Das neue VersFG BE – Eine kritische Betrachtung der Entkriminalisierungstendenzen

Von PD Michael Wernthaler, Bruchsal

 

Am 21.2.2021 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus ein neues Versammlungsgesetz. Damit gilt in Berlin nicht mehr das Bundes-Versammlungsgesetz (BVersG) sondern das Gesetz über die Versammlungsfreiheit im Land Berlin (VersFG BE). Eine der Neuerungen ist die Entkriminalisierung bisheriger versammlungsrechtlicher Straftatbestände, die nunmehr nur noch als Ordnungswidrigkeiten und teilweise auch dann nur mit der Voraussetzung der Verwaltungsakzessorietät ahndungsfähig sind. Der Aufsatz soll diese Neuerungen aufzeigen und ihre polizei-praktische und juristische Relevanz beleuchten.

 

1 Vorwort


In Berlin galt bis Februar 2021 weitgehend noch das BVersG. Die seit der Föderalismusreform 2006 bestehende Gesetzgebungskompetenz hatte das Land Berlin lediglich für die Regelung von versammlungsrechtlichen Teilbereichen genutzt, insbesondere für die Normierung der Beobachtung von Versammlungen mit technischen Mitteln (VersAufn/AufzG Berlin).2 Das neue VersFG BE berücksichtigt nun die jüngsten versammlungsrechtlichen Entscheidungen und setzt die Novellierung der Versammlungsgesetze, wie bereits in Schleswig Holstein (VersFG SH)3 und Niedersachsen (NVersG)4 geschehen, fort. Insbesondere im Bereich der Ahndungsvorschriften (Abschnitt 4, §§ 26 u. 27 VersFG BE) erfolgte im VersFG BE eine Fortsetzung der bisherigen Liberalisierung, die nachfolgend bezüglich ihrer Praxisrelevanz betrachtet werden soll.

 


Das VersFG BE wurde am 11.2.2021 durch das Abgeordnetenhaus verabschiedet.

 

2 Neue Ahndungsvorschriften und ihre Bedeutung

 

Die Regelungen über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten findet im Berliner Versammlungsrecht eine klare und einfache Struktur: § 26 VersFG BE beinhaltet die Straftaten, § 27 VersFG BE die Ordnungswidrigkeiten. Dabei wurde im VersFG BE der Umfang der versammlungsrechtlichen Straftaten im Vergleich zum BVersG und den meisten Länder-Versammlungsgesetzen deutlich reduziert. Damit ähnelt das VersFG BE dem schleswig-holsteinischem Versammlungsrecht, wenngleich es inhaltlich nicht identisch ist.

 

2.1 Straftaten

2.1.1 Störungsverbot (§ 8 i.V.m. 26 Abs. 1 VersFG BE)

Weiterhin verboten ist es, „eine Versammlung mit dem Ziel zu stören, deren Durchführung erheblich zu behindern oder zu vereiteln“ (§ 8 VersFG BE). Als Straftat geahndet und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wird jedoch nur, „wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu verhindern oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht“ (§ 26 Abs. 1 VersFG BE).


Unter Gewalttätigkeiten gegen Personen wird allgemein ein aggressives, gegen die körperliche Unversehrtheit von Menschen gerichtetes aktives Tun von einiger Erheblichkeit unter Einsatz physischer Kraft verstanden. Gewalttätigkeit gegen Sachen erfordert den Einsatz von körperlichen Kräften, wobei die Handlung geeignet sein muss, einen Erfolg im Sinne einer Sachbeschädigung herbeizuführen. Auf den Eintritt des Erfolges kommt es jedoch auch hier nicht an.5


Diese Neu-Regelung im VersFG BE stellt eine deutliche Verschärfung der Tatbestandsvoraussetzungen dar, genügte es bislang doch nach dem BVersG, wenn der Täter grobe Störungen6 verursachte (§ 21 VersG). Die Berliner Neu-Regelung bedeutet eine deutliche Herabstufung des bislang strafbaren Verhaltens zu einer Ordnungswidrigkeit. Der Berliner Gesetzgeber hat hiermit den strafrechtlichen Versammlungsschutz deutlich reduziert.7 Es darf bezweifelt werden, ob diese Liberalisierung zu einer Befriedung der Lage führt oder ob die feststellbare Tendenz, dass Aufzüge und Versammlungen durch Andersdenkende – insbesondere extremistische Gruppierungen – zunehmend gestört, verhindert oder blockiert werden, weiter zunimmt und die Gesetzesliberalisierung eher motivierend und störungsfördernd wirkt und somit die Hemmschwelle für Störungen ungeliebter Versammlungen eher verringert wird.

 

2.1.2 Waffenverbot (§ 26 Abs. 2 Nr. 1 VersFG BE)

Das Gebot der Waffenlosigkeit bei Versammlungen ergibt sich bereits aus Art. 8 Abs. 1 GG und ist im § 9 Abs. 1 VersFG BE analog zu den bisherigen versammlungsrechtlichen Regelungen des Bundes und der Länder normiert. Bei der Sanktionierung geht der Berliner Gesetzgeber jedoch neue Wege und unterscheidet in Waffen im Sinne des Waffengesetzes (Waffen im technischen Sinne) und „sonstige Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Herbeiführung erheblicher Schäden an Sachen geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind“ (Waffen im nichttechnischen Sinne).


Im ersten Fall, „Waffen im technischen Sinne“ betreffend, ist das Mitführen sowie das Hinzuschaffen zu Versammlungen als Straftat sanktioniert (§ 26 Abs. 2 Nr. 1 VersFG BE). Im zweiten Fall, für „Waffen im nichttechnischen Sinn“, ist eine Verfolgung als Straftat an „eine Anordnung zu Durchsetzung des Waffenverbots an § 9 Abs. 1 Nr. 2“8 gebunden, d.h. eine Strafverfolgung ist nur dann möglich, wenn an die Tatverdächtigen zuvor eine Anordnung, bspw. eine Lautsprecherdurchsage durch die Polizei, erging, das verbotene Tun – hier Mitführen einer bestimmten Bewaffnung – zu unterlassen. Hierbei muss der Gegenstand, der als „Waffe im nichttechnischen Sinne“ angesehen wird, bei der Durchsage der Polizei entsprechend beschrieben, d.h. bezeichnet werden. Man spricht in diesen Fällen, bei der der Strafbarkeit eine behördliche Anordnung vorangehen muss, von einem Akt der „Verwaltungsakzessorietät“.


Zu beachten ist hierbei bei behördlichen Anordnungen – und das gilt grundsätzlich für polizeiliche Durchsagen mit Verwaltungscharakter – dass es sich um Verwaltungsakte handelt. Verwaltungsakte unterliegen gem. § 37 Abs. 1 VwVfG dem Bestimmtheitsgebot. Ein Verwaltungsakt ist nur dann hinreichend bestimmt, wenn die durch ihn getroffene Regelung vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen ist. D.h., dass die Adressaten und sonstigen Beteiligten zweifelsfrei bestimmt sind und diese zweifelsfrei wissen, was von ihnen gefordert wird und wenn sie ihr Verhalten danach richten können.9 Für die Polizei bedeutet dies, dass gerichtsverwertbar belegt werden muss, dass die Durchsage nicht nur bezüglich ihrer Weisung verständlich war, sondern auch vom Adressatenkreis bezüglich Lautstärke und Artikulation gehört und akustisch verstanden werden konnte. Damit der Adressat weiß, welcher pönalisierte Gegenstand gemeint ist, muss dieser konkret beschrieben werden, jeder andere Gegenstand, der nicht ausreichend beschrieben wird, jedoch ebenfalls gefährlich ist, unterliegt nicht der Strafbarkeit, da er nicht explizit in der Anordnung bezeichnet wurde.


Es bleibt zu befürchten, dass künftig ein Sammelsurium an „gefährlichen Gegenständen“ benannt werden muss, um der Strafverfolgung Genüge zu tun.


Ein weiteres Problem stellt die Gleichbehandlung dar. Es ist ungewiss, wie die Gerichte urteilen, wenn in einem Teil der Versammlung bestimmte Verhaltensweisen untersagt werden, während an einer anderen Stelle der gleichen Versammlung eine entsprechende behördliche Anordnung unterblieb, bspw. um eine Eskalation zu vermeiden.


Die vom Berliner Gesetzgeber beabsichtigte bessere Flexibilität für die Polizei erscheint zweifelhaft, es handelt sich eher um ein Einschreithemmnis, da ohne behördliche Anordnung (polizeiliche Durchsage) eine Strafverfolgung nicht möglich ist und die Verwaltungsakzessorietät eine weitere Verwaltungs- und damit Einschreithürde darstellt.

2.1.3 Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 26 Abs. 2 Nr. 3 VersFG BE)

Ebenfalls mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wird, „wer gegen eine Anordnung zur Durchsetzung des Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbots nach § 19 Abs.1 VersFG BE verstößt“. Die im BVersG nominierten Straftaten des Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbots sind auch im neuen Berliner Versammlungsgesetz als Straftaten sanktioniert, sie unterliegen jedoch, wie die Regelungen zum Waffenverbot „nicht technischer Waffen“, ebenfalls der Verwaltungsakzessorietät, werden also erst strafbar, wenn zuvor eine polizeiliche Anordnung erfolgt ist, die die verbotenen Gegenstände benennt.


Das Vermummungsverbot im VersFG BE bezieht sich ausschließlich auf Versammlungen unter freiem Himmel und nicht mehr – wie bisher im § 17 a Abs. 1 BVersG – auch auf sonstige öffentliche Veranstaltungen. Die Begrenzung ausschließlich auf Versammlungen dient der Regelungsklarheit und ist systematisch zu begrüßen. Die entstandene Regelungslücke für Veranstaltungen (bspw. Fußballspiele) sollte jedoch zeitnah wieder geschlossen werden.


Das Vermummungsverbot gehört traditionell zu den strittigsten Themen deutscher Versammlungsgesetze. § 19 Abs. 1 Nr. 1 VersFG BE normiert das deutschlandweit am engsten gefasste Verbot. Erstmalig wird nur das Verwenden, nicht aber das Mitführen von Vermummungsgegenständen verboten. Gegen diese Neufassung ist verfassungsrechtlich nichts einzuwenden, sie dürfte aber in der polizeilichen Praxis zu erheblichen Problem führen, da die Polizei bei Kontrollen Personen mit Vermummungsgegenständen passieren lassen muss, um dann, wenn diese sich zu einem „schwarzen Block“ formieren und gleichzeitig ihre Vermummung anlegen, ein Einschreiten wesentlich schwieriger und nur mit erheblichem Ressourcenmehraufwand möglich ist.


Des Weiteren betrifft das Vermummungsverbot in Berlin (wie in Schleswig-Holstein, § 17 Abs. 1 Nr. 1 VersFG SH) ausdrücklich nur Personen, die den Vermummungsgegenstand verwenden, um eine zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten durchgeführte (polizeiliche) Identitätsfeststellung zu verhindern. Auf der Grundlage der übrigen deutschen Versammlungsgesetze gibt es demgegenüber zwei Auffassungen, von denen eine Ansicht eine verbotene Vermummung annimmt, wenn sich die Vermummung gegen polizeiliche Identitätsfeststellungen richtet. Die – u.a. von der bisherigen Berliner Rechtsprechung vertretene – Gegenmeinung geht davon aus, dass eine Vermummung selbst dann verboten ist, wenn sie gar nicht wegen der Polizei getragen wird. In diesem Punkt hat der Berliner Gesetzgeber nun für Klarheit gesorgt.


Kritisch gesehen wird jedoch erneut die Regelung zur Verwaltungsakzessorietät, d.h. die Regelung, dass eine Strafbarkeit erst dann eintritt, wenn zuvor „die zuständige Behörde [in Berlin die Polizei gem. § 31 VersFG BE] zur Durchsetzung des Verbots Anordnungen trifft, in denen die vom Verbot erfassten Gegenstände bezeichnet sind“ (§ 19 Abs. 2 VersFG BE). Erneut bestehen Zweifel, dass die Regelungen der Verwaltungsakzessorietät für die Polizei eine tatsächlich größere Flexibilität durch Wegfall der Legalitätspflicht ergeben. Es wird eher die Problematik des erhöhten Verwaltungsaufwandes und der Komplexität einer gerichtsverwertbaren behördlichen Anordnung (vgl. Ziffer 2.1.1) gesehen.


Eine weitere Liberalisierung erfolgte beim Vermummungsverbot dadurch, dass das Mitführen solcher (Vermummungs-)Gegenstände nach dem VersFG BE nunmehr nicht mehr untersagt ist, während es im BVersG weiterhin eine Ordnungswidrigkeit darstellt (§ 17a Abs. Nr. 2 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 1a VersG). Was erlaubt ist, kann nicht sanktioniert werden und somit ist eine Beschlagnahme von Vermummungsgegenständen auf dem Weg zu einer Versammlung nicht mehr zulässig. Es muss also abgewartet werden, bis die Vermummung angelegt wurde, um repressiv agieren zu können. Es wird bezweifelt, ob diese Regelung der Befriedung und einer Reduzierung gewalttätiger Versammlungsaktivitäten dient.

 

2.2 Ordnungswidrigkeiten (§ 27 VersFG BE)

Signifikant im neuen Berliner Versammlungsgesetz ist im Vergleich zum BVersG die in einigen Punkten vorgenommene Herabstufung bislang strafbaren Verhaltens zu Ordnungswidrigkeiten. Dies betrifft insbesondere:


die Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 VersFG BE [ehem. § 23 VersG]),


die Durchführung einer nicht angezeigten (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 VersFG BE [ehem. § 26 Nr. 2 VersG]) bzw. verbotenen Versammlung (§ 27 Abs. 1 Nr. 4 VersFG BE [ehem. § 26 Nr. 1 VersG]),


die von den Angaben in der Anzeige wesentlich abweichende Durchführung einer Versammlung (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 VersFG BE [ehem. § 25 Nr. 1 VersG]),


Verstöße gegen das Uniformverbot (§ 27 Abs. 1 Nr. 6 VersFG BE [ehem. § 28 VersG]) und


die Verhinderung oder Vereitelung der Durchführung einer nicht verbotenen Versammlung (§ 27 Abs.1 Nr. 3 VersFG BE).


Nach Auffassung des Autors hat der Berliner Gesetzgeber durch die „Ent-Kriminalisierung“ der genannten Tatbestände dem aktuellen Trend der Liberalisierung, wie in den neuen Versammlungsgesetzten von Niedersachsen (NVersG) und Schleswig-Holstein (VersFG SH) – wenn auch in deutlich stärkerer Intensität – Rechnung getragen und dabei den strafrechtlichen Versammlungsschutz erheblich reduziert.10

 

2.2.1 Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung (§ 14 Abs. 7 i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 2 VersFG BE)

Im BVersG ist die Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft (§ 23 VersG). Das VersFG BE sanktioniert bei nahezu wortgleichem Straftenor das rechtswidrige Verhalten nunmehr nur noch als Ordnungswidrigkeit und sieht bei Zuwiderhandlung eine Geldbuße von bis zu zweitausendfünfhundert Euro vor.


Das Herabstufen des Straftatbestands der „Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung“ zu einer Ordnungswidrigkeit war bislang bundesweit nur im VersFG SH erfolgt, während ansonsten und damit auch im liberalen NVersG, die Regelung als Straftat Bestand hat. Vom Verfasser wird diese Entkriminalisierungsmaßnahme äußerst kritisch geschehen, haben Versammlungen, die einem vollziehbaren Verbot unterliegen, doch einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung hinsichtlich ihrer Friedlichkeit oder Gefahrenlosigkeit für die Versammlungsteilnehmer oder Dritter nicht standgehalten und dennoch wird der (Erst-Recht-)Aufruf zur Teilnahme an der gerichtlich verbotenen Versammlung künftig als geringfügiger Verstoß bewertet. Es bestehen äußerste Zweifel, ob diese Liberalisierungsmaßnahme zu einer Stärkung der Rechtstreue führen wird. Aus den bisherigen polizeipraktischen Erfahrungen des Verfassers wird die Entkriminalisierung eher zu einer Enthemmung und damit Missachtung der Bestimmung, insbesondere bei den extremistischen Versammlungsteilnehmern, führen.

 

2.2.2 Durchführung einer nicht angezeigten oder wesentlich anders als in der Anzeige angegebene Durchführung einer Versammlung (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 VersFG BE)

Mit einer Geldbuße bis zu eintausend Euro geahndet werden kann, wer „als veranstaltende oder leitende Person eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel ohne eine gemäß § 12 erforderliche Anzeige oder wesentlich anders als in der Anzeige angegeben durchführt“ (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 VersFG BE). Damit wurde das bislang als Straftat sanktionierte Durchführen einer nicht angezeigten Versammlung (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe gem. § 23 BVersG) sowie die wesentlich von der Anmeldung abweichende Durchführung einer Versammlung (Freiheitsstrafe bis zu sechs Monate oder Geldstrafe gem. § 25 Nr. 1 BVersG) vom Vergehen zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft.


Der Tatbestand des „Durchführens einer nicht angezeigten Versammlung“ hatte bislang eher geringe bis keine Relevanz, war doch durch höchstrichterliche Rechtsprechung festgestellt, dass von dieser Regelung nur Versammlungen und Aufzüge erfasst sind, sofern es sich nicht um Spontan- oder Eilversammlungen handelt. Denn ein Beharren auf der Anmeldepflicht würde zur generellen Unzulässigkeit von Spontanversammlungen führen, was mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht zu vereinbaren wäre.11


Der Tatbestand der „wesentlich anderen Durchführung einer öffentlichen Versammlung als in der Anzeige angegeben“, hatte indes jedoch bislang in der Praxis durchaus Relevanz. Der Tatbestand kam immer dann zum Tragen, wenn beispielsweise bewusst von der genehmigten Aufzugstrecke abgewichen wurde, um so den Kontakt mit dem politischen Gegner zu suchen oder ohne vorherige Anmeldung motorisierte Fahrzeuge und/oder Beschallungseinrichtungen mitgeführt wurden.


Es ist nun zu befürchten, dass, durch die Entkriminalisierung und Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit, die Verpflichtung zur Normenbeachtung eher abnimmt und die Bereitschaft zur gesetzeskonformen Durchführung einer Versammlung oder eines Aufzugs leidet. Für die polizeilichen Einsatzkräfte könnte sich das Problem ergeben, dass sie verstärkt mit veränderten Bedingungen konfrontiert werden und die Durchsetzung von Beschränkungen oder Auflagen mit dem Verweis auf die Geringfügigkeit des Verstoßes erschwert ist.

 

2.2.3 Uniformverbot (§ 9 Abs. 2 i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 6 VersFG BE)

Neu und verfassungsrechtlich konsequent ist die Regelung des Uniformverbots im Zusammenhang mit einem Einschüchterungsverbot (§ 9 Abs. 2 VersFG BE). So ist in Berlin „das Tragen von Uniformen oder Uniformteilen oder sonst ein einheitliches Erscheinungsbild vermittelnden Kleidungsstücken“ nur verboten, wenn diese „dazu geeignet und bestimmt„ sind, „im Zusammenwirken mit anderen teilnehmenden Personen Gewaltbereitschaft zu vermitteln und dadurch einschüchternd“ wirken. Jedoch steht das Uniformverbot, ebenso wie das Waffen- und Schutzausrüstungsverbot, unter dem Vorbehalt der Verwaltungsakzessorietät, d.h. eine Strafbarkeit ist nur gegeben, wenn „die zuständige Behörde [ …] zur Durchsetzung der Verbote [ …] die vom Verbot erfassten Gegenstände oder Verhaltensweisen bezeichnet“ (§ 9 Abs. 3 VersFG BE.


Des Weiteren wird in Berlin der Verstoß gegen das Uniformverbot künftig nur als Ordnungswidrigkeit (§ 27 Abs. 1 Nr. 6 VersFG BE) mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 Euro geahndet, während es zuvor im BVersG als Straftat (§ 28 VersG) mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wurde.


Hinsichtlich der Herabstufung von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit ähnelt die Regelung dem schleswig-holsteinischen Gesetz, auch wenn sie inhaltlich nicht identisch ist.


Es wird bezweifelt, ob die Herabstufung und damit Entkriminalisierung der Regelung zu mehr Normenbeachtung führt. Die Praxis hat gezeigt, dass Gewaltbereitschaft vermittelndes und einschüchterndes Auftreten militanter oder gewaltbereiter Gruppierungen, bspw. im Zusammenhang mit Kurdenmärschen, Rocker-Machtdemonstrationen, Auftreten von Salafisten als „Sharia-Polizei“ sowie der Aufmarsch rechter Gruppierung oder auch einheitlich vermummter Autonomer (schwarzer Block) eher zunimmt und der Gewaltbereitschaft den Weg bereitet. Es sind deshalb Zweifel angebracht, ob diese Liberalisierung tatsächlich zu einer Befriedung und mehr Normenbeachtung führt oder eher der Gewaltbereitschaft förderlich ist.

 

2.2.4 Verhinderung oder sonstige Vereitelung der Durchführung einer nicht verbotenen Versammlung (§ 8 i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 3 VersFG BE)

Das Störungsverbot gem. § 8 VersFG BE bestimmt, dass es verboten ist, „eine Versammlung mit dem Ziel zu stören, deren Durchführung erheblich zu behindern oder zu vereiteln“. Insoweit entspricht der Gesetzestenor im Wesentlichen dem BVersG, das im § 21 als Straftat sanktioniert: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“.


Der Berliner Gesetzgeber hat den Verstoß gegen das Störungsverbot jedoch – sofern hierbei nicht Gewalttätigkeiten vorgenommen werden – von der Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft und gleichzeitig unter das Primat der Verwaltungsakzessorietät gestellt, indem in § 27 Abs.1 Nr. 3 VersFG BE geregelt ist, dass nur „ordnungswidrig handelt, wer trotz einer behördlichen Anordnung, dies zu unterlassen, absichtlich allein oder im Zusammenwirken mit anderen, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge verhindert oder sonst ihre Durchführung vereitelt.“ Geahndet wird die Missachtung mit einer Geldbuße bis zu 1.500 Euro.


Sanktioniert wird jedoch nur die Verhinderung oder Vereitelung einer nicht verbotenen Versammlung, die bisherige Regelung des BVersG, „Androhen von Gewalttätigkeiten oder Verursachen von groben Störungen“, wurde nicht übernommen, womit der Versammlungsschutz der nicht verbotenen Versammlungen erheblich gemindert wurde. Hat die jüngste Praxis doch gezeigt, dass es bei Versammlungskonstellationen, bei denen gegenseitige politische Einstellungen aufeinandertrafen – insbesondere bei sog. Rechts-Links-Konstellationen (bspw. bei AfD- oder NPD-Parteitagen, Versammlungen oder Aufzügen von Corona-Gegnern) – Blockade- und Verhinderungsversuche zum Standard-Repertoire insbesondere links-autonomer Gruppierungen gehörte. Es ist nun zu befürchten, dass die Entkriminalisierung Störungsversuche eher fördert als hemmt. Mit einer Zunahme von Störungshandlungen ist zu rechnen.

 

3 Resümee


Viele Regelungen im neuen VersFG BE folgen den neueren Versammlungsgesetze in anderen Bundesländern oder formulieren die schon bisher zu berücksichtigende Rechtsprechung. So innovativ, wie vom Berliner Gesetzgeber angekündigt, ist das neue Berliner Versammlungsrecht somit also nicht.


Insgesamt bestehen Zweifel, ob die im VersFG BE enthaltenen Straf- und Ordnungswidrigkeiten-Normen den Schutz von Rechtsgütern hinreichend gewährleisten. Der im Gesetzgebungsverfahren mehrfach zitierte Verweis auf ähnliche Normen in Schleswig-Holstein ist nur bedingt überzeugend. Besonders vor dem Hintergrund der großen Anzahl von Versammlungen in Berlin (ca. 5.000 pro Jahr) und zahlenmäßig starken Gruppen von gewaltorientierten Extremisten, die sich zudem in dem Stadtstaat relativ leicht mobilisieren lassen, werden für die Sicherheitskräfte in Berlin zunehmende Probleme prognostiziert.


Insbesondere die Neu-Regelung des Vermummungsverbots, dieses explizit auf die Verhinderung der Identitätsfeststellung zur Strafverfolgung zu begrenzen und damit die bisherige Kammergerichts-Rechtsprechung, die Vermummung grundsätzlich als Straftat deklarierte, auszuhebeln, wird eher zu einer Verschärfung der Gewaltbereitschaft und damit zu einem Anstieg von gewalttätigen Versammlungen führen.


Der vom Berliner Gesetzgeber beabsichtigte Gewinn an Handlungsfreiheit für die Vollzugspolizei durch die Regelungen der Verwaltungsakzessorietät, die den Wegfall der Bindung an das Legalitätsprinzip12 beinhaltet, wird kritisch gesehen, vielmehr wird die zusätzliche Bindung der Sanktionsfähigkeit an einen vorgeschalteten Administrationsakt eher als weitere bürokratische Hürde und damit Erhöhung der Einschreitschwelle empfunden.


Bildrechte: AGH Berlin / Peter Thieme.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist Polizeidirektor und Leiter der Führungsgruppe sowie stellv. Leiter der Bereitschaftspolizeidirektion Bruchsal (BW). Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen, u.a. Co-Autor im von Ullrich/von Coelln/Heusch 2021 neu herausgegebenen Handbuch Versammlungsrecht.
  2. Bis 2021 das Gesetz zum Schutz von Gedenkstätten aus dem Jahr 2006 und das Berliner Bannmeilengesetz von 2004.
  3. Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein (VersFG SH), verabschiedet am 21.5.2015.
  4. Niedersächsisches Versammlungsgesetz (NVersG), beschlossen am 5.10.2010.
  5. Vgl. eine ausführliche Aufstellung möglicher Verhaltensweisen bei Krauß, in: Leipziger Kommentar Bd. 5, 12. Aufl. 2009, § 125 Rn. 34; Renzikowski, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 125 StGB Rn. 17 f.; sofern lediglich Erdklumpen, Konfetti, Eier, Tomaten, Pudding o.ä. Gegenstände geworfen werden, ist die Annahme einer Gewalttätigkeit jedoch strittig; bejahend OLG Köln, Urt. v. 12.11.1996 – Ss 491/96, NStZ-RR 1997, 234 (235); a.A. Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 125 Rn. 6.
  6. Grobe Störung ist damit eine Beeinträchtigung des Ablaufs einer Versammlung, die so schwerwiegend ist, dass bei ihrem Fortdauern keine andere Möglichkeit besteht, als die Versammlung zu unterbrechen oder aufzulösen. (Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, VersammlG § 21 Rn. 23, beck-online).
  7. So auch Prof. Dr. Norbert Ullrich, Prof. für Öffentliches Recht, HSPV NRW, Abt. Duisburg.
  8. § 26 Abs. 2 Nr. 4 VersFG BE.
  9. Tiedemann in BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 51. Edition, Stand: 1.4.2021, Rn. 1-8.1.
  10. Gegenmeinung dazu Prof. Hartmut Brenneisen und Michael Wilksen, Preetz/Husberg, in Die Kriminalpolizei, 4/2018.
  11. Vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1BvR 233, 341/81, BeckRS 1985, 108894.
  12. Vgl. dazu § 258a StGB (Strafvereitelung).