Kinderschutz: Gute Anfänge sind gemacht, aber es gibt noch viel zu tun

Von PD a.D. Rainer Becker, Berlin

 

Für eine Politikerin der heutigen Zeit kam es dann doch und auf einmal erfreulich überraschend. Aus Berlin berichtete die dts-Nachrichtenagentur: „Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) entschuldigt sich für die Debatte um härtere Strafen für sexuelle Gewalt gegen Kinder bei den Betroffenen.“„Das tut mir leid“, sagte sie dem Magazin Cicero. „Ärgerlich“ sei nicht die Kritik an ihr gewesen, „sondern, dass dadurch Menschen verletzt wurden, die solche Verbrechen erlebt haben und den Eindruck hatten, ich sehe da keinen Handlungsbedarf“. Dies sei nicht der Fall gewesen. Das habe sie betroffen gemacht. Lambrecht hatte nach den Missbrauchsfällen von Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster nicht sofort in die Rufe nach härteren Strafen eingestimmt, sprach sich aber schließlich auch für strengere gesetzliche Maßnahmen aus. Als Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe hatte ich zwischenzeitlich ihren Rücktritt gefordert, sie in einem öffentlichen Statement als „nicht mehr tragbar“ bezeichnet und die Frage gestellt, ob die Justizministerin in einem „Elfenbeinturm“ lebe, unfähig „auch nur einen Hauch von Empathie für die Betroffenen zu entwickeln“.


Über ihre eigenen Erfahrungen in der Debatte sagte die SPD-Politikerin: „Was mich persönlich angefasst hat, war, dass Menschen unter dem Deckmantel des Kinderschutzes mir wünschten, dass meinem Sohn so etwas passieren solle. Wie widerlich ist das denn?“ Sie habe in einer aufgeheizten Situation deutlich machen wollen, dass Kindesmissbrauch und Kinderpornografie nicht alleine mit höheren Strafen und Strafrahmen verhindert und bekämpft werden könnten. Dazu, dass nach der Diskussion hängen bleibt, sie sei eingeknickt, sagte Lambrecht: „Damit kann ich leben.“ Nicht hängen bleiben soll: „Die will das nicht.“2


Unsere Bundesjustizministerin hatte sich geirrt und die Lage falsch eingeschätzt Dies hat sie nun korrigiert, und der Verfasser unterstellt zu ihren Gunsten, dass ihre Entschuldigung aufrichtig gemeint und nicht aus politischem Kalkül erfolgt ist. Und er hat sogar Verständnis für ihr langes Zögern, denn aus eigener Erfahrung weiß er, dass es umso schwerer fällt, einen Irrtum oder sogar Fehler einzugestehen je höher der Rang ist. Und sich dann auch noch zu entschuldigen, erfordert gerade in der heutigen Zeit doch ein nicht unerhebliches Maß an Mut, den viele nicht mehr besitzen.


Vor etlichen Jahren gab es deutlich mehr Entschuldigungen oder sogar Rücktritte, wenn ein Politiker sich einmal geirrt hatte oder ein Fehlverhalten von ihm öffentlich geworden war. Heute hingegen wird sehr viel länger und nicht selten sogar erfolgreich „ausgesessen“. Es bedarf schon eines massiven Drucks der Medien und insbesondere auch der sozialen Medien, ehe sich ein Politiker einmal genötigt sieht, sich zu entschuldigen oder gar sein Amt zur Verfügung zu stellen. Dies wissen diejenigen, die sich in diese Ämter wählen lassen, allerdings auch bereits vorher, und das müssen sie dann auch aushalten.


Am 7. September 2020 erklärte Christine Lambrecht, dass sie in 2021 nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren wird.3 Dabei erstreckte sich ihre Aussage allerdings ausschließlich auf eine Bundestagskandidatur. Mögliche neue Koalitionskonstellationen und Personalien von Ministern ab 2021 bleiben dabei abzuwarten.


Nicht aushalten müssen gewählte Politiker und andere Amtsträger und dem Grunde nach niemand, dass sie oder gar ihre Kinder meist in Form sog. Shitstorms persönlich beleidigt oder gar bedroht werden. Dies ist unerträglich und in keiner Weise hinnehmbar. Wie will jemand, der vorgibt sich für den besseren Schutz unserer Kinder einzusetzen, auch seinen eigenen Kindern gegenüber rechtfertigen, dass er selber Gewalt ausübt? Denn auch Beleidigungen und Bedrohungen sind nichts anderes als Gewalt. Am Anfang war das Wort, und dann folgen leider von einigen noch Verwirrteren die ersten Taten, wie uns die zurückliegenden Bedrohungen und Anschläge sogar gegen Kommunalpolitiker gezeigt haben, und wer soll da noch bereit sein, Politiker zu werden und sein Amt nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben?


Angehörige von Polizei und Justiz werden, wenn sie nur ihre Arbeit machen, heute nicht selten darauf angesprochen, dass man wisse, welche Schule ihre Kinder besuchen. Eine Drohung im juristischen Sinne? Eine weitere schwere Aufgabe für unsere Bundesjustizministerin, die noch nicht angegangen worden ist.


Bei Gewalt im klassischen Sinne oder einer konkreten Drohung mit einer bestimmten Gewalthandlung sehen sich Gerichte wenigstens teilweise in der Lage, diese zu beweisen und zu verurteilen. Aber wie ist es mit den vielen Fällen psychischer Gewalt, und dabei beschränkt sich der Verfasser auf die Fälle, die wir vielleicht überhaupt noch wahrzunehmen in der Lage sind. Schon in Zeiten professioneller werdender Schutzgelderpressungen wurden kaum noch offene Drohungen ausgesprochen. Da wurden Kinder dann von den Schutzgelderpressern vor der Schule angesprochen und zu ihren Eltern nach Hause gebracht, da wurden Lebensmittel oder Genussmittel zu überhöhten Preisen von real existierenden Firmen angeboten, Vereinsmitgliedsbeiträge für Heimatschutzorganisationen und … und … und … erhoben. Dem Grunde nach alles psychische Gewalt gegenüber den Betroffenen, bei der die Drohung aber nur oder nicht einmal angedeutet wurde. Und ist es Gewalt, einem Kind, das keine Lust zum „Kuscheln“ mit seinem Stiefvater hat, zu erklären, dass leider sein Lieblingstier geschlachtet werden muss, damit die Familie am Wochenende etwas zu essen hat? Oder dass der geliebte Stoffteddy schon so alt und unansehnlich war, dass er weggeworfen werden musste? Ist es Gewalt, einem Kind vorzuhalten, dass es zu fett und hässlich sei, es auszugrenzen? Ließe sich eine Kausalität im juristischen Sinne beweisen, wenn ein etwas sensibleres Kind irgendwann deswegen den Freitod suchen würde?


Wir haben in Deutschland ein ganz erhebliches und zunehmendes Problem mit Gewalt. Und wir haben dies jahrelang verdrängt und viel zu lange, gerade was psychische Gewalt anging, weggesehen. Vielleicht ist dies auch der Grund, dass auf diesem juristisch besonders schwierigen Feld noch so wenig valide Forschungsergebnisse vorliegen und dass so wenig dazu geforscht wird. Den Leserinnen und Lesern dieses Beitrages wird empfohlen zu recherchieren, wie viele oder besser wie wenige Forscher sich mit dem Thema Suizid befasst haben und befassen, oder mit dem Thema psychische Gewalt. Wir werden ernsthaft darüber nachzudenken haben, was wir zukünftig als Gewalt und hier insbesondere als psychische Gewalt definieren und unter Strafe stellen wollen – oder auch nicht. Und wir haben diese Gewalt, auch die psychische Gewalt, bei ihrem Namen zu nennen und nicht zu bagatellisieren und z.B. nur von einer Misshandlung oder einem Übergriff zu reden. Wir werde ebenso ernsthaft darüber nachzudenken haben, wie bereits Kindern und Jugendlichen so früh und nachhaltig wie möglich zu vermitteln ist, was alles Gewalt ist und dass es Grenzen gibt, die niemand, auch nicht nur „aus Spaß“ überschreiten darf, weil er sonst spätestens als Erwachsener dafür bestraft wird.


Wer jedoch Prävention und Opferschutz immer noch als freiwillige Leistung abtut und bestreitet, dass es sich um eine staatliche Pflichtaufgabe handelt, die natürlich auch Geld und Zeit kostet, hat immer noch nicht verstanden. Wir brauchen bereits in den Tagespflegestellen, Kitas und Schulen verbindliche Schutzkonzepte statt vorgespielten höflichen Interesses und/oder höflicher Ignoranz unter dem Deckmantel von Personalmangel und leeren Kassen. Die Polizei alleine ist hiermit überfordert. Es bedarf mehr – viel mehr.

 

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V. und Polizeidirektor a.D. Er war im Polizeidienst der Länder Hamburg und zuletzt bis 2015 Mecklenburg-Vorpommern an der dortigen Verwaltungsfachhochschule aktiv.
  2. www.hasepost.de/bundesjustizministerin-entschuldigt-sich-bei-missbrauchsopfern-203342/, entnommen am 6.8.2020.
  3. www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wahl-2021-bundesjustizministerin-lambrecht-kandidiert-nicht-mehr-fuer-bundestag/26164594.html, entnommen am 16.9.2020.