard Falk14 und Sven Lau15. Im terroristischen Spektrum beziehen sich al-Qaida (AQ) und seine nahestehenden Organisationen und Ableger auf diesen Ansatz, darunter die Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) und die somalische Shabab-Miliz. Auch die Taliban reagierten weitgehend besonnen. Hervorzuheben sind auch die schnell angeordneten Maßnahmen, um die Krankheit einzudämmen, die Hygiene zu fördern und Ansteckungen zu vermeiden. So reagierte die HTS in der umkämpften syrischen Provinz Idlib besonders schnell auf die Nachricht vom Ausbruch der Pandemie und hoffte somit der Krankheit zu entgehen und auch, dass sich das Virus vor allem unter feindlichen Akteuren verbreitet. Zwar wird das Virus auch von den AQ-nahen Organisationen als göttliche Strafe interpretiert, jedoch sei diese an die gesamte Welt aufgrund gelebter unmoralischer Werte adressiert und nicht nur an einzelne Feinde. Interessanterweise verzichteten die oben genannten Akteure auf das systematische Nutzen von Verschwörungstheorien.16

 

4 Fazit


Tatsache ist, dass es in der islamischen Überlieferung lediglich einen Bericht des Propheten Muhammad gibt, welcher sich auf Epidemien im Kontext der Letzten Tage bezieht. Daher dürfte eine systematische Instrumentalisierung der Theologie im Sinne von Terrororganisationen schwierig werden. Trotz allem gilt es die Entwicklungen im salafistischen und jihadistischen Spektrum im Auge zu behalten, da globale Ereignisse in Kombination mit apokalyptischen Interpretationsansätzen und Verschwörungstheorien leicht politisch instrumentalisiert werden können. Dies zeigt sich vor allem daran, dass führende Szenevertreter sich auf die Krankheit beziehen und diese als göttliche Strafe einordnen. Welche Konsequenzen sie daraus ziehen, bleibt momentan noch offen. Da vor allem der IS sich über apokalyptische und messianische Prophezeiungen legitimiert, ist von einer längerfristigen Vereinnahmung des Virus und seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen für die eigenen Zwecke auszugehen.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist Islamwissenschaftler in der Abteilung 5 / HSG 55 des LKA Wiesbaden. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.
  2. Winter, Aaron (2014): My Enemies Must Be Friends. The American Extreme-Right, Conspiracy Theory, Islam, and the Middle East, in: Butter, Michael / Reinkowski, Maurus (Hrsg.): Conspiracy Theories in the United States and the Middle East. A Comparative Approach. Walter de Gruyter GmbH & Co. KG. Berlin / Boston 2014: 36-58, hier: S. 35 ff.
  3. Robertson, David G. (2017): The Hidden Hand. Why Religious Studies Need to Take Conspiracy Theories Seriously, in: Religious Compass, Vol. 11, Nr. 3-4: 1-8, hier: S. 2, 4.
  4. Vgl. www.youtube.com/channel/UCRsfPhTdW-GBdqHjj-29tvQ, www.youtube.com/watch, www.youtube.com/watch usw.
  5. Vgl. www.youtube.com/watch.
  6. Vgl. www.youtube.com/watch.
  7. Vgl. www.youtube.com/watch.
  8. Ebd.
  9. Vgl. www.dw.com/de/coronavirus-der-is-will-von-der-pandemie-profitieren/a-52892535 und www.voanews.com/covid-19-pandemic/islamic-state-calls-coronavirus-pandemic-plague-biblical-proportions.
  10. James, Jonathan D. (2017): Transnational Religious Movements. Faith’s Flows. SAGE Publications India Pvt Ltd. Neu-Delhi 2017, S. 145, 150f.
  11. Sandal, Nukhet (2018): „Apocalypse Soon“. Revolutionary Revanchism of ISIS, in: Al-Istrabadi, Feisal / Ganguly, Sumit (Hrsg.): The Future of ISIS. Regional and International Implications. Brookings Institution. Washington, D.C. 2018, S. 29, 32.
  12. Ebd., S. 24.
  13. Vgl. www.youtube.com/watch?v=h0O7bv0nboE, www.youtube.com/watch usw.
  14. Vgl. www.youtube.com/watch.
  15. Vgl. www.youtube.com/watch.
  16. Vgl. de.qantara.de/content/radikale-islamisten-coronavirus-als-goettliche-rache.