Wirtschaftskriminalität durch entgleiste Führungskräfte

Analysen zu Derailment und Managerversagen

Von Prof. Dr. Herbert Csef, Würzburg1

 

1 Wirtschaftsskandale durch kriminelle Führungskräfte im letzten Jahrzehnt

 

Im vergangenen Jahrzehnt wurden sehr bekannte Persönlichkeiten Deutschlands zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ihr Delikt: Betrug, Untreue oder Steuerhinterziehung. Die Rede ist von Thomas Middelhoff, Heinrich-Maria Schulte, Helge Achenbach und Uli Hoeneß. Alle vier waren über Jahrzehnte lang sehr erfolgreiche und angesehene Persönlichkeiten, die gerade wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. Aktuell (Juli 2020) finden sich in den deutschen Medien fast täglich neue Berichte über die Wirecard-Affäre. Nach der kriminellen Energie der beteiligten Akteure und der exorbitanten Höhe des verursachten Schadens dürfte dies der größte Wirtschaftskrimi der Nachkriegszeit Deutschlands werden. Hier laufen jedoch noch die Ermittlungen und erst das Gerichtsverfahren wird Licht in das Dunkel bringen.

 

2 Thomas Middelhoff – vom Starmanager zum Wirtschaftskriminellen2

 

Thomas Middelhoff galt lange Zeit als Vorzeige-Manager und war das Paradebeispiel für den Aufschwung der New Economy. Bereits mit 33 Jahren wurde er Manager und schließlich von 1998 bis 2002 Vorstandsvorsitzender in dem einflussreichen Medienkonzern Bertelsmann AG. Durch geschickte Schachzüge wie den äußerst lukrativen Verkauf von AOL brachte er seinem Konzern große Gewinne und sich selbst ein hohes Ansehen. Von 2005 bis 2009 war der Vorsitzender im Dax-Konzern Arcandor, dem Nachfolger der Karstadt-Quelle-Gruppe. Der Insolvenz dieses Konzerns folgte der Abstieg von Thomas Middelhoff. Der finale Absturz wurde dadurch eingeläutet, dass am Landgericht Essen ein Gerichtsverfahren gegen Thomas Middelhoff eingeleitet wurde. Am 14.11.2014 wurde er wegen Untreue in 27 Fällen und Steuerhinterziehung in 3 Fällen zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen Fluchtgefahr wurde er sofort nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal verhaftet.

 

3 Heinrich Maria Schulte – Medizinprofessor und Bankbesitzer wird der größte Betrüger der Nachkriegszeit

 

Heinrich Maria Schulte stammt aus einer angesehenen Arztfamilie. Wie seine Vorfahren wurde er auch Arzt und machte schnell Karriere. Er war Professor für Innere Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Auf der Höhe seines ärztlichen und wissenschaftlichen Ruhms gründete er gemeinsam mit dem Nobelpreisträger Manfred Eigen die Biotech-Firma Evotec. Diese entwickelte sich sehr erfolgreich, und der Börsengang brachte ihm ein Millionen-Vermögen ein. Im Jahre 2006 kaufte Schulte die Wölbern-Bank. Mit dieser gab er eigene Investment-Fonds heraus. Durch geschickte Betrügereien und Täuschungsmanöver zog er aus diesen Fonds Gelder ab, die er für privaten Luxus verwendete. Er kaufte Villen, Yachten, Gemälde – alles, was teuer ist und Statussymbol-Charakter hat. Als der Schwindel aufflog, entpuppte sich Heinrich Maria Schulte als der größte Betrüger der Nachkriegszeit Deutschlands. Im Gerichtsverfahren am Hamburger Landgericht wurde er im Jahre 2013 wegen 327 Betrugsfällen in einer Gesamthöhe von 147,3 Millionen Euro zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Dies ist die höchste Gefängnisstrafe, die je in einem deutschen Wirtschaftsstrafprozess gefällt wurde.

 

4 Der Kunsthändler Helge Achenbach – der „Aldi-Betrüger“

 

Helge Achenbach hat an der Universität Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und interessanterweise anschließend ein einjähriges Praktikum in der Justizvollzugsanstalt Siegburg absolviert. Er kannte also das Gefängnisleben von innen und ist 43 Jahre später wieder Gefängnisinsasse geworden – allerdings als Häftling, der zwei Drittel seiner sechsjährigen Haftstrafe absitzen musste. Mit 26 Jahren gründete er eine Firma für Kunstberatung und Kunsthandel, die er „Achenbach-Art-Consulting“ nannte. Er gründete Filialen in anderen deutschen Städten und eröffnete 1992 in Kaiserswerth seine Firmenzentrale, die immerhin zweitausend Quadratmeter Bürofläche hatte. Nach eigenen Angaben hat er 2.500 Kunst-Transaktionen vermittelt mit einem Gesamtwert von 750 Millionen Euro. Der heutige Schätzwert dieser Kunstwerke soll bei etwa drei Milliarden Euro liegen. Helge Achenbach ging als „Aldi-Betrüger“ in die Geschichte ein. Dem Sohn des Aldi-Nord-Gründers Theo Albrecht – Berthold Albrecht – hat Achenbach Kunstwerke und Oldtimer im Wert von 120 Millionen Euro verkauft. Nach dem Tod von Berthold Albrecht hat dessen Witwe Babette Albrecht Klage wegen Betrug gegen Achenbach erhoben. Im Juni 2014 kam Achenbach in Untersuchungshaft und wurde im Dezember desselben Jahres wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Untreue zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt. An die Erben von Berthold Albrecht musste er 19,4 Millionen Euro Schadensersatz bezahlen.

 

5 Uli Hoeneß – vom FC Bayern-Präsidenten zum Steuerhinterzieher

 

Uli Hoeneß war von 1967 bis 1979 bekannter Profi-Fußballspieler. Etwa zehn Jahre spielte er als Profi beim FC Bayern München. Er war Mitglied der deutschen Nationalmannschaft und wurde mit dieser 1972 Europa- und 1974 Weltmeister. Mit 27 Jahren musste er seine Fußballer-Karriere verletzungsbedingt beenden. Von 1972 bis 2019 war er Manager des FC Bayern München und von 2009 bis 2019 dessen Präsident. Die Präsidentschaft wurde unterbrochen durch einen Gefängnisaufenthalt. Am 20.3.2013 wurde er verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro wurde er wieder freigelassen. Am 13.3.2014 verurteilte ihn das Landgericht München wegen Steuerhinterziehung in 7 Fällen (in den Jahren 2003 bis 2009) in Höhe von 28,5 Millionen Euro zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Uli Hoeneß verbrachte 7 Monate in der JVA Landsberg und anschließend 13 Monate im offenen Vollzug. Über Uli Hoeneß wurden im deutschen Fernsehen drei Fernsehporträts ausgestrahlt und ein Theaterstück geschrieben. Mittlerweile liegen acht Bücher über Uli Hoeneß vor.

 

6 Markus Braun und Jan Marsalek (Ex-Wirecard-Vorstände) – vermutlich die Haupttäter im größten Wirtschaftskrimi der BRD

 

Jeder, der sich professionell oder aus Interesse mit Wirtschaftskriminalität beschäftigt, wird zwangsläufig gespannt die aktuelle Wirecard-Affäre verfolgen. Bislang (Stand Juli 2020) ist nur die Spitze des Eisbergs sichtbar. Die Ermittlungen dürften noch lange dauern, da Wirecard ein sehr komplexer Konzern mit vielen Tochterfirmen auf allen fünf Kontinenten ist. Die Wirecard-AG wurde 1999 gegründet und hat ihren Firmensitz in Aschheim bei München. Der Konzern gehört zur Branche der Zahlungsdienstleister. Die Produktpalette besteht überwiegend aus Dienstleistungen in den Bereichen Mobiles Bezahlen, E-Commerce, Finanztechnologie und Mehrwert-Dienste. Die Wirecard-AG kooperierte mit fast dreihunderttausend anderen Unternehmen, mit großen Konzernen wie BASF, Telefonica, Aldi, Ikea oder KLM. Auch Kreditkarten-Konzerne wie Visa, Mastercard oder American Express waren Geschäftspartner. Im September 2018 hatte die Wirecard-AG einen Börsenwert von 24,4 Milliarden Euro.3 Heute befindet sich die Firma in Insolvenz, ist zahlungsunfähig und weitgehend wertlos. Der Wirtschaftsprüfer-Experte Hansrudi Lenz, Ordinarius für Wirtschaftsprüfung an der Universität Würzburg, kommentierte die Lage wie folgt:4„Das Geld ist weg. Die Aktie ist wertlos.“ Der Ex-Vorstandsvorsitzende Hans Markus Braun, der frühere Finanzvorstand und der Chef der Buchhaltung befinden sich derzeit in Untersuchungshaft.5 Einer der mutmaßlichen Haupttäter – der Vertriebsvorstand Jan Marsalek, wird per internationalem Haftbefehl gesucht und hat vermutlich in Russland Unterschlupf gefunden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Betrug, Bilanzfälschung und „gewerbsmäßigem Bandenbetrug“. Durch vorgetäuschte Gewinne und Bilanzfälschungen haben die verantwortlichen Akteure bei der Wirecard-AG Bankenkredite in Höhe von rund 3,2 Milliarden erschwindelt. Im September 2018 ist die Wirecard-AG in den Dax aufgestiegen und zählte dann bezüglich Marktkapitalisierung (Börsenwert) zu den dreißig größten deutschen Unternehmen. Die Wirecard-AG verdrängte die Commerzbank-AG, die wegen eines gesunkenen Börsenwertes aus dem DAX ausscheiden musste. Mittlerweile ist bekannt, dass die Bilanzfälschungen bereits im Jahr 2015 begannen, also drei Jahre bevor die Wirecard-AG in die deutsche Börsen-Oberliga aufstieg. In den Medien wurde Wirecard oft als Fintech – Vorzeigekonzern gefeiert, wobei Fintech für Finanztechnologie steht. Eine dubiose Firma mit einem neuen und schwer durchschaubaren Geschäftsmodell hat also eine ehemalige Großbank wie die Commerzbank im Dax ersetzt. Gelungen ist dies durch Bilanzfälschungen und Betrug. Auf dem Höhepunkt ihres „Erfolges“ hatte die Wirecard-AG weltweit fast sechstausend Mitarbeiter. Die Hauptgeschädigten sind vermutlich die Banken, die ihre Kredite nicht zurückbezahlt bekommen, die Aktionäre, die viel Geld verloren haben und letztlich die Mitarbeiter, die arbeitslos werden.6

 

7 Wirtschaftskriminalität als Derailment – entgleiste Führungskräfte

 

In der Wirtschaftspsychologie wird oft der Fachbegriff „Derailment“ für Managerversagen oder für die Entwicklung zum Wirtschaftskriminellen verwendet. Dieser Begriff stammt aus der Welt der Eisenbahn und beschreibt die Entgleisung: „Der Zug springt aus den Gleisen und es kommt zu einem Unglück oder einer Katastrophe.“ Ähnlich ist es bei „entgleisten Führungskräften“. Die Wirtschaftspsychologie und die Kriminologie interessiert sich dafür, was zur Entgleisung führt. Denn Thomas Middelhoff, Heinrich Maria Schulte, Helge Achenbach, Uli Hoeneß und Markus Braun zeigten ja jahrzehntelang deutlich prosoziales Verhalten, waren als Manager erfolgreich, wurden bewundert und bekamen Auszeichnungen. Wodurch wurden sie kriminell? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es verschiedene Zugänge:

  • Die wissenschaftliche Derailment-Forschung aus dem Fachgebiet der Wirtschaftspsychologie
  • Kriminologische Forschungen.
  • Selbstdarstellungen von Wirtschaftskriminellen in Autobiographien

Bemerkenswert ist ja, dass im Vergleich zu anderen Delikten oder Straftaten die genannten entgleisten Führungskräfte keinerlei Vorstrafen haben. Bei anderen Straftätern, z.B. bei Gewaltdelikten, Diebstahl oder Einbruch, findet sich bei den Tätern oft schon ein Beginn der kriminellen Laufbahn im Jugendalter. Die Straftäter stehen wiederholt wegen ähnlichen Delikten vor dem Richter und werden verurteilt. Die Straftaten werden im Verlauf der Jahre immer schwerer und die verhängten Strafen werden höher. Aus Geldstrafen werden Bewährungsstrafen und aus diesen schließlich Gefängnisstrafen. Das ist oft der traurige Verlauf von „Kriminellen Karrieren“. Dies ist bei den hier dargestellten entgleisten Führungskräften gerade nicht der Fall. Die Jahrzehntelang erfolgreichen Manager standen im Fokus der Öffentlichkeit, waren angesehen und bewundert und sind dann doch „entgleist“. Bei den meisten hier geschilderten Führungskräften erfolgten die Straftaten nach dem 50. Lebensjahr. Was waren die Motive und inneren Antriebe für diese Entgleisungen?

 

8 Die „dunkle Triade“ als persönlichkeits-psychologisches Erklärungsmodell

 

Die „dunkle Triade“ ist ein psychologisches Persönlichkeitskonstrukt, das auf die kanadischen Psychologen Delroy Paulhus und Kevin Williams von der University of British Columbia in Vancouver zurückgeht.7 Die „dunkle Triade“ ist die meist recht gefährliche Kombination von Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. In moderaten Ausprägungsgraden kann diese Triade durchaus positive Effekte haben. Je stärker jedoch Egoismus, Selbstgerechtigkeit, emotionale Kälte, Empathiemangel, Aggressivität, Impulsivität und Risikofreude (sensation seeking) hinzukommen, desto gefährlicher wird sie. Die Leidtragenden sind dann das private Umfeld, die persönlichen Beziehungen, die Mitarbeiter im Berufsfeld und das Unternehmen als Ganzes.

Narzissmus ist meist mit einer grandiosen Selbstsicht und einem Streben nach Bewunderung verbunden. Die Merkmalsausprägung „Machiavellismus“ steht meist für ein sehr forciertes Machtstreben. Entsprechend sind solche Führungskräfte sehr autoritär, dominant und autokratisch. Sie gewinnen dann mit zunehmender Macht immer mehr die Züge von Tyrannen und Despoten. Nicht minder gefährlich ist die Merkmalsausprägung „Psychopathie“, die vor allem oft mit antisozialem Verhalten und Kriminalität assoziiert ist.

Die oben dargestellten eindrucksvollen Beispiele von Thomas Middelhoff, Heinrich Maria Schulte, Helge Achenbach und Uli Hoeneß verdeutlichen, wie relevant und aktuell dieses Thema ist. Führungskräfte mit starken Tendenzen der „dunklen Triade“ sind stark verbreitet. Dies hängt damit zusammen, dass Menschen mit diesen Persönlichkeitszügen bevorzugt in Führungspositionen gelangen und auch im Aufstieg auf der Karriereleiter oft bevorzugt werden. Bei Personalentscheidungen wie der Vergabe von Führungspositionen oder Beförderungen werden oft die positiven Seiten der dunklen Triade in den Vordergrund gestellt: selbstbewusstes Auftreten, Durchsetzungsfähigkeit, hohe Entscheidungskraft, charmantes Auftreten oder Charisma bis hin zu einer gewissen Furchtlosigkeit und Risikofreude. Die negativen Aspekte werden dann oft ausgeblendet und erst dann deutlicher wahrgenommen, wenn diese Führungskraft entgleist. Nur ein geringer Teil der Führungskräfte mit Persönlichkeitszügen der „dunklen Triade“ entgleist so stark, dass sie angeklagt werden, vor dem Richter stehen und möglicherweise zu einer Haftstrafe verurteilt werden wie die oben dargestellten Protagonisten des kriminellen Derailments (Middelhoff, Schulte, Achenbach, Hoeneß). Die nichtkriminellen Führungskräfte mit diesen Persönlichkeitszügen richten jedoch ebenfalls viel Schaden an und erzeugen viel Leid. Vor allem die Beziehungspartner im privaten Leben und die Mitarbeiter im Beruf haben unter ihren Verhaltensweisen zu leiden. Und per se sind diese Führungskräfte meist mit viel Macht ausgestattet, so dass ihre Opfer kündigen oder krank werden, während die destruktiven Führungskräfte fest im Sattel sitzen bleiben. Im Arbeitsleben wird dieses Problem zunehmend erkannt und diskutiert. Dies zeigt sich darin, dass alleine im wissenschaftlichen Springer-Verlag in den letzten Jahren drei Bücher zu diesem Thema erschienen: „Dark Leadership“ von Marco Furtner8, „Coaching und Narzissmus“ von Christoph Schneck9 sowie „Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie in Organisationen“ von Kai Extembrink und Moritz Keil10.

 

9 Narzissmus

 

Die Narzissmus-Komponente steht meistens für Bewunderung und Selbstüberhöhung bis zur Grandiosität oder Größenwahn. Narzissten können sich gut präsentieren und wirken charismatisch. Sie setzen ihre Kompetenzen geschickt ein, sind gute Selbstdarsteller und „verkaufen sich gut“. Narzissten folgen dem Motto: „Die anderen sind dazu da, um mich zu bewundern.“

 

10 Machiavellismus

 

Die Machiavellismus-Komponente steht für Machtbesessenheit und skrupellosem Egoismus. Machiavellisten sind sehr realistisch, haben wenig Empathie und sind emotional distanziert. Sie verfolgen rücksichtslos ihre Ziele und versuchen, andere für ihre eigenen Ziele einzuspannen und auszunutzen. Sie folgen dem Grundsatz: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Der Zweck, den sie verfolgen, ist jedoch selten auf Gemeinsamkeit, Solidarität und Kooperation hin orientiert, sondern es geht ihnen immer um die eigenen egoistischen Ziele.

 

11 Psychopathie

 

Die psychopathische Komponente zeichnet sich durch rücksichtslose, asoziale und oft kriminelle Verhaltensmuster aus. Psychopathen haben meist eine recht geringe Angst vor Konsequenzen oder Strafen, sind kaltblütig und berechnend, haben eine hohe Impulsivität, eine geringe Empathie sowie eine hohe Risikofreude (sensation seeking) und Aggressionsbereitschaft. Unter den Merkmalsausprägungen der „dunklen Triade“ erscheint hinsichtlich krimineller Entgleisung die Narzissmuskomponente noch am verträglichsten. Machiavellismus und Psychopathie hingegen prädestinieren zu einer kriminellen Entgleisung. Bei Forschern über die dunkle Triade werden deshalb diese beiden Komponenten als die „maliziösen Zwei“ genannt.

 

12 Dark Leadership

 

Mit dem Konzept der „dunklen Triade“ erfolgt meist die Fokussierung auf die Führungskraft, die diese Persönlichkeitsmerkmale zeigt. In der Praxis der Wirtschaftspsychologie, z.B. in der Personalentwicklung, Organisationsberatung, Coaching und Supervision interessiert besonders die Wechselwirkung zwischen der „dunklen Führungskraft“ und dem Unternehmen. Die Fähigkeit zum Entgleisen oder das Risiko des Abgleitens in die Kriminalität hängt stark von den Umgebungsbedingungen und der Unternehmenskultur ab.11 Es gibt Unternehmen mit starken und effizienten Kontrollsystemen oder mit wirksamer externer Beratung. Andere Unternehmen vermeiden oder verhindern jedoch diese Sicherungsinstrumente. Im Wirecard-Skandal besteht gegenwärtig der Verdacht, dass sich in der Führungsriege, insbesondere bei den Vorstandsmitgliedern eine Art „Bandenkartell“ verbündet hat. Sie haben sich eng eingeschworen, gemeinsam die kriminellen Handlungen (z.B. Bilanzfälschungen) durchzuführen und wechselseitig nach außen geheimzuhalten. Dies erfolgte unter dem Motto „Solange alle Mitwisser dichthalten, dringt nichts nach außen.“ Wirtschaftspsychologen, die besonders die Wechselwirkungen der Führungskräfte mit dem Gesamtunternehmen im Blick haben, sprechen von „Dark Leadership“. Hier ist quasi das Konzept der „dunklen Triade“ die Basis für ein Konzept von Leadership. Der Psychologie-Ordinarius Marco Furtner von der Universität Innsbruck spricht in seiner Monographie deshalb von „narzisstischer Führung“, „machiavellistischer Führung“ oder „psychopathische Führung“.12 Die „dunkle Triade“ ist hier also Basis für die genannten markanten Führungsstile. In der Arbeit von Sandra Julia Schiemann und Eva Jonas13 werden vor allem die negativen Folgen für das Unternehmen durch „Dark Leadership“ analysiert.

 

13 Der D-Faktor

 

Der erfolgreiche britische Psychopathie-Forscher Kevin Dutton hat in einer sehr originellen Arbeit nachgewiesen, dass die Merkmale der „dunklen Triade“ nicht nur bei Führungskräften, sondern in verschiedenen Lebensbereichen auftauchen und dabei erhebliche Gemeinsamkeiten bestehen. Insofern postulierte er einen „dunklen Kern“, den alle mehr oder wenige gemeinsam haben. In der deutschen Übersetzung seines Werkes finden wir den saloppen Titel „Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann.“14 Dutton vertritt darin die These, dass bei Bischöfen, Rechtsanwälten und Serienmördern der „dunkle Faktor“ in ähnlicher Ausprägung auftritt. Dieser „dunkle Kern“ steht für das Böse schlechthin und ist in der Folgezeit als „D-Faktor“ in die Forschung eingegangen.15

 

14 Kriminologische Aspekte

 

Mit der gewagten und provokanten Hypothese von Kevin Dutton erfolgt ein Brückenschlag von der Wirtschaftskriminalität zu den Gewaltdelikten. Die Wissenschaftssprache und der theoretische Kontext sind in der Kriminologie und der Forensischen Psychiatrie anders als in der Forschung über Führungskräfte (gerade in jüngster Zeit wurden zahlreiche Massenmörder vor Gericht verurteilt und die zuständigen Gutachter haben bei den Tätern eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert). Dies war bei dem Krankenpfleger Niels Högel der Fall,16 der fast zweihundert Patienten ermordet hat. Dem norwegischen Massenmörder Anders Breiwik wurde ebenfalls eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert.17 Wenn Kevin Dutton Gemeinsamkeiten zwischen Klerikern, Rechtsanwälten und Massenmördern sieht, dann mag dies unter den Rechtsanwälten bevorzugt für Strafverteidiger gelten. Diese haben ja das Ziel, den angeklagten Mörder zu entlasten. Nicht wenige erfolgreiche Strafverteidiger rühmen sich damit, dass sie in spektakulären Prozessen schwere Jungs mit erheblichen Straftaten vor einer Strafe „gerettet“ oder bewahrt haben. Dadurch entsteht eine gewisse Solidarisierung mit dem „Bösen“. Die Waage von Justitia deutet ja grundlegend an, dass der Staatsanwalt für Durchsetzung des Rechts und die Bestrafung zuständig ist und der Verteidiger dem Angeklagten beisteht. Der Vergleich mit hohen Vertretern der Kirchen und Straffälligen (Heilige versus Psychopathen) ist insofern aktuell, als in den letzten zehn Jahren zahlreiche Priester, Bischöfe und Kardinäle wegen schwersten Sexualdelikten angeklagt wurden. Die Ausprägungen der „dunklen Triade“ in verschiedensten Lebensbereichen ist insofern sehr aktuell, verbreitet und diskussionswürdig.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Zentrum Innere Medizin der Medizinischen Klinik und Poliklinik II in Würzburg. Korrespondenzadresse: Csef_H@ukw.de.
  2. Csef, Herbert (2020): Thomas Middelhoff – Psychogramm eines gescheiterten Narzissten. Organisationsberatung, Supervision, Coaching 27, S. 239-249.
  3. Peitsmeier, Henning (2018): Der Aufstieg des geheimnisvollen Zahlungsabwicklers. Wirecard-Chef. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.9.2018.
  4. Kleinhenz, Angelika (2020) „Das Geld ist weg. Die Aktie ist wertlos.“ Bilanzskandal bei Wirecard. Mainpost vom 11.7.2020.
  5. Rasch, Michael (2020): Aufstieg und Fall des Markus Braun – über einen Mann, der das Rampenlicht angeblich scheute. Neue Zürcher Zeitung vom 23.6.2020.
  6. Malcher, Ingo (2020): Ausgetrickst. Der Skandal um Wirecard hätte verhindert werden können. Doch die Aufseher ignorierten seit Jahren Kritik am Konzern. Die Zeit vom 25.6.2020.
  7. Paulhus, Delroy L. & Williams, Kevin M. (2002): The Dark Triad of personality: Narcissism, Machiavellianism, and psychopathy. Journal of Research in Personality, 36, 556-563.
  8. Furtner, Marco (2017): Dark Leadership – Narzisstische, machiavellistische und psychopathische Führung. Springer Wiesbaden.
  9. Schneck, Christof (2018): Coaching und Narzissmus. Psychologische Grundlagen und Praxishinweise für Management-Coaches und Berater. Springer Wiesbaden.
  10. Externbrink, Kai; Keil, Moritz (2018): Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie in Organisationen. Theorien, Methoden und Befunde zur dunklen Triade. Springer Wiesbaden.
  11. Csef, Herbert (2016): Narzissmus und Derailment – wenn Führungskräfte entgleisen. Organisationsberatung, Supervision, Coaching 23 (1), S. 163-171.
  12. Furtner, Marco, a.a.O. (EN 8).
  13. Schiemann, Julia; Jonas, Eva (2020): Streben nach Macht fern von Ethik: Die „dunkle Triade“ bei Führungskräften und die Folgen für Organisationen. Organisationsberatung, Supervision, Coaching 27, S. 251-263.
  14. Dutton, Kevin (2013): Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. Dtv München.
  15. Moshagen, Morten, Hilbig, Benjamin E. & Zettler, Ingo. (2018): The dark core of personality. Psychological Review, 125 (5), 656-688.
  16. Csef, Herbert (2016): Narzisstisch motivierte Patientenmorde. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Ausgabe 2/2016, S. 1-9.
  17. Csef, Herbert (2016): Pathologischer Narzissmus und Destruktivität. Gewaltexzesse in der Gegenwart. Nervenheilkunde 35, S. 858-863.