Bewältigung der Coronakrise:

Solidarität, Verantwortung und ordnungspolitische Aspekte


Von Dr. Viktoria Schäfer und Dr. Yvonne Zimmermann, Montabaur*

 

Die Coronapandemie stellt eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Wie unter anderem der Deutsche Ethikrat hervorhob, sind zumindest in der jüngeren Geschichte hierzulande keine Erfahrungen mit entsprechenden gesundheitlichen Großrisiken und ihrer Eindämmung bekannt. Dies gelte insbesondere für die rigorosen staatlichen Interventionen, die flächendeckend eingeführt wurden und helfen sollen, einen exponentiellen Anstieg der Zahl von mit dem Coronavirus infizierten und erkrankten Menschen zu unterbinden. Auf diese Weise soll einer Überlastung des Gesundheitssystems, was umgekehrt eine Unterversorgung von schweren Coronafällen bedeuten würde, vorgebeugt werden. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand konnte die Ausbreitung des Coronavirus durch die Interventionen eingeschränkt werden. Im Stand Mai 2020 sind auch Lockerungen des vormaligen „Lockdowns“ in Kraft getreten, wobei allerdings deren Ausmaß durchaus kontrovers diskutiert und teils auch kritisch auf das Risiko einer neuen „Corona-Welle“ hingewiesen wird, die schlimmstenfalls wiederum eine Rücknahme von Lockerungen nach sich ziehen könnte. Tatsächlich zeigt sich nach einer gewissen Entspannung in den Sommermonaten wieder eine Zunahme registrierter Corona-Neuinfektionen (Stand Anfang Oktober 2020). Viele dieser Neuinfektionen sind offenbar auf private Zusammenkünfte und Veranstaltungen zurückzuführen.

 

Unstrittig ist, dass die Interventionen zum Teil gravierende Konsequenzen für die ökonomische und psychosoziale Situation vieler Menschen hatten bzw. nach wie vor haben. Beide Ebenen sind miteinander verquickt. Coronabedingte Verluste des Arbeitsplatzes oder nicht hinreichend kompensierbare wirtschaftliche Einbußen bei Gewerbetreibenden können zu seelischem Druck oder Depressionen führen. Problematisch ist auch die Verringerung sozialer Kontakte im Zuge der angeordneten Eingriffe zur Eindämmung des Coronavirus. Vor allem für psychisch bereits vorbelastete Menschen und viele Alte, die sich oftmals schon vereinsamt fühlen (sog. „vulnerable“ Gruppen), kann soziale Deprivation als regelrechter Negativverstärker für Niedergeschlagenheit, Angstzustände, Apathie und Gefühle der Hilflosigkeit wirken. Aber auch Aggressionen, insbesondere in Form häuslicher Konflikte oder gar Gewalt, wurden als indirekte Folge der Coronakrise beobachtet, worauf unter anderem Daten der Medizinischen Hochschule Hannover hinweisen.


Es ist schwer einzuschätzen, welche mittelbaren (nichtinfektiösen) Gesundheitsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten die Coronakrise bereits bewirkt hat und wie sich das Geschehen weiter entwickeln wird, doch steht nach Auffassung in Fachkreisen fest, dass soziale Einbindung und Aktivität gesundheitlich und psychologisch stabilisieren, weshalb es bei deren Wegfall – wie nun eingetreten – wichtig sei, neue Strukturen aufzubauen. Die Bewältigung der Coronakrise erfordert also ein Krisenmanagement, das über primär infektiologische und medizinische Maßnahmen hinausreicht. Zweifellos ist dabei auch an substanzielle wirtschaftliche, gesellschaftliche und sozialpolitische Neuperspektivierungen zu denken. In einem solchen Zusammenhang sollte – aus normativer Sicht – als Konsequenz der Coronakrise eine stärkere Orientierung auf solidarisches Handeln, und dies nicht nur als kurzlebiges Phänomen, erfolgen. Ob die unlängst von Gesellschaftswissenschaftlern geäußerte Position, wonach sich hier auch eine grundlegende Abkehr von als überzogen „neoliberalistisch“ wahrgenommenen Positionen ergeben wird, sei dahingestellt. Jedenfalls werden sowohl seitens des Staates als auch in kleineren sozialen Einheiten Solidaritätsräume eingefordert und realisiert, die am Coronavirus erkrankten oder hierdurch gefährdeten Menschen zugutekommen (etwa – selbstverständlich unter sorgsamer Beachtung möglicher Ansteckungsrisiken – verstärkte nachbarschaftliche Hilfen, Einkaufsübernahmen für Gebrechliche, Vereinsamte usw.). Zu denken ist ebenso an Unterstützung für wohnungslose Personen, für Arme, die den Gang zu einer „Tafel“ nicht mehr eigenständig bewältigen können, ferner an Hilfen für in ihrem Fortbestehen gefährdete Kultureinrichtungen. Wie Heinz Bude (Universität Kassel) kürzlich in einem Rundfunkinterview feststellte, wird durch die Coronakrise das Verständnis von Solidarität als „etwas, worauf wir alle angewiesen sind“, weiter in den Mittelpunkt eines verantwortungsvollen gesellschaftlichen Handelns gerückt.


Eine solche Orientierung auf Solidarität gehört auch zum Wertekanon genossenschaftlich verfasster Organisationen. Genossenschaften engagieren sich für den Teilhabegedanken und verfolgen, unter Einbindung ihrer Mitglieder, eine demokratische und solidarische Wirtschaftsweise. Wenngleich als „Ideal“ nicht immer erreichbar, so setzen sich Genossenschaften nach ihrem Selbstverständnis neben der Solidarität für Werte und Leitbilder wie Selbsthilfe, Gerechtigkeit und den Fördergedanken – für ihre Mitglieder, aber weiter gefasst ebenso für die Region und gemeinwohldienliche Zwecke – ein. Selbstverständlich wird auch in Genossenschaften angesichts der Gefahrenlage durch den Coronavirus intensiv auf Schutzmaßnahmen im Rahmen der erforderlichen Eindämmungsstrategie hingewirkt. Die Prophylaxe und der Schutz von Genossenschaftsmitarbeitern, -mitgliedern und auch -kunden sind oberstes Gebot. Darüber hinaus können Genossenschaften aufgrund ihres Werteverständnisses und ihrer unmittelbaren Verbindung zu den Mitgliedern respektive Miteigentümern sowie zur Region an die Motivation appellieren, sich beispielsweise in nachbarschaftlicher (risikominimierter, s.o.) Unterstützung zu engagieren.


In einem solchen Kontext ist auch der Zusammenschluss von Bürgern in Sozialgenossenschaften zu erwähnen, von denen mittlerweile in Deutschland nach jüngeren Daten mehr als 300 bestehen. Bei dieser genossenschaftlichen Organisationsform übernehmen Bürger im Rahmen von Selbsthilfe soziale Aufgaben, die ein einzelner aufgrund von Investitions- und Administrationskosten nicht stemmen könnte („Was einer allein nicht schafft, schaffen viele“ – ein Leitspruch von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einem der Gründungsväter der Genossenschaftsbewegung in Deutschland). Diese Genossenschaften haben sich im Rahmen der Coronakrise bewährt, wie unter anderem das Beispiel der oberschwäbischen Bürger Sozial Genossenschaft Biberach eG zeigt, über das in der Presse kürzlich berichtet wurde. Genossenschaftliche Organisationen und Verbände nehmen in Zeiten der Krise ebenso eine ausdrücklich gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Verantwortung wahr. So wird die politische Forderung, im Zuge der Corona-Interventionen massiv beeinträchtigte Unternehmen zu begleiten und sie mit dem notwendigen Kapital zu versorgen, voll und ganz mitgetragen.

 



Die Coronakrise stellt die Gesellschaft auf eine harte Probe – sowohl auf individueller als auch kollektiver und wirtschaftlicher Ebene. Eine Antwort auf die einschneidenden Anforderungen besteht in Solidarität, also Hilfen, bei denen nicht der eigene Vorteil und eine „Aufwand-Nutzen-Kalkulation“ im Mittelpunkt stehen, und in mehr gegenseitiger Achtsamkeit. Bei all dem sollten aber auch die kritischen Stimmen genügend Gehör finden. So wies etwa Wilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld) darauf hin, dass in der gegenwärtigen Coronaphase bei Solidaritätsappellen einiges an „Gesellschaftsromantik“ mitschwinge. Eine weitreichende, positive Neuentwicklung der gesamten Gesellschaft anzunehmen, sei aber problematisch, wenn nicht sogar naiv. Vielmehr dürfte unter der gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Fokus sich wieder auf Nützlichkeits-, Verwertbarkeits- und Effizienzkriterien richten. Solidarische Werte und normative Orientierungen rücken hingegen wieder aus dem Blickfeld. Ein derartiges Risiko besteht zweifellos. Auch im Genossenschaftsbereich ist es nach wissenschaftlichen Studien in einigen Fällen leider so, dass genossenschaftliche Leitbilder eher nominell auftauchen, aber inhaltlich nicht wirklich gelebt werden und damit eine ökonomische Nutzenorientierung wie in privatwirtschaftlichen Unternehmen überwiegt. Ob gleichsam pessimistische Zukunftserwartungen angemessen sind, erscheint mithin fraglich. Im Genossenschaftsbereich wird jedenfalls eine Revitalisierung des Wertekanons, der wesentlich auch solidarisches Verhalten beinhaltet, intensiv diskutiert. Letztlich ist aber die Erkenntnis entscheidend, dass ein entsprechendes Wertebewusstsein nicht vorgegeben oder gar hierarchisch „verordnet“ werden kann, sondern eigenständig – namentlich bei Genossenschaften auch dezentral – zu entwickeln und zu hinterfragen ist.


Ein Bewusstseinswandel im Zuge der Bewältigung der Coronakrise in Richtung Solidarität sollte sodann sicherlich bedeuten, insbesondere die Arbeit des Personals in Supermärkten (Kassen, Marktlogistik) sowie der in Krankenhäusern und in der Altenpflege mitarbeitenden Kräfte wesentlich stärker zu würdigen. Deren Einsatz unter – trotz aller Sicherungsmaßnahmen – erhöhten Infektionsrisiken darf nicht als selbstverständlich hingenommen werden. Über die Krisenbewältigung hinaus wird sich hier auch die Frage stellen, was uns entsprechend „systemrelevante“ Tätigkeiten eigentlich wert sind bzw. wie hier zukünftig eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung realisiert werden kann. Dies gilt auch für den Polizeidienst, bei dem sich coronabedingt unvermittelt veränderte Anforderungen stellten (Sicherung der Einhaltung von Kontaktverboten und Ausgangsbeschränkungen, aber z.B. auch Einschreiten gegen Angehörige der „Raserszene“, die sich v.a. in den Monaten März und April 2020 auf den leeren Straßen verbotswidrige und zugleich wahnwitzige Rennen lieferten). Teils erwiesen sich die polizeilichen Maßnahmen als schwierig, etwa im Fall von größeren Gruppen, die Coronaregelungen missachteten und sich Anordnungen zu widersetzen suchten. Leider ist hier auch zukünftig mit Gruppenfehlverhalten zu rechnen. Derartige Maßnahmen erfordern grundsätzlich psychologisches Fingerspitzengefühl, insbesondere auch um auf dem Wesen nach zwar unberechtigte, aber doch oft vehement artikulierte Vorwürfe gegen die Polizei („autoritär“, „willkürlich“ usw.) souverän reagieren zu können. Unabhängig von dieser Feststellung erscheint es allerdings sinnvoll, die Angemessenheit der politisch und rechtlich konzipierten Coronaregelungen später einer kritischen Gesamtschau zu unterziehen, um diese Regelungen für – hoffentlich ausbleibende – Pandemien optimieren zu können.


Bis zu einer umfassenden und differenzierten Beurteilung der Coronakrise und der ergriffenen Bewältigungsstrategien wird noch geraume Zeit verstreichen. Ob sich die Aussichten auf eine weitere Aufhebung belastender Einschränkungen bestätigen werden, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall aber haben die zurückliegenden Wochen und Monate gezeigt, wie sehr es unter Extrembedingungen wie einer Pandemie neben praktischer Unterstützung auf das soziale Miteinander, menschliche Zuwendung und das Verständnis für widrige, aber unabdingbare organisatorische Notwendigkeiten ankommt. Hier bieten sich, wie beschrieben, Handlungsfelder auch für Genossenschaften an. Für die Genossenschaften sind im Hinblick auf ihr ordnungspolitisches Profil insbesondere Eigeninitiative, Selbstverwaltung und Verantwortungsbereitschaft kennzeichnend. Ein wichtiges genossenschaftliches Kennzeichen ist ferner der Förderauftrag für die Mitglieder. Neben dieser Bereitschaft, sich für die Mitglieder einzusetzen, sind für Genossenschaften grundsätzlich die Kooperationsorientierung und die Aufgeschlossenheit zur Übernahme von Verantwortung und zum Setzen gemeinwohldienlicher Impulse prägend. Diese Prinzipien reichen über den rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen von Genossenschaften hinaus. Insbesondere auch in Krisenzeiten kann sich eben dies im Sinne solidarischer Orientierung bewähren, wie der vorliegende Beitrag zeigen möchte.

 

 

Anmerkungen


Viktoria Schäfer ist Master of Science und wurde 2020 an der Steinbeis-Hochschule Berlin promoviert. Yvonne Zimmermann ist Dipl.-Bankbetriebswirtin (ADG), Master of Leadership and Organisational Development und wurde 2017 an der Universität Hohenheim promoviert.